OSTERN.
Alle verliebten der erde
die nachts durch den regen spazieren
und sich ihre trauer erzählen
den verlorenen reichtum der kindheit
den gebrochenen mut
der besitz von regierungen wurde
jede einschüchterung
die das menschliche wesen erdulden muss
ehe es fahl wird und langsam erlischt
: innerasche,
alle verliebten der erde
die sich bei den händen gefasst halten
deren gesichter ich sehe
im auge der sonne
mit müden geschlossenen lidern
die mädchen die jungen
mit diesen gesichtern aus glas
diesen herzen
wenn sie röte auf die wangen zeichnen
: jenseits der farben des lichts,
alle verliebten der erde
unter ihren regenschirmen
auf den fensterbrettern
in den viel zu kleinen wohnungen
mit zwei drei kleidern
einem halbwegs blinden spiegel
zwei paar schuhen
haschischkrumen in den aufblasbaren schränken
vorgestrigen nudeln in den kasserollen
: und küssen der fliegenden fische,
alle verliebten der erde
die sich nicht kleinkriegen lassen
von ausbeutung recht und gesetz
die sich gegen sie kehren wie waffen
schwerter runen hellebarden
maschinengewehre und panzer
zerschossene wände
auf denen die schatten noch tanzen
wenn alles vorbei ist
: es ist schon vorbei,
alle wunderschönen verliebten
der erde des himmels
auf dem jetzt die sterne verglimmen
der morgen schon wieder heraufzieht
mit strassenbahnen und fabriken
für nudeln panzer
fensterbretter
aufblasbare schränke
ein paar kleider mehr
ein paar schuhe:
die pferde sind los
zieht euch aus
reitet nackt wie auf russischen bildern
das eis auf dem fluss ist verschwunden
kommt über den fluss
überwindet die gleise
alle taumeln sie jetzt in den hafen hinunter
wir aber erklimmen die berge
wir sind nicht ermattet
: wir fangen erst an.
Ulrich Zieger
Dichter sind angefüllt mit Hoffnung und Zweifel. Sie sind voller Neugier auf Welt und brüten neue Welten aus. Dichter sind Weltenträumer und Weltbetrachter – beides gleichzeitig und beides präzise, wie man bei Carl-Christian Elze nachlesen kann:
im ersten milliardstel eines milliardstels eines milliardstels einer milliardstel sekunde blähte sich unser universum um das zehn-billionen-billionen-fache auf.
Einige Gedichte dieser Sammlung treiben ihr Spiel mit dem Leser, fordern ihn auf, mitzuspielen. Andere erzählen eine Geschichte, wieder andere fokussieren auf einen Augenblick. Einige breiten sich aus, andere ziehen sich zusammen, leben gar von dem, was zwischen den Versen steht. Manche geben sich traditionell, erneuern die tradierten Formen, andere sind sprachschöpferisch innovativ, auf dem Weg zu neuen Formen. Viele der Gedichte sind auf Schönheit aus, einige wollen schockieren. Allen gemeinsam ist die Suche nach einem Rhythmus, der die Metaphern und Bilder tragen kann. Einige Gedichte suchen Verbindung zum Nachbarn, andere grenzen sich ab. Manche Gedichte sind am Leser interessiert, andere ignorieren ihn. Letzteren reicht es, wenn der Leser das Terrarium, in welchem sie sich strecken, staunend umschreitet.
Die Gedichte geben sich eher seismographisch als prophetisch. (Diesen Satz von Walter Höllerer kleben wir an dieser Stelle ein, weil er zutreffend ist.)
Bei solcher Sachlage taten sich die Herausgeber schwer, alphabetisch oder chronologisch vorzugehen. Wie die Figuren eines Romans diesen mitschreiben, schrieben sich die Gedichte dieses Buches selbst in die Anthologie ein, suchten und behaupteten darin ihren Platz. Die Herausgeber vertrauten auf diese Selbstreferenz der Poesie. Aus 1.500 eingesandten Gedichten hat sich so ein Spiegel der Zeit geformt.
Anne Dorn (1925–2017) und Wulf Kirsten (*1934) haben wir als Paten dieser Anthologie gewählt.
Anne Dorn eröffnet die Anthologie mit einer intimen Ansprache an den Leser, die wohl von vielen der Autorinnen und Autoren dieser Sammlung unterschrieben werden könnte:
Ich muß Euch zurückgeben, was Euch gehört, und was ich im Laufe der Zeit gefunden habe, mit nachhause genommen, gepflanzt, begossen, vor den Läusen bewahrt und zur Blüte gebracht: Eine in Euren Dingen enthaltene Nachricht… Unter die Tür schiebe ich Euch ein Flugblatt von Eurer endlosen, mühseligen, wieder und wieder vertagten Wandelbarkeit und Verwandlung.
Wulf Kirstens Gedicht weltbetrachter (das dieser Sammlung den Namen leiht) zieht achtzig Jahre Leben auf einer Seite zusammen. Der „oft genug verlachte weltbetrachter… (weiß) von verflossenen jahrhunderten zu berichten … zeitzeuge wider willen.“ Im Gedicht „geisterfahrerstunde“ resümiert er einen „esprit de siècle mit zunehmender geistes- / verwilderung“… „wie nur beschreib ich mein leben / und das so vieler andrer, die / neben mir schürgten und würgten“, fragt Kirsten im Gedicht „fabula rasa“.
Die Anthologie schließt mit einem Epitaph, das Anne Dorn sich selbst geschrieben hat:
… du schöne, wilde Welt – mein Herz schließt zu!
Es schuf dich täglich neu und litt an dir,
gab diesem Traum aus Dingen Hand und Fuß…
Róža Domašcyna und Axel Helbig Juni 2020, Vorwort
Die Herausgeber baten in Sachsen geborene Autorinnen und Autoren und jene, die eine maßgebliche Zeit dort gelebt haben oder noch leben, uns ihre wichtigsten im Zeitraum von 2010 bis 2019 entstandenen Gedichte zu senden. Wir bedanken uns bei allen Autoren für die eingesandten Gedichte. Die bei aller Fülle schmale Auswahl bedingt, dass leider nicht alle einsendenden Dichter Berücksichtigung finden konnten. Wer dieses Buch zur Hand nimmt, sollte also wissen, dass da noch mehr ist, dass es einen Bruchteil dessen zeigt, was hätte veröffentlicht werden können oder sogar müssen.
Anliegen der Herausgeber war es, ein schönes und lesbares Gedichtbuch vorzulegen, welches das Interesse am Lesen neuester Gedichte weckt und der deutschen Lyrik weitere Freunde und Beobachter hinzugewinnen hilft.
Die Herausgeber danken dem Sächsischen Literaturrat und dem Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus, die zur Arbeit an diesem Buch angestiftet haben. Dank gilt dem Poetenladen Verlag für die vielfältige Unterstützung und akribische Arbeit am Text. Ein weiterer Dank gilt den Verlagen und Rechteinhabern für die großzügige Unterstützung und Gewährung der Abdruckrechte.
Róžia Domašcyna und Axel Helbig Juni 2020
zeigt eindrucksvoll auf, dass die Lyrikszene in diesem Land lebendig ist wie selten zuvor. Dichterinnen und Dichter haben sich in den zurückliegenden Jahren neue sprachliche und thematische Räume erschlossen.
Aus der Vielzahl der Einsendungen trafen die beiden Herausgeber*innen eine Auswahl, die uns einen aktuellen Überblick über die Vitalität der dichterischen Produktion gibt. Dabei haben sie das gesamte Terrain der lyrischen Spielarten im Blick gehabt: vom narrativen zum momenthaften Gedicht, vom traditionsfortschreibenden zum sprachschöpferischen, vom schönen zum schockierenden, vom sich öffnenden zum sich abgrenzenden. Man mag dieses Buch in der Nachfolge der sächsischen Lyriksammlung Es gibt eine andere Welt sehen, die vor genau einem Jahrzehnt erschien: Beide Bände erweisen sich in ihrem Facettenreichtum als ein Spiegel der Zeit.
Dichter sind angefüllt mit Hoffnung und Zweifel. Sie sind voller Neugier auf Welt und brüten neue Welten aus. Dichter sind Weltenträumer und Weltbetrachter – beides gleichzeitig und beides präzise. So steckt in jedem Gedicht eine poetische Weltbetrachtung, die uns vor Augen führt, in wie vielfältiger Weise die Gegenwart erlebbar und lesbar ist.
Poetenladen, Klappentext, 2020
Podcast des Sächsischen Literaturrates zu der Anthologie Weltbetrachter. Neue Lyrik Eine Anthologie aus Sachsen
Sachsens Lyriklandschaft der Gegenwart bleibt eine mit zwei Zentren. Die Anthologie Weltbetrachter bestätigt das. Von den 155 Dichterinnen und Dichtern, die darin vertreten sind, kommt mehr als ein Drittel aus Leipzig, etwas weniger als ein Drittel aus Dresden. Aus Chemnitz nur Vereinzelte. Die Handvoll Bautzner sind alle Sorben. Vor einem weiten Horizont sorgen sie alle für bemerkenswerte Fülle. Dabei ist die nur ein Ausschnitt. Unter etwa 1.500 eingesandten Gedichten hatten die beiden Herausgeber Róža Domašcyna (Bautzen) und Axel Helbig (Dresden) auszuwählen. Auf über 280 Seiten haben sie hier die wichtigsten Stimmen versammelt. Ein repräsentativer Band also.
Zwischen Schönheit und Schockierendem begegnet uns fast alles, was das Leben bietet. Mal klagen diese Verse, mal kichern sie oder lachen schallend, meist aber werden sie leise und nachdenklich.
Welch schöne Geste zur Eröffnung: Nach dem Vorwort tritt mit „Ein Gedicht“ Anne Dorn auf, 1925 in Wachau bei Radeberg geboren, 2017 in Köln gestorben. So, wie sie war: Sie hat an unserer Tür geklingelt und steht nun mit großen Augen davor, eine Hausiererin der Poesie, vom Wert der Verse in ihrem Bauchladen überzeugt, gleichwohl zurückhaltend, ganz schlicht im Ton. Ihre Worte dürften selbst unerfahrene Zaungäste der Lyrik neugierig machen. Wie ausgeprägt dichterische Eigenheiten immer sein mögen, das Wesentliche bringt sie auf einen einfachen Nenner: dass Poesie nicht nur Leistung eines Einzelnen ist, sondern zu einem Gutteil Geschenk. Dass Dichter aufmerksamste Zeitgenossen sind, Sammler, Bewahrer des Übersehenen. Dass es Unruhe braucht, Lust am Leben und eine Sehnsucht, „die dahin zielt, / daß alle Menschen einander im Sinn haben“. Dass auch das mutige Wissen um den eigenen Tod dazugehört. Ganz am Ende, in ihrem zweiten, dem Epilog-Gedicht, wird sie es zeigen.
Zuvor jedoch: Tür auf für die Mannigfaltigkeit der Stimmen. Man kann die Gedichte geordnet nacheinander eintreten lassen. Die neun Abteilungen ziehen einen thematischen Faden durch den Band. An dem entlang hangelnd hören wir die Dichter, wie sie sich an ihre Kindheit erinnern, träumen, vom Alltag in der Großstadt erzählen.
Oder über Dichtung nachdenken. Das extremste Bild hierfür hat Marcel Beyer gefunden: die Wespe, eingeladen in den Rachenraum, ihn wund zu machen. Dichtung duldet nichts Oberflächliches – „innen muß die Sprache sein“. Schmerz eingeschlossen. So eine Deklaration entfaltet körperliche Wirkung.
Intensiv und tief lotend auch Uwe Kolbe, der über die eigene Schulter zurück in die Geschichte blickt, seine Voraussetzung, sich und uns als Ergebnis eines Völkergemischs begreifend. Noch immer ist alles im Fluss der Veränderung. Ernüchtert konstatiert er:
Der Raum deiner Sprache schrumpft.
Weltbetrachter – solch ein Etikett mag allgemein klingen, fordert jedoch, dass man kein lyrisches Kleingebäck anbietet. Nicht alle, aber die allermeisten Gedichte können dem genügen. Geliehen haben sich die Herausgeber den Titel von Wulf Kirsten; er ausnahmsweise mit drei Gedichten vertreten – zu Recht. Zumal eins hier erstmals veröffentlicht ist. „geisterfahrerstunde“ lässt einen zusammenzucken. Hier wird’s ungemütlich. Welch ein Zorn treibt diesen Dichter mit Dorfkindheit in Klipphausen mittlerweile um – auf Flachheit des Denkens, auf Phrasen und Lamento. Zeilenweise donnert ein Fluchen aus seiner Wahlheimat, der Goethestadt Weimar, dass die Wände wackeln. Nichts da mit Altersmilde. Doch dieser Furor hält ein Wortschöpfungsvermögen am Laufen, das Staunen macht. So lautmalerisch und sprachproduktiv wird selten geschimpft.
Andere werden sich bewusst, dass sie eingebunden sind in eine Familie. „Abstammung“ nennt es Bernd Jentzsch. Andreas Altmann nähert sich seinem wortkargen, nun toten Vater; variiert und überblendet sachlich klingende Aussagen zu einem mehrdimensionalen, berührenden Erinnerungsbild, Teil seiner selbst.
Andere lieben, trennen sich von der Partnerin, verlieren Freunde an den Tod. Oder bewundern und beargwöhnen Genetik und Nanotechnik, spülen uns den in Meeren trudelnden Plastikmüll vors innere Auge, betrachten mit Unbehagen bis Wut den neoliberalen Kapitalismus oder untergegangene Dörfer und Tagebaufolgelandschaften in der Lausitz – „geteiltes / land aufgeschürfte gegend“ nennt Andra Schwarz es.
Sie machen ein neues, smartes System digitaler Spitzel aus, sehen sich von Scheinwahrheiten umzingelt. Unter Glockenklang erden sie Religiöses, lassen etwa eine Schlosskapelle monologisieren oder eine geschnitzte Heiligenfigur wundersam wandern, auch die unvermeidlichen Engel fehlen nicht. Einige Dichter dringen in Erdentiefen vor und bereisen die Welt oder sächsische Stadtteile und Dörfer.
In diesen Gedichten geht uns beispielsweise auf, dass wir eine in Fragmente zersplitterte Welt bewohnen. Oder dass Regeln selbst den Lyrikbetrieb einzuengen drohen. Sarkastisch treibt Michael Wüstefeld das ad absurdum in den Schlusszeilen:
Vermeide es Lyriker zu sein
Meide die Dichtung
Hermetischen, Sinn konsequent meidenden Metaphernfitz gibt es, aber selten; bei Silvio Pfeuffer etwa. Wir finden klassisch gebaute Sonette von leidenschaftlicher Frische bei Thomas Kunst. Oder die Passage aus einem Poem von Uwe Tellkamp, den Blick in ein Hirn, einen babylonischen Staatsapparat, ein Gewimmel von Begriffen und Redewendungen aus unterschiedlichen Zeiten. Die Mangelware Humor bietet Helmut Richter feil; gallige Satire Wilhelm Bartsch. E.T.A. Hoffmanns gedenkend, öffnet er Dresdens Altstadt-Barockschächtelchen mit der auf Hochglanz polierten Perle Frauenkirche.
Je nach Vorlieben wird jeder hier seine Resonanzerfahrungen machen. Beglückende beispielsweise in Undine Maternis „Bäckerin“, einer wunderschönen Ode auf eine mehlbepuderte Schöpferin im traditionellen Männerhandwerk, das ja eine Schufterei ist. Man wird hinterher andächtiger in ein handgefertigtes Brötchen beißen. Diese Zeilen verzaubern es in ein Wunderwerk, in dem ein Stück Leben eingebacken ist. Mit den Augen der Dichterin erkennen wir in dieser mütterlich-zärtlichen Person „eine kleine / rundliche Göttin die als einzigen / Schmuck Schweißperlen trägt / auf der Stirn“. Carl-Christian Elze holt mit raumgreifender Geste die Ewigkeit ins Gedicht. Mit seiner Liebsten sieht er sich am vorläufigen Ende einer 13,8 Milliarden Jahre zurückreichenden Entwicklungskette. Ihre Beziehung weitet sich in die Dimension von Erdzeitaltern. Da explodieren die Emotionen und dehnen sich ins Kosmische:
und unser lachen rast um die sonne, du weißt schon
wie wahnsinniger, glücklicher staub
Einer der beeindruckendsten Höhepunkte ist Volker Brauns „Stammbaum“. Eine Utopie wird zum realen Moment: Enkel mit Herkunft aus verschiedenen Welten, umspannend eine Jahrhunderte alte Eiche im Rödertal, die von Wurzel bis Wipfel zum Gleichnis wird dafür, dass jeder Teil eines größeren Ganzen ist. Ein altersweises, hemmungslos staunendes Aufblicken.
Am Ende schließt Anne Dorn diese stimmenreiche Sammlung mit ihrem nachdenklichen „Was wird sein / wenn ich nun sterbe“ und der schlichten wie eindrücklichen Zeile:
So ist’s mit uns, wir sind einander Sein.
Tomas Gärtner, Ostragehege, Heft 100, 3.6.2021
Róža Domašcyna und Volker Sielaff sprechen über ihre Dichtungen und lesen aus ihren Werken.
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