Róža Domašcyna: Zu Maja Haderlaps Gedicht „als mir die sprache abhanden kam“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Maja Haderlaps Gedicht „als mir die sprache abhanden kam…“ aus Maja Haderlap: langer transit. –

 

 

 

 

MAJA HADERLAP

als mir die sprache abhanden kam

vielleicht trank ich gerade kaffee
oder schlug eine zeitung auf.
vielleicht zog ich die vorhänge zu
oder sah auf die straße, als sie
mich verließ, ich dachte noch,
was für ein röcheln
aus der tiefe der wand,
was für ein klirren in diesem raum.
kein fensterglas sprang,
kein sessel fiel um in der küche.
an den straßenschildern erloschen
namen zu buchstabenasche.
über den häusern fuhr der
worttanker davon, massig, lautlos.
meine zunge zuckte wie ein
gestrandeter wal im trockenen mund.
ich floh aus der stadt,
zog mich hinter die grenze zurück.
kein brief kam an und antworten
blieben aus. wo ich
war, klafft eine lücke.
wo ich bin, treibt
mein schatten ins kraut.

 

gestrandeter wal im trockenen mund

Eine verstörende Situation wird beschrieben – das Abhandenkommen der Sprache. Nein, es geht nicht um eine vorübergehende Heiserkeit, die mit Halswickeln behoben werden kann.
Es geht um Einbuße, ums Wegnehmen, Davontragen.
Die Worte sind für immer verloren. Eine Amputation hat stattgefunden.
„meine zunge zuckte wie ein / gestrandeter wal im trockenen mund“, schreibt Maja Haderlap.
In vielen slawischen Sprachen ist die Bezeichnung für Sprache das Wort Zunge. Und die Zunge wird der Sprache beraubt. Das lyrische Ich hört ein „röcheln“, ein „klirren“. Zuerst nimmt es nicht wahr, dass diese Geräusche etwas mit dem eigenen Körper zu tun haben. Es nimmt an, das Röcheln kommt aus der Wand und die Fensterscheiben klirren. Das vollzieht sich nicht mit großem Getöse. Keine Scheibe geht zu Bruch, nicht einmal ein Sessel kippt im Zimmer.
Durch die Fensterscheibe blickend erkennt das Ich das Unglaubliche:

an den straßenschildern erloschen
namen zu buchstabenasche.

Namen, die ins Gedächtnis eingebrannt waren, erloschen zu Asche, wurden Staub. Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Die durchgestrichenen Namen auf den Schildern, die ausradierten, mühsam wieder aufgeschriebenen, klein und kaum wahrnehmbar, waren nun gänzlich gelöscht. Wem waren sie im Weg, störend, verstörend? Wie die Sprache, die auf den Straßenschildern stand, auf der Zunge lag. Abhanden gekommen vor Schreck, vor Scham, vor Minderwertigkeitskomplexen, vor Angst.
Eine Sprache, die das Umfeld nicht versteht, eckt an, wird zum Stein des Anstoßes. Könnte Gefahr bedeuten. Dagegen muss etwas unternommen werden.
Die Protagonistin sieht den Worttanker davonfahren. So etwas vollzieht sich gänzlich lautlos.
Wohin will der Tankwagen mit den Worten? Tankwagen leeren ihren Inhalt auf die Halde oder verkippen ihn in Restlöcher, die dann zubetoniert werden. Gefährliche Fracht, Sondermüll.
Doch für den, dem die Sprache auf der Zunge lag, endet das Dilemma damit nicht, auch wenn die Namen auf den Straßenschildern eingespart, also nicht mehr aufgeschrieben wurden.
Die Schilder befinden sich noch am selben Fleck, ebenso die Straßen. Doch dieses Ich weiß noch um die Namen.
Wie aber soll es diese Namen je wieder nennen, sie anderen in den Mund legen? Was entsorgt ist, ist nicht wiederholbar.
Es flieht aus der Stadt hinter die Grenze. Diese Grenze ist nicht nur die Stadtgrenze, sondern auch eine Sprachgrenze. Dort verharrt es im Warten.
Auf was?
Briefe kommen nicht. Somit keine Fragen. Wo keine Fragen, da keine Antworten. Die Sprache des Ich gibt es nicht mehr. Aber dieses Ich lebt – wider besseres Wissen – immer noch im Glauben, dass dort, wo es war, eine Lücke klafft. In der Stadt, wo es sich zugehörig fühlte, wo es vielleicht geboren wurde, aufwuchs. Die Flucht hat dem Ich nicht geholfen. Nichts wiederbringen können.
Was das Ich mehr ahnt als weiß, ist, dass es fortan ein Schattendasein fristet. Es kann nicht einmal mehr mit gespaltener Zunge sprechen. Denn die Zunge liegt gestrandet im Trockenen. Dieses Lebewesen zuckt nur noch. Eine Weile.

Róža Domašcyna, aus Ostragehege, Heft 100, 3.6.2021

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