− Zu Aglaja Veteranyis Gedicht „Der Balkon“ aus dem Band Aglaja Veteranyi: Vom geräumten Meer, den gemieteten Socken und Frau Butter. −
AGLAJA VETERANYI
Der Balkon
Das Mädchen ist alt geworden, ihm wächst ein Sarg im Bauch.
Die Brüste liegen auf dem Tisch.
Die Liebhaber sind schon so lange tot, dass alle Robert heissen.
Vor dem Schlafen geht das Mädchen auf den Balkon.
Dort wartet der Schatten. Dort wartet der Mond.
Der Mond spriesst.
Das Spriessen ist ein Lied.
Die Tropfen der Mondblätter fallen auf die Füsse des Mädchens.
Der Mond tanzt, sagt das Mädchen. Er tanzt für uns.
Der Text klingt wie ein Märchen, ein trauriges Märchen. In diesem Märchen ist die Umgebung belebt, der Mond „spriesst“, lässt „Mondblätter“ fallen, die zugleich Töne sind, er tanzt. Der Mond bewegt sich, während die Frau, die auf den Balkon tritt, leblos und starr erscheint. Sie wird als „Mädchen“ und gleichzeitig als „alt“ bezeichnet, in diesem Widerspruch ist sie eingeschlossen: Sie fühlt sich alt, obwohl sie noch jung ist, oder sie fühlt sich jung, weiss aber, dass sie alt ist. Aus ihren Erinnerungen ist jede Spannung gewichen, ihr Körper kommt ihr vor wie der einer Toten.
Kann ihr der Gang auf den Balkon Linderung bringen? Hier wartet der Mond auf sie und spielt ihr in wundersamer Art auf, Pflanze und Melodie und Tänzer in einem. Sie nimmt die Szene wahr, sieht den Mond tanzen, beginnt zu sprechen. Sie wendet sich an ein Du oder an ein Wir. „Er tanzt für uns“ kann heissen, er tanzt für uns alle, die wir ihn sehen. Wahrscheinlicher aber ist, dass der Satz dem gilt, der sie zusammen mit dem Mond auf dem Balkon erwartet, dem Schatten. Die Worte des Mädchens heissen dann sinngemäss: Der Mond tanzt nicht mit uns, sondern an unserer Stelle. Der Schatten ist Teil der Starre. Nicht Linderung erwartet das Mädchen auf dem Balkon, sondern die Bestätigung ihres Gefühls tot zu sein.
Powerplay
Die drastisch-eindrücklichen Bilder des Textes stehen mit der unendlichen Traurigkeit, die sie beschreiben, in einem schier unerträglichen Gegensatz. In ihnen steckt eine Vitalität, die sich zusammen mit dem Märchenzauber des Balkons und dem Licht-Ton-Spektakel des Mondes zu einem Gegenpol des Lebens entfaltet. Die Sprache behauptet dem Tod gegenüber noch in ihrer düstersten Metaphorik ihre Souveränität. Es ist ein Powerplay, das bis zum letzten Wort andauert.
Aglaja Veteranyi nahm sich am 3. Februar 2002 in Zürich das Leben. Der Text erschien zwei Jahre nach ihrem Tod in einem Band mit nachgelassenen Geschichten. Er steht, wie so viele ihrer Geschichten und Gedichte, in einem engen Bezug zu ihrer Lebensthematik. Die Dichterin stammte aus einer rumänischen Zirkusfamilie und blieb zeitlebens durch die Konflikte, Ansprüche und Erwartungen geprägt, die das ungeliebte Mitwirken im elterlichen Zirkus der jungen Artistin aufgenötigt hatte. In ihrem Schreiben versuchte Aglaja Veteranyi zu ihrer Vergangenheit Distanz zu gewinnen. Trotz grosser Anerkennung fand sie schliesslich nicht mehr aus der psychischen Krise heraus, in die sie geraten war.
Rudolf Bussmann, TagesWoche, 27.5.2013
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