− Zu Friederike Mayröckers Gedicht „Zypressen“ aus dem Lyrikband Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte. −
FRIEDERIKE MAYRÖCKER
Zypressen
es windet
weisz, der
Vogel
knarrt im
Wald –
umhalsend
zarte Fremdheit wenn
die Knospe
welkt
Nanu –? Dieses Gedicht eröffnet ein sprachliches Bezugssystem, in dem so gut wie nichts vorgegeben ist. Die Wörter sind mehrdeutig, ihre Beziehungen variabel, die Satzstrukturen nur teilweise festgelegt. Das Thema ist zwar klar umrissen, es geht um Natur, um einen kleinen Ausschnitt einer wohl eher südlichen Landschaft („Zypressen“). Doch ähnlich wie in einer realen Landschaft sieht, wer den Blick schweifen lässt, in der Sprachlandschaft des Gedichts jedes Mal etwas anderes – oder sieht vielmehr das, was da steht, jedes Mal auf eine andere Weise.
„es windet / weisz“ deutet auf Wind hin, einen winterlichen Wind, der Schnee mit sich führt (und dessen Kälte die Knospe auf Zeile 8/9 zum Erfrieren bringt?). Es ist Vorfrühling, die Natur ist bereit, sie wird von einem kalten Wind überrascht.
Es sei denn, „es windet / weisz“ meine etwas ganz Anderes, nämlich eine Ackerwinde, die sich weiss empor rankt und deren Knospe welkt. Die Pflanze würde dann Anfang und Schluss bilden, das Gedicht gleichsam umranken.
Oder ist etwa von einer Seilwinde die Rede, die sich dreht, ist das Knarren im Wald ein sprachliches Echo auf diese Anspielung? Das Wort „weisz“ passt freilich schlecht zu einer Seilwinde. Nun, es wäre leicht auf „Vogel“ zu beziehen, bildete mit diesem zusammen einen Einschub mit hinweisender Geste: weiss, der Vogel dort. – Auch dass es im Wald knarrt, könnte mit dem Vogel in Beziehung stehen: Es ist Vorfrühling, Schnee wirbelt im Wind durch die Luft, ein Rabe ist im Wald zu hören. Versteht sich, dass „weisz“ sich dann nicht auf „Vogel“ beziehen kann.
Wer umhalst was?
Das Partizip Präsens „umhalsend“ bildet den Auftakt zum zweiten Teil des Gedichts, und auch dieses Wort eröffnet verschiedene Möglichkeiten. Dass es kursiv geschrieben steht, deutet an, dass es einer andern Sprachebene angehört. Es kann ein Zitat sein, das der Schreibenden spontan einfällt. Oder eine hervorgehobene Gefühlsgeste der eher zurückhaltenden Sprecherin. Von der Grammatik des Satzes her käme als Subjekt neben dem berichtenden Ich auch „der Vogel“ in Frage: der Vogel umhalst zarte Fremdheit – eine Anspielung auf den Gesang aus seiner Kehle? Ebenso in Frage kommt das „es“ der ersten Zeile: es windet und umhalst zarte Fremdheit.
„Fremdheit“ seinerseits braucht nicht Objekt zu sein. Denkbar, dass es als Subjekt den Auftakt zu einem neuen Satz bildet: Welch zarte Fremdheit, wenn die Knospe welkt. Oder wird die Fremdheit etwa direkt angerufen? Das würde dem Gedicht eine deklamatorische Note verleihen: O zarte Fremdheit, wenn die Knospe welkt!
Der Text hat etwas Chamäleonartiges. Je nach Einfallswinkel des Blicks gehen seine Wörter untereinander wechselnde Kombinationen ein und modifizieren die Aussage. Einige der Ausdrücke nehmen unter der Hand auch eine metaphorische Bedeutung an. Das Wort Zypresse zum Beispiel kann mit sehr unterschiedlichen Bereichen in Verbindung gebracht werden: mit Friedhof und Tod, dem Hinaufzeigen zum Himmel, mit südlicher Milde. Zwischen dem Titelwort und dem abschliessenden Bild der welkenden Knospe tut sich ein grosser Spannungsrahmen auf, in dem die Assoziation an einen frühlingshaften Aufbruch ebenso Platz hat wie der Gedanke an das Sterben.
Wenn die Bezüge sich auch mannigfach überlagern und weit über das Gedicht hinaus reichen: Dessen Arrangement ist denkbar schlicht. Man kann sich ganz einfach auch an der sprachlichen Gestalt des Neunzeilers erfreuen, an Details wie dem Wechselspiel der hellen und dunklen Vokale. Wer keine Lust hat, das Gedicht auf seine Bezüge, Symbole und Geschichten hin zu befragen, kann sich von seinem Klang und seinen Rätseln dennoch in Bann ziehen lassen.
Rudolf Bussmann, TagesWoche, 30.7.2013
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