Rudolf Bussmann: Zu Brigitte Oleschinskis Gedicht „das Gras“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Brigitte Oleschinskis Gedicht „das Gras“ aus dem Lyrikband Brigitte Oleschinski: Geiserströmung. −

 

 

 

 

BRIGITTE OLESCHINSKI

das Gras

läuft überland, hügelan, hügelab, wird Reis
und Tee und wieder Gras –

 

Wochengedicht #21: Brigitte Oleschinski

Kurz ist dieses Gedicht, sparsam und schlicht. Dennoch geht von ihm Bewegung aus. Weniger von seinen zwei eher farblosen Verben als von seiner Bildlichkeit, die auf eine Reise mitnimmt. Sie führt durch eine Graslandschaft, hügelig, abgelegen, unbewohnt – von Behausungen, Höfen oder Dörfern ist jedenfalls nicht die Rede. Das Grasland geht über in Reis- und Teeplantagen, die verschiedenen Grün wechseln sich ab. Dass man beim Lesen am ehesten an eine Anbaugegend in Asien denkt, hängt mit der haiku-ähnlichen Art des Gedichts zusammen, das sich auf wenige sinnliche Wahrnehmungen beschränkt, auf keinen Höhepunkt zusteuert und mit den Worten äusserst sparsam umgeht.
Es bleibt indessen offen, ob die Reise durch den Raum führt oder nicht vielmehr durch die Zeit. Dort, wo gestern Gras wuchs, wird heute Reis angebaut; der Mensch hat vom Land Besitz genommen, setzt der Landschaft seinen Stempel auf, diese wird terrassiert, bewässert. Einige Generationen später sind die Terrassen verfallen, die Bewässerungsanlagen ausser Betrieb, es wird Tee angepflanzt. Irgendwann werden die Spuren des Menschen aus dem Landschaftsbild verschwunden sein, wird dort, wo die Felder lagen, wieder Gras wachsen. Man fühlt sich an den „Oh Mensch!“-Seufzer des Barockdichters Andreas Gryphius erinnert, der in seinem Gedicht „Es ist alles eitel“ (1637) die Vergänglichkeit menschlichen Tuns ebenfalls mit einem Blick in die Zukunft beschwört:

Wo itzund städte stehn
wird eine wiesen sein,

Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den heerden.

Von der besorgt mahnenden Stimme des barocken Vorfahren, der dem Menschen Gott in Erinnerung bringen will, ist bei Brigitte Oleschinski nichts zu spüren. Ihre Zeilen sind so leichtfüssig und heiter, dass der Gedanke an die Vergänglichkeit, so er denn auftaucht, nichts Schreckliches an sich hat. Wie auf Gras Reis folgt, folgt eben auf die Kulturen des homo sapiens wieder Gras. Zukunftsängste sind in ihrem Gedicht nicht zu spüren, vielmehr lädt dessen beschwingter Rhythmus („überland, hügelan, hügelab“) dazu ein, die Reise hier und jetzt zu geniessen.

Rudolf Bussmann, TagesWoche, 27.8.2012

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