− Zu Doris Runges Gedicht „wintergäste“ aus dem Lyrikband Doris Runge: was da auftaucht. −
DORIS RUNGE
wintergäste
sie hatten
das blaue gebucht
das meer
sie strandeten
in schneewehen
und sand
park spiel
alle uhren
abgelaufen
die sundbrücke
gesperrt
nur noch
möwen
und helikopter
fliegen
arme seelen
nach haus
Arme Touristen! Der Schnee, der in den Bergen chronisch fehlt, wird ihnen reichlich zuteil, ohne dass sie Schlitten und Skis dabei hätten. Sie sind an die Ostsee gefahren, zu einer Zeit, wo Schneestürme nicht zu erwarten sind. Das Gedicht vermerkt nicht ohne Ironie, dass aus ihnen „Wintergäste“ geworden sind, die statt am Ufer in den Schneewehen „gestrandet“ sind. Es äusserst sich nicht ausdrücklich darüber, wie ernsthaft die Lage ist, aber dass die Sundbrücke vor Schleswig-Holsteins Küste gesperrt ist und Helikopter im Einsatz sind, deutet auf eine Katastrophe hin. Zudem lässt die mit dem Wort „sand“ in Verbindung stehende Wendung „alle uhren sind abgelaufen“ an die abgelaufene Sanduhr, Sinnbild für das zu Ende gehende Leben, denken. Der Schluss wäre dann als Anspielung auf Notfalltransporte zu verstehen.
Ausflug der Seelen aus der Hölle
Darauf spielt das Gedicht zwar an, jedoch in einem Ton, der die Ironie des Titels nur umso deutlicher hervorhebt. Mit den armen Seelen sind wohl eher Reisebürotouristen gemeint, die auf Kosten der Versicherung ausgeflogen werden, damit ihre Ferien nicht ganz im Desaster enden, oder solche, die es sich leisten können sich ausfliegen zu lassen. Zum Beispiel jene, deren „Spieluhr“ durch den Schnee aufgehalten wurde und die zum Zeitvertreib ihr Glück in den nahe liegenden Spielhöllen versuchen wollten.
In Doris Runges Gedicht gibt es nur ein Wort, das nicht der Schilderung der Vorkommnisse dient, um die es geht: Möwen. Die Möwen kurven frei und unbeteiligt über dem Geschehen. Sie nehmen zu ihm dieselbe Position ein wie die Dichterin, die aus der Gelassenheit der Nichtbetroffenen heraus beobachtet. So ist in den Katastrophenbericht unauffällig die poetologische Metapher von der Dichterin als Möwe eingeflochten, die mit dem heiter-amüsierten Grundton des Gedichts zwanglos einhergeht.
Rudolf Bussmann, TagesWoche, 17.12.2012
Schreibe einen Kommentar