− Zu Günter Kunerts Gedicht „Minus“ aus dem Lyrikband Günter Kunert: Günter Kunert: Unterwegs nach Utopia. −
GÜNTER KUNERT
Minus
Langsam
verlieren wir das Bewusstsein
von unseren Verlusten
und so leiden wir
an Knappheit keinen Mangel.
Wochengedicht #7: Günter Kunert
In seinem leicht stockenden Fortgang erinnert das Gedicht an den Schluss eines Symphoniekonzerts, wo Uneingeweihte die Hände zum Applaus erheben und merken, dass der Satz noch nicht zu Ende ist, nochmals zum Klatschen ansetzen, und immer fällt dem Orchester noch etwas ein, bevor es endgültig abschliesst. „Langsam / verlieren wir das Bewusstsein“, könnte ohne Erweiterung stehen. Überraschend führt der Autor den Satz weiter: „von unseren Verlusten“. Überraschend schon deshalb, weil er einen zweiten Verlust anzeigt, der – so die Fortsetzung des Gedichts – zu Leiden führt. Aber tut es nicht ganz gut, die Verluste vergessen zu können? Diesen Gedanken scheint die letzte Zeile aufzunehmen: Wir leiden keinen Mangel, weil wir ihn gar nicht bemerken. Minus mal Minus gibt Plus.
Ein politisches Gedicht?
Günter Kunerts Satz ist aber ganz woanders angelangt – bei einem Zynismus, den es erst zu begreifen gilt. Er hält am doppelten Verlust ausdrücklich fest. Die erlittenen Verluste sind das eine. Das andere: wir haben das Wissen darüber, wessen wir verlustig gingen, eingebüsst. Nur der Naive leidet nicht, er baut sein Glück auf den zwiefachen Mangel. Und betrügt sich damit zu alledem auch noch selbst.
Sein Gedicht publizierte Günter Kunert zwei Jahre bevor er 1979 aus Ostberlin in den Westen übersiedelte. Es lag da nahe, es politisch zu verstehen. Was „Verluste“ meinte, konnte benannt werden – es ging weniger um materielle denn um ideelle Werte wie Freiheit, Unabhängigkeit, Demokratie. Losgelöst vom historischen Kontext, lässt sich „Verluste“ auf jede mögliche Gesellschaft beziehen, die Lesenden werden keine Mühe haben, es mit ihrer Kultur, ihrem Land in Verbindung zu bringen und im Stillen eine Liste von bedrohten oder leichtfertig verschenkten Werten abzurufen.
Illusionslos
Das Wir, in dessen Namen hier gesprochen wird, ist Teil einer konkreten Gesellschaft. Es lässt sich auch auffassen als existentielle Grösse: wir Menschen. Die Aussage des Gedichts wird dadurch nicht weniger dringlich. Denn ein gesellschaftliches Defizit lässt immer auch ein Schielen auf die historische Bedingtheit sozialer Formen zu und hält den Trost bereit, etwas Veränderbares zu sein. Demgegenüber unterstellt das als allgemein menschliche Erfahrung verstandene Defizit, dass niemand vor dem Bewusstseinsverlust gefeit ist.
So gesehen ist Günter Kunerts Gedicht eine Warnung vor dem fortschreitenden Prozess des Sich-Abfindens. Sein Anfang führt mitten in den Prozess hinein: „Langsam / verlieren wir das Bewusstsein“. Die folgenden Zeilen konkretisieren den Befund. Ohne Einsicht in das Verlorene mögen wir angenehm leben; wir leben aber mit einer Lüge. Schlimmer: mit der Unfähigkeit die Lüge zu durchschauen. Wir leben ohne Anspruch auf Wahrheit
So illusionslos Kunerts Zeilen daherkommen, sie halten dennoch eine Spur Hoffnung bereit. Indem sie aussprechen, was mir, was uns blüht, durchbrechen sie den unheilvollen Prozess. Das Durchschauen der im Gang befindlichen Entwicklung ist deren einzig wirksames Antidot. Zumindest stellt das Gedicht kein weiteres in Aussicht.
Rudolf Bussmann, TagesWoche, 21.5.2012
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