− Zu Ingrid Fichtners Gedicht „Zwischen Grenze und Grenze.“ aus dem Lyrikband Ingrid Fichtner: Lichte Landschaft. −
INGRID FICHTNER
Zwischen Grenze und Grenze
die Falten das Laken
mit langsamen Händen
die Haut ausgehorcht
die Schlüsselbeinmulde
das nackte Gesicht
die rechten Winkel
das Flüstern die alten
Wörter erbettelt am
nächsten Atem zerplatzt.
Welches der Ort des Geschehens ist, darüber gibt die erste Zeile Auskunft. Und was das Geschehen als solches betrifft, darüber lässt das Gedicht keine Zweifel offen. Obwohl es sich in keiner Weise festlegt. Es bewahrt die grösstmögliche Offenheit, deutet höchstens vorsichtig an, beschränkt sich darauf einiges Wenige zu benennen. Darunter sind keine Vorgänge – es gibt kein konjugiertes Verb –, es fehlen auch alle einschlägigen Substantive und Adjektive. Das Wort „nackt“ wird durch das zugehörige „Gesicht“ in seiner Aussage eher neutralisiert. Und der Ausdruck „die rechten Winkel“, der nicht angibt, was er beschreibt, bringt die Kühle einer geometrischen Abstraktion in die Bettszene.
Ach wie gut, dass niemand weiss
Das Gedicht verrät die Liebenden mit keiner ihrer Gesten, keinem ihrer Worte, es lässt mit keinem Pronomen durchblicken, um wen es sich handelt. Der Mantel der Diskretion ist über die Beteiligten gebreitet. Die Autorin lässt auch nicht erkennen, welchen Part sie selber spielt, ob sie Erlebende, Schmachtende oder sich Erinnernde ist. In scheinbar unbeteiligter Art stellt sie das Beobachtete zusammen, ohne einen klaren Anfang zu setzen, ohne eine Steigerung zu inszenieren. Ihr Gedicht ist dennoch von einer Sinnlichkeit erfüllt, die nachvollziehen lässt, was zwischen den Liegenden vor sich geht, wo sie sich berühren, welche Stellung sie einnehmen und was sie sich zuflüstern.
Erst der Schluss bringt eine unerwartete Heftigkeit in das, was vor sich geht, wobei das Wort „zerplatzt“ verschweigt, ob es nur die „alten Wörter“ meint. Die Andeutungen sind aufgeladen mit Intimität, mit Sehnsucht nach Berührung, mit einer Zärtlichkeit, die zwischen den Zeilen zu fühlen ist, ohne in einem Wort oder einem Ausdruck manifest zu werden. Wunsch und Erfüllung bleiben in der Schwebe, und dieser spannungsgeladene Zustand hält vor, wenn das Gedicht längst gelesen ist.
Rudolf Bussmann, TagesWoche, 1.10.2012
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