− Zu Lutz Seilers Gedicht „erntedank“ aus dem Lyrikband Lutz Seiler: im felderlatein. −
LUTZ SEILER
erntedank
unsere luftwaffe!hatte mein Grossvater gebrüllt
& dabei die Sense durch
den himmel gezogen. ein paar
dieser glänzenden bögen genügten & alles
war verbunden: israel, die friedenseiche, seine
geliebten pferde (enteignet einundsechzig, für
valuta nach italien, er sagte: italschen) &
der trigonometrische punkt, das hohe
kreuz aus holz hinter dem haus, wo
sich die steine aus den feldern angesammelt
hatten über die jahre. nur dort
erschien der fahrende sänger im nervenkostüm;
er hob seine eigene sense &
das fest begann
Die Sense fliegt durch die Luft, ein länglicher Körper aus Stahl, der an ein Flugzeug erinnert und den Grossvater zu seinem Ausruf bringt – den Grossvater, der vor dem Neffen mehrmals zum Sensenschwung ansetzt. Das Gerät umkreist im Bogen, was sich in der Nähe des Hofs befindet, die Pferde, ein Feldkreuz.
Die Bewegung weitet sich für den Neffen nachträglich zu einem Bogenschlag der Erinnerung, schneidet aus der Vergangenheit gleichsam ein Stück aus, in dem ganz Unterschiedliches Platz nimmt: die Praxis der Enteignung von landwirtschaftlichem Besitz in der DDR, deren Aussenpolitik, eine Friedenseiche. Es sind Reminiszenzen, die eng mit der Herkunft des Autors verknüpft sind. Lutz Seiler wurde 1963 in der Stadt Gera geboren, in deren Nähe eine historische Friedenseiche stand. Er wuchs auf dem nahen Land auf, in Thüringen, dessen Dialekt im Wort „italsch“ kurz aufscheint. Die Enteignung der Pferde, die das Gedicht erwähnt, hat er nicht mehr erlebt, sie wird in den Erzählungen der Bauern gegenwärtig geblieben sein. Die Diskussionen um den Staat Israel hingegen dürfte der Junge mitbekommen haben. Mit seiner Kibbuzbewegung war Israel von der jungen DDR als Staat mit sozialistischen Prinzipien begrüsst worden. Dass der Neffe im Gedicht nach Grossvaters Ausruf „unsere luftwaffe!“ als erstes an Israel denkt, deutet darauf hin, dass ihm die Periode der politischen Distanzierung vor Augen stand, die im Verlauf der 50er Jahre einsetzte.
Ein Fest für wen?
Die zweite Hälfte des Gedichts wendet sich von der Zeitgeschichte ab. In ihrem Mittelpunkt steht der Steinhaufen um das Holzkreuz hinter dem Haus. Wieder weitet sich nach dem beschreibenden Vierzeiler der Bogen und reisst weitere Erinnerungen an. „der fahrende sänger im nervenkostüm“ kann einen Musikanten meinen, der verkleidet ist und zum Tanz aufzuspielen pflegte – zum Beispiel am Erntedankfest, auf das der Titel anspielt –, oder einen Zappelphilipp aus der Nachbarschaft, der mit seinen Kapriolen die Zuschauenden ergötzte. Es fällt allerdings schwer, bei den bedeutungsgeladenen Wörtern „kreuz“ und „sense“, kombiniert mit der Erscheinung des fahrenden Sängers, nicht an Schnitter Tod zu denken. Nicht zuletzt deshalb, weil der Sänger am „trigonometrischen punkt“ auftaucht, der die Koordinaten festlegt, und „nur dort“. Das in der Schlusszeile erwähnte Fest ist nicht unbedingt eines für die Bauern, es kann auch das seinige sein.
Eine Sense am Anfang, eine am Ende
Der Blick geht am Schluss über Hof und Landschaft hinaus in die Weite, genau wie er am Anfang hinauf zu der vorbeifliegenden Luftwaffe führt. Beides, die Luftwaffe und der Sänger mit der Sense, haben eine innere Verbindung: wo sie zuschlagen, wird gestorben. Das Gedicht steht im Spannungsfeld einer unerbittlichen Symmetrie, hier die Vernichtung aus Menschenhand, dort das von der Natur befohlene Sterben. Exakt in seiner Mitte steht das Wort „trigonometrischer punkt“. Es bezeichnet den Ort, wo Kreuz und Steine aufeinandertreffen.
Das Bild bietet sich für unterschiedliche Deutungen an. Den gläubigen Christen mag es an Golgatha erinnern, der Skeptiker mag das Holz des Kreuzes mit dessen Hinfälligkeit in Verbindung bringen, andere mögen in den Steinen und dem Kreuz das Gegensatzpaar Sinnlosigkeit und Hoffnung auf Erlösung erblicken. Das Gedicht selber bleibt ganz beim Sinnlich-Grotesken: eine Figur in seltsamem Kostüm weist vom Steinhaufen mit der Sense zum Himmel, von wo zuvor die Sense des Grossvaters die Erinnerungen heruntergeholt hat.
Rudolf Bussmann, TagesWoche, 16.7.2012
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