− Zu Max Sessners Gedicht „Vom Vorüberfahren“ aus dem Lyrikband Max Sessner: Küchen und Züge. −
MAX SESSNER
Vom Vorüberfahren
für Daniela
November November das hässliche Dorf
vom Auto aus gesehen und der
plötzliche Wunsch dort zu leben
altes Haus alte speckige Küche und
verblichenes Linoleum Hunderte von
Katzen haben darauf geworfen und
Leute sind aus ihren Pantoffeln
gekippt wir haben im Ofen Feuer gemacht
den Tisch und die Stühle ans Fenster
gerückt sitzen behaglich und sehen uns
zu da bin ich komme wer weiss von
der Arbeit zurück parke den Wagen unterm
Strassenlicht und stehe dann fröstelnd
im Abend aber wo bist du wir sehen dich
schliesslich am Ende der Strasse wie du
langsam näher kommst und endlich
winkst als du mich erkennst im frühen
Dunkel das ist ein schöner Moment
finden wir und du legst zuerst deine
Hand auf meine was wohl wird
aus den beiden und ob wir zu Bett gehen
oder noch ein wenig sitzen sollen
Als heisse es November, das „hässliche Dorf“, an dem der Dichter vorbeifährt. Trist muss es sein, und doch zieht es ihn an. Ob er es kennt, ob er dort aufwuchs, verrät er nicht, jedenfalls aber erinnert es ihn an früher. Ein bestimmtes Haus steht ihm vor Augen; er weiss noch genau, wie es drinnen aussah, wie die Leute dort lebten. Unvermittelt kippt sein Bericht ins „wir“. Er selber, scheint es, war einer der Bewohner, kam mit dem Wagen nach Hause, wartete auf jemanden. Dieser Jemand wird, wiederum überraschend, als Du angesprochen. Ist es die in der Widmung des Gedichts angesprochene Daniela, an die er sich wendet? Hat er sie schon als junger Mann gekannt und richtet das Wort nun an sie? Man kann sie sich als Beifahrerin vorstellen, mit der er durch die auch ihr wohlvertraute Gegend fährt.
Nähe ohne Erotik
Die häusliche Szene von früher ist ihm so nahe, dass er bei ihrer Beschreibung nach wenigen Zeilen ins Präsens fällt. Er verliert die Distanz, die ein „Weisst du noch“ eigentlich zu wahren pflegt, taucht ein in die Geborgenheit eines von Alters her bewohnten Hauses. Bei aller spürbaren Empathie lässt er offen, wer „die Leute“ darin sind, ob seine Angehörigen oder eine WG, in der er später lebte. Das Du, das nach der Rückkehr die Hand auf die seine legt, bleibt in der Schwebe: Nach der zärtlichen Begrüssungsgeste fährt das Gedicht sachlich fort: „was wird wohl aus den beiden“. Es sagt nicht: was wird wohl aus uns beiden, was auf ein Paar schliessen liesse. Die eingetretene Person, das Du, könnte eine frühere Freundin sein oder auch eine Schwester, ein Bruder. Der Schluss hält, ähnlich neutral, die Frage bereit, „ob wir zu Bett gehen“, was eher nach gewöhnlichem Schlafengehen klingt als nach einem erotischen Ins-Bett-Gehen.
Nicht wer da kommt und geht, ist für den Dichter massgebend, sondern die Atmosphäre eines Zuhauses, in dem er sich, zumindest vorübergehend, wohlgefühlt hat. Trotz des Widerwillens, der ihn anfänglich packt, lässt er sich zu einer hingebungsvollen Beschreibung des gemeinschaftlich bewohnten Hauses herbei. Er kann es sich leisten, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, ohne dass der Sirenengesang des Dorfes, „der plötzliche Wunsch dort zu leben“ ihm allzu gefährlich wird, denn in wenigen Augenblicken wird er es hinter sich gelassen haben. Das verspricht schon die vorsorgliche Ankündigung im Titel: „Vom Vorbeifahren“.
Rudolf Bussmann, TagesWoche, 22.10.2012
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