− Zu Rolf Hermanns Gedicht „Der Hosenträgerpianist Nr. 10“ aus dem Lyrikband Rolf Hermann: Kurze Chronik einer Bruchlandung. −
ROLF HERMANN
Der Hosenträgerpianist Nr. 10
Wer sich in die Betrachtung einer Büroklammer vertieft,
entdeckt darin sein Selbstporträt.
Unversehens versetzt mich die Vorstellung
einer im Schlick schlafenden Seeschnecke
in den Zustand allumfassender Zuversicht.
Summend wiege ich meine Urteilskraft in den Schlaf.
Besser ratlos bleiben und Schwarzwurzeln kauen.
Der Schichtbetrieb bleibt bis auf weiteres eingestellt.
Erschöpft liege ich zwischen zwei Buchdeckeln
und schiebe mich zurück ins Regal..
Die einzelnen Sätze, jeder für sich genommen, machen beim Lesen keine grosse Mühe. Vertrackter wird es, wenn man sie als komponierte Einheit liest. Wie kommt es, dass sie zusammen ein Gedicht bilden? Sie haben ganz offensichtlich nicht viel miteinander zu tun, und wer Verbindungen zwischen ihnen entdecken will, läuft ins Leere. Dennoch – zwei Dinge scheinen ihnen gemeinsam zu sein. Zum einen ein Ich, das sich in einigen von ihnen zu Wort meldet und in den übrigen, die wie Ratschläge oder Statements wirken, nicht weit ist. Zum andern ihre radikale Verschiedenheit: Die Sätze verweisen auf gänzlich verschiedene Zusammenhänge, die hinter ihnen zu vermuten sind, die sie aber nicht verraten. Wollte man ihre Herkunft bestimmen, käme man auf mögliche Quellen wie Tagebuch, Aphorismensammlung, Anordnung, surrealistischer Roman.
Bücher-Talk
Möglicherweise liegt der Schlüssel zu ihrer zunächst verwirrenden Kombination in den letzten beiden Zeilen. Hier befindet sich das Ich „zwischen zwei Buchdeckeln“, es weist die sekundären Geschlechtsmerkmale eines Buches auf, das sich „zurück ins Regal“ schiebt. Sind vielleicht verschiedene Bücher miteinander ins Gespräch gekommen? Entsprechende Versatzstücke lassen, genauer betrachtet, an ein Rezeptbuch denken („Schwarzwurzeln“), an die „Kritik der Urteilskraft“ von Immanuel Kant, einen Kunstband mit der Fotografie oder dem Gemälde einer Büroklammer, an Brehms Tierleben („Seeschnecke“).
Das Gedicht stammt aus einem Band, zu dem der Autor eigene Collagen beigesteuert hat, es ist ein textuelles Pendant zu den Bildern, eine Montage aus Einzelsätzen. Deren Zusammenstellung könnte einem Augenblick von Müdigkeit zu verdanken sein, wie ihn die beiden letzten Zeilen andeuten, einem Bewusstseinszustand zwischen Wachsein und Träumen, wo Bruchstücke von Gelesenem vermischt mit eigenen Gedanken durch den Kopf ziehen und einander ablösen, ohne sich um einen übergreifenden Sinn zu kümmern. So gesehen wäre der Schluss des Gedichts eine Metapher für einen vom Lesen Erschöpften, der sich langsam ins Regal der Träume gleiten lässt.
Rudolf Bussmann, TagesWoche, 6.5.2013
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