− Zu Sarah Kirschs Gedicht „Winteranfang“ aus dem Lyrikband Sarah Kirsch: Schneewärme. −
SARAH KIRSCH
Winteranfang
Die Vogelhäuser hängen gefüllt in den
Verschlossenen purpurnen Zweigen
Jetzt wenn der Frost kommt.
Die Schildkröte schläft seit Wochen
Neben der Wasseruhr wie ein Vampir
In einer Kiste mit Heimaterde.
Wenn die Schermäuse die Tulpenzwiebeln
Nicht finden werden wir vielleicht alle
Das neue Jahr erreichen
Uns zuprosten und einen Schwärmer
Über dem lautlosen Eis aufsteigen lassen
Die Menschen zu bannen.
Im Grund sind es zwei Anfänge, die das Gedicht benennt, neben dem Winteranfang auch der Beginn des neuen Jahrs. Die Gedanken gehen von dem einen hin zu dem andern, unter diskreter Auslassung der dazwischen liegenden Weihnachtszeit. Die Aufmerksamkeit gilt der Natur, den Tieren in ihrer Winteremsigkeit oder ihrem Winterschlaf. Die Menschen im Haus sind ins Naturgeschehen einbezogen. Sarah Kirsch, die in einem Bauernhaus in Schleswig-Holstein wohnt, bindet sie zusammen mit allen andern Lebewesen, Tieren wie Pflanzen, in ein „Wir“-Kollektiv ein: Wenn die Zwiebeln von den Mäusen nicht gefressen werden, schreibt sie, „werden wir vielleicht alle / Das neue Jahr erreichen“.
Sprachzauber
Von der Hausgemeinschaft sind freilich „die Menschen“ ausgeschlossen, und aus dem Zusammenhang ist leicht zu erraten, wer mit diesem Pauschalbegriff gemeint ist. Sollen sie doch gebannt werden, wie einst nach dem animistischen Glauben der Germanen böse Geister mit Feuer vertrieben wurden. Jenen, die Schaden anrichten, gilt der Bann – Schaden an dem Kollektiv, von dem die Rede ist, an Pflanzen, Tieren und Menschen gleichermassen. Das Gedicht spielt auf die Bedrohungen an, vor denen Haus, Hof und Landschaft zu schützen sind, und verharrt zwischen Hoffnung und Ironie, zwischen der Anspielung auf ehrwürdiges Brauchtum und einem Silversterscherz. Auffallend, dass das Leben in Haus und Garten in ausführlichen und prallen Bildern erscheint, während die zu bannende Menschheit mit nur einer Zeile abgetan wird, als könnte, als müsste der schiere Sprachzauber das erreichen, was der einsame Schwärmer in der Neujahrsnacht vielleicht doch nicht zustande bringt.
Rudolf Bussmann, TagesWoche, 2.1.2013
SARAH KIRSCH (16. April 1935 – 5. Mai 2013)
Radio CKCU/Literary News ‘Das literarische Echo’ im Campusradio der Carleton University in Ottawa sendete am 16. April 2010 anlässlich des 75. Geburtstags von SARAH KIRSCH einen Beitrag, der durch Anklicken des Links nachzuhören ist> http://bit.ly/11YRwh8