− Zu Tanja Dückers’ Gedicht „Insektenleben“ aus Tanja Dückers: Fundbüro und Verstecke. −
TANJA DÜCKERS
Insektenleben
Über die Heidewiesen
will ich mich verstreuen
nie wieder zusammenfinden
Zukunft ätherisch
Krautdasein
Gesang und Gras
Insektenleben
Facetten statt Monotonie
Flügel statt Strassenbahn
Ein Leben als Leichtgewicht
will ich antreten
und zwar sofort
Beim Lesen wachsen dir Flügel und Fühler, du schwirrst fröhlich über die Heide. Du nimmst den Flug als Wirklichkeit und hast vergessen, dass hier eine Absicht geäussert wird. Fort geht’s in ein Dasein ohne Verb und Syntax, wo sich schwerelos leben lässt und nichts vorbestimmt ist. Das Schwärmen hält fast zwei Strophen lang an, dann kommt der Absturz. Er wird durch den Satz „Ein Leben als Leichtgewicht / will ich antreten“ vorbereitet, der ins Bewusstsein ruft, dass alles ein schöner Wunsch ist. Am Ende bist du da, wo du am Anfang gewesen bist, bei der Schwerkraft und bei der Ungeduld. Obwohl die Schlusszeile etwas ganz anderes ausdrücken will, nämlich wie dringlich das Abheben ist. Gerade ihr trotzig aufstampfendes „und zwar sofort“ ist verräterisch. Das Experiment ist geplatzt, der angekündigte Start ins Schwebedasein hat gar nicht stattgefunden. Es bleibt alles beim alten.
Zweite Lektüre
Der Zustand, von dem du dich wegsehnst, hat das Wünschen mehr bestimmt, als dir lieb ist. Er hängt wie schweres Gepäck zwischen den Zeilen. Zwei Dinge davon werden im Gedicht erwähnt: Monotonie und Strassenbahn. An manch weiterer Stelle drückt er durch, ohne dass von ihm ausdrücklich die Rede ist. Er wird als Negativ sichtbar, das Zeile für Zeile konkretere Gestalt annimmt und sich geradezu in ein Gedicht des Verdrusses umschreiben liesse, etwa in dieser Art:
Über die Heidewiesen
statt durch die Stadt will ich gehen
die mir eine feste Identität aufdrückt
und eine voraussehbare Zukunft
in geregelter Bahn
freudlos und unfrei
bin ich, ein Herdenwesen
festgelegt auf eindimensionales Sehen
vorgegebene Geleise
definierte Rollen
daraus will ich fort
und zwar sofort.
Dritte Lektüre
Es ist ziemlich genau nachvollziehbar, wovon Tanja Dückers’ Gedicht abrückt. Wovon es spricht, ohne es direkt zu erwähnen. Nun, da erkannt ist, welche Erfahrungen ihm zugrunde liegen, kannst du dich seiner Leichtigkeit von neuem hingeben. Wie wohltuend ist es, dich noch einmal von seinen Flügeln forttragen zu lassen und gleichzeitig die Abgründe zu kennen, über die es dich führt. Dein Flug schliesst die Kritik der Umstände mit ein, die dich beengen. Er weckt ein Glücksgefühl, das du erreichen kannst auch ohne dich in ein Tier verwandeln zu müssen. Das Gedicht hält die Erinnerung an etwas wach, das du in dir spürst. Seine suggestive Wirkung erhält es dadurch, dass du die Kräfte spürst, die in dir schlummern. Indem du dich von ihm anstecken lässt, erweckst du sie zum Leben, und tatsächlich, es gelingt dir für den Augenblick der Lektüre auszubrechen und über die Heide zu kurven. Du kannst fliegen, also flieg, und zwar sofort!
Rudolf Bussmann, TagesWoche, 23.7.2012
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