Rudolf Walter Leonhardt: Zu Erich Kästners Gedicht „Sachliche Romanze“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Erich Kästners Gedicht „Sachliche Romanze“ aus Erich Kästner: Bei Durchsicht meiner Bücher. –

 

 

 

 

ERICH KÄSTNER

Sachliche Romanze

Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.

 

 

Hermann van Veen singt „Sachliche Romanze“ (1982)

 

Sachlich um der Leser willen

Das Gedicht steht am Anfang des Gedicht-Bandes Lärm im Spiegel; es ist der Prolog, mit dem sich der durch „Herz auf Taille“ gerade berühmt-berüchtigt gewordene Neunundzwanzigjährige (1928) seinen Lesern ausweisen will. Und der Titel „Sachliche Romanze“ steht für ein Programm: So etwas „Romantisches“ wie Liebe wird nicht geleugnet, im Gegenteil, es gehört auch bei Kästner zum Repertoire. Aber es wird in nüchterner, „neuer Sachlichkeit“ darüber berichtet. Gereimte Prosa? Journalismus in Versen? Gedichte als Lebenshilfe?
All das wollte Kästner. Lebenshilfe vor allem. Nicht: sich selber darstellen (ihm kam die eine oder andere Liebe erst viel später „abhanden“), nicht: der Sprache Urlaute entlocken (er wollte allgemeinverständlich sein); nicht: Auswege in einer poetischen Metaphysik suchen (er liebte das Leben so, wie es ist, oder doch, seiner nie verzagenden Hoffnung nach, sein könnte).
Auf jedes formale Raffinement wird verzichtet. Die Sätze sind von lakonischer Kürze und schulfibelartiger Klarheit. In der vierten Strophe den Rhythmus zu brechen durch einen zusätzlichen Vers, ist das Äußerste, was Kästner hier sich und seinen Lesern zumutet. Es wird eine „alte Geschichte“ erzählt, die daran erinnert, was bei Heine zwischen „Jünglingen“ und „Mädchen“ passieret. Da brechen dann Herzen entzwei. In der Tat ist Kästner ohne den Vorgänger Heine nicht zu denken. Was unterscheidet ihn?
Es geht um scheinbar Triviales, wobei der Schein des Trivialen deutlich genug hervorgehoben wird. Das größte Menschenglück – für Kästner und andere: die Liebe – soll sich nicht von ganz poesielosen alltäglichen Gebrauchsgegenständen unterscheiden. Jüngere, denen „Stock oder Hut“ keineswegs mehr alltägliche Gebrauchsgegenstände sind, mögen Kästners Vergleich als leicht nostalgie-verstaubt empfinden; aber Stöcke und Hüte „kamen“ in den zwanziger Jahren so oft „abhanden“ wie heute Kugelschreiber oder Autoschlüssel.
Die erste Strophe könnte, zur Not, auch von Heinrich Heine stammen. Dann jedoch beschwört Kästner hier wie so oft eine Bürgertugend, die Heine auch schon kannte, aber so unverstellt nie beschrieben hätte: inmitten der traurigsten Ratlosigkeit verzweifelte Tapferkeit. Man muß die Form wahren, man darf niemanden verletzen, schon gar nicht den, den man einmal geliebt hat. Die einstmals alles sich waren und die nun alles verloren haben: sie schreien einander nicht an, sie bringen sich nicht um, was doch zumindest literarisch ganz wirkungsvoll wäre; sie stehen irgendwo herum und klammern sich daran: nachmittags wird Kaffee getrunken. So weit stimmt die Welt noch. Am Abend freilich hat man nicht mehr im Café zu sitzen. Das ist nicht in Ordnung.
Kästners Geschichten in Vers und Prosa sind oft ganz einfach traurig und in ihrer Traurigkeit völlig unabhängig von gesellschaftlichen Zusammenhängen, total unkorrigierbar. Humanismus und Sozialismus lagen ihm gleich nahe, aber sie bedeuteten ihm nicht das gleiche. Er verehrte Schopenhauer und glaubte mit ihm an das Mitleid als den höchsten moralischen Wert.
Dieses Gedicht ist wie viele Kästner-Gedichte eine Parabel: Wie den beiden geht es Tausenden. Und da Tausende von einem solchen ganz nüchternen, trivialen, journalistischen Versgebilde sich berührt gefühlt haben, ist es womöglich so „trivial“ nun wieder auch nicht. „Trivial“ ist nur der unnütze Allgemeinplatz. Kästners Verse wären treffender mit „ungemein schlicht“ zu bezeichnen. Sie können ja nützen. Sie wollen es auch. Kästner wollte Lebenssituationen so darstellen, daß viele sich betroffen und manche sich getröstet fühlen. Das „Abhandenkommen“ der Liebe ist ein großes Thema. Es bedarf, dennoch oder daher, für Kästner nicht der großen Worte. Seine Leser danken ihm das.

Rudolf Walter Leonhardtaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Insel Verlag, 1977

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