– Zu Kurt Drawerts Gedicht „Wintergedicht“ aus Kurt Drawert: Idylle, rückwärts. –
KURT DRAWERT
Wintergedicht
Leicht fällt das Jahr in den Schnee,
und langsam sinkt auch das Licht.
Schon sehe ich nicht, wo du bist.
Und mit dem Dunkel dann ist,
daß ich gar nichts versteh.
An meinem Fenster vor Zeiten
zogen die Schwäne vorbei.
Ich fürchte, sie kamen nicht weit,
weil es doch lange schon schneit,
in allen Einsamkeiten.
Schnee hat im weißen Schleier
zum Rätsel nun alles vereint.
Es schweigen die Bücher am Ende.
Vielleicht, es sprechen die Wände.
Die Raben über dem Weiher.
Es gibt unzählige Wintergedichte – von Klopstock bis Trakl, aber keines von dieser Gestalt: drei fünfzeilige Strophen, so dass ein Vers – immer der zweite – gewissermaßen aus dem Schnee ungereimt herausragt. Lyrische Kunstgriffe dieser Art sind es, die in schlichtester Form begründen, woraus die Artistik poetischer Gebilde bestehen kann. Hinzu kommt, dass die Reime auffallend diskret wirken; Farben werden vermieden. Es handelt sich um ein Gedicht, dessen Worte seinen Leser beschneien wollen, leicht, unmerklich, aber doch so, dass wir diese Wortflocken auf unserem Gesicht spüren.
Ich schreibe über dieses Gedicht übrigens an einem windstillen, wolkenlosen Oktobertag; man könnte ihn ruhig, heiter, gelassen nennen. Kein Gedanke an Winter und Schnee würde jetzt aufkommen. Und doch scheint es der rechte Augenblick, um die Dimensionen dieses Gedichts von Drawert zu erfassen. Denn auch das, was von diesem goldenen Oktobertag übrig bleiben wird, mag schon bald „in den Schnee fallen“; auch sein Licht wird „sinken“ müssen; auch ihm steht undurchdringliches „Dunkel“ bevor. Dem Ich dieses Gedichts kommt es darauf an, zu verstehen. Es erinnert sich an die Schwäne von einst, aber es weiß nicht, was sie bezeugen oder darstellen. Dieses Ich vereinsamt im Schnee. Außer dieser einen Erinnerungsspur erinnert es nichts. Es befindet nur, was ist und wie es schneit, unaufhörlich. Phantasien kommen nicht auf.
Dieser Schnee verrätselt die Welt. Japanische Darstellungen, oft als Tuschezeichnung oder als Holzschnitte von Schneelandschaften, arbeiten gerne mit diesem Rätselhaften in der scheintoten Natur, ausgedrückt durch den kuriosen Gegensatz des schwarzen Darstellungsmittels zum weißen Darstellungsgegenstand. So auch hier: Aus den weißen Schwänen, die im Weißen des Schnees aufgehen, werden am Schluss des Gedichts Raben, Kontraste, die aber lautlos bleiben wie dieses ganze Sprachgebilde. Denn es ist farb- und lautlos.
Dem Verrätseln der Welt durch den Schnee entspricht das Schweigen der Bücher. Ob die Wände stattdessen „sprechen“ werden? Befinden sich auf ihnen bereits menetekelhafte Worte: gesehen, aber als konturenlos befunden, der Gehalt dieses lyrischen Schneebildes nämlich.
Vielleicht, es sprechen die Wände.
Oder spricht sich hier eine Hoffnung auf eine Art Kommunikation zwischen dem Ich und den ihn umgebenden Wänden aus? Wiederum kann man sie nur diskret nennen, diese syntaktische Brechung, dieses kleine ,peut-être‘, aus dem so viele ebenso kleine Hoffnungen bestehen.
Sie scheinen zu korrespondieren, dieses erste Wort des Gedichts, „leicht“, und das „Vielleicht“; denn das zeichnet Drawerts Gedicht ohnehin aus: Leichtigkeit, ein Schweben, ein alles verschleierndes Schneien. Hinter diesen Schleiern, im weißen Dunkel, wenn man so will, ist auch das Du verschwunden, das es noch in der dritten Zeile des Gedichtes gab. Das mögliche Sprechen der Wände könnte als Ersatz für die „in allen Einsamkeiten“ aufgelöste Ich-Du-Beziehung gedacht oder erwünscht sein, als ein Rest an Bezug in einer bis auf den Schnee und eine konturenlos gewordene Natur leere Welt.
,Einsamer nie‘ als in dieser Schneewelt, in der sich zuletzt auch das Ich erübrigt. In der Mitte taucht es, vage die eigene Erinnerung deutend, noch einmal auf, um dann aus dem Gedicht zu verschwinden, gerade weil es nicht mehr verstehen kann. Es kann das „Rätsel“ ebenso wenig deuten, wie es die Wände, sprächen sie denn, verstünde. Und in der letzten Zeile verliert sich auch das Verb. Was die Raben über dem Weiher tun, ob sie kreisen oder krächzen, bleibt unerwähnt. Das Schneien hat alles Tun erstickt. An meinem Oktobertag ist es die unverhoffte spätestsommerliche Wärme, die alles Tun – bis auf das Schreiben dieser Zeilen – lähmt. Das Licht rieselt. Reiher umstehen den Weiher, noch. Sicher ist jedoch – auch das besagt Drawerts Gedicht –, dass jede Erfahrung letztlich „in den Schnee fallen“ wird. Und damit beginnt das „Rätsel“ aller Erscheinungen – lange vor dem ersten langen Schneefall.
Rüdiger Görner, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsunddreißigster Band, Insel Verlag, 2013
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