– Zu Max Herrmann-Neißes Gedicht „Londoner Sturmnacht“ aus Max Herrmann-Neiße: Gesammelte Werke. Gedichte 4: Mir bleibt mein Lied. –
MAX HERRMANN- NEISSE
Londoner Sturmnacht
Die Straßenlampen schaukeln. Regen jagt
an unsre Fenster, die im Winde klirren.
Von Schiffen, die jetzt durch die Fluten irren,
in meinen Traum ein ferner Notruf klagt.
Über den Dächern Londons treibt mein Bett
in der Kajüte eines Steinkolosses
wie auf dem morschen Boden eines Floßes,
mein Leben auch auf einem schwachen Brett
in dieser Sintflut aufgewühlter Zeit,
die Hölle unter seiner dünnen Planke,
auf der ich, allem preisgegeben, schwanke,
und jedes Ufer ist unendlich weit.
Ich kann nicht helfen, mir und andern nicht,
ich berge tiefer mich in meine Kissen
und will vom Weltenuntergang nichts wissen,
vom Sturm, der unsern Stern in Stücke bricht.
Mein Notruf wird von niemandem gehört,
und weiter muß ich durch das Dunkel irren.
Ich stell mich schlafend, wenn die Scherben klirren,
bis auch mich selbst der Sturm zerstört.
Verfolgte, Flüchtlinge, Heimatlose leben im Bodenlosen. Auf freiem, gar festem Grund stehen, diese späte Illusion Fausts, kann ihnen nur wie Hohn erscheinen. Im Exil angekommen, suchen diese Entwurzelten nach Überlebenshilfen, Orientierung, Verankerung, werden dabei aber heimgesucht von ihren Traumata, die sie immer wieder aufs Neue destabilisieren. Jedes sich Einrichten bleibt ein prekäres Provisorium; alles Hoffen auf Dauer droht durch jähe Wechsel der Lebensumstände und Wahrnehmungen zunichtezuwerden. Die Verunsicherung erweist sich als das einzig Verlässliche – gerade auch in dieser „Londoner Sturmnacht“, die keinen Stein auf dem anderen zu lassen scheint. Verlass ist aber auch auf die Sprache; sie lässt dieses schwer traumatisierte, zwischen Albtraum und Wachen hin und her gepeitschte Ich nicht im Stich. Erst jetzt, so scheint es – wir befinden uns im Jahr 1934 –, bewährt sich das Expressive dieser Sprache. Sie besteht diese alle Sinne verstörende Nagelprobe – aber das Ich? Es bleibt den Elementen, auch dem Sturm der eigenen Gefühle schutzlos ausgesetzt.
Spätexpressionistisch ist dieses Gedicht zu nennen, geschrieben von einem Schlesier, der zu den bedeutenden Dichtern deutscher Sprache im zwanzigsten Jahrhundert zählte. Alles bebt in diesem Gedicht, die zum Zeitpunkt der Niederschrift längst klassisch gewordenen Stilmittel des Expressionismus feiern verzweifelte Urständ. Surreale Sprachbilder jagen einander in dieser grausigen Nacht. In diesem Sturm, der wie in Shakespeares letztem Stück tost und dieses Ich phasenweise zu einem unheilverkündenden Prospero werden lässt, droht sogar der Davidsstern zu zerbrechen, jenes große Hoffnungszeichen, das die braunen Schergen zum Kainsmal und Brandzeichen gemacht hatten.
Doch die Form, das Gedicht selbst, zerbricht nicht: Ein Reimpaar umschließt das andere so, als wollten sie einander Halt geben. Dieses Schema symbolisiert die letztmögliche Geborgenheit in einer Welt der erzwungenen Unbehaustheit: jene im Wort. Es ist, als wollten diese Verse uns zurufen: Seht, selbst unter diesen bedrückenden Umständen ist das Gedicht noch möglich. Der sprachliche Ausdruck kann seine äußerste Bewährungsprobe in diesem Ausnahmezustand bestehen. Noch kann sich der in seiner Zeit zum Schiffbruch verurteilte Dichter an die „Planke“, sein Gedicht und seine Reime, klammern. Mit spürbar wachsender Dringlichkeit fragt er jedoch, wie lange ihm das noch möglich sein wird.
Zweimal spricht dieses Gedicht vom „Notruf“. Sicher scheint, dass er in diesem Sturm der Zeit verhallen muss. Anders als Walter Benjamins Engel der Geschichte, der, rückwärtsgewandt und die Augen auf die Trümmer der Vergangenheit geheftet, vom Zeitenwind in die Zukunft getrieben und getragen wird, will dieses Ich sich in die Kissen vergraben und vergessen. Aber es bleibt um den Schlaf gebracht, nicht weil es wie bei Heine erkennbar an Deutsches dächte, sondern weil es nur auf Deutsch zu denken vermag. Die Umgebung des Exils, London, kann es nicht als Bereicherung, sondern nur als neuerliche, andersgeartete Bedrohung empfinden.
Die durch den Sturm versinnbildlichte Gefährlichkeit der Natur der Stadt potenziert sich noch durch die Art der zum Phantasma werdenden Wahrnehmung. Die den politischen Umständen geschuldete Entwurzelung des Ichs, die dem „Weltenuntergang“ vorgreift, sowie die nicht mehr korrigierbare emotionale Selbstdestabilisierung werden zur Überlebensbedingung einer Existenz, der nun überall, auch in London, die Auslöschung drohe. Nicht die Londoner Docks tauchen hier als sichere Häfen auf, sondern die Geisterschiffe „über den Dächern Londons“, zu denen selbst das Bett dieses Ichs gehört. Das vielleicht berühmteste Gedicht des Expressionismus, „Weltende“ von Jakob van Hoddis, kam noch ohne erkennbares Ich aus. Dieser „Londoner Sturmnacht“ aber muss es sich stellen, ihr bleibt es ausgesetzt. Ihre Surrealität ist existentiell geworden.
Rüdiger Görner, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfunddreißigster Band, Insel Verlag, 2012
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