Ruth Klüger: Zu Adrienne Richs Gedicht „Was sind das für Zeiten“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Adrienne Richs Gedicht „Was sind das für Zeiten“. –

 

 

 

 

ADRIENNE RICH

Was sind das für Zeiten

Da ist ein Ort mit zwei Reihen Bäume, wo das Gras hügelauf wächst,
und der alte Kriegspfad im Schatten verläuft,
beim Haus, wo die Verfolgten sich einst versammelten,
um dann in diesen Schatten zu verschwinden.

Ich hab’ dort Schwämme gesammelt am Rand der Gefahr.
Doch keine Angst: dies ist kein russisches Gedicht, wir sind zu Hause,
in unserem Land, mit unserer eigenen Wahrheit und eigenen Gefahr,
näher daran, dass auch bei uns Menschen verschwinden.

Ich verrate euch nicht, wo der Ort ist, das dunkle Waldeck,
wo es auf einen unmarkierten Lichtstreifen trifft –
gespenstischer Kreuzweg, verwestes Laubparadies:
ich kenn’ sogar einen, der’s kaufen, verkaufen will, damit es verschwinde.

Und will ich euch nicht sagen, wo es ist, warum red’ ich dann überhaupt?
Weil ihr immer noch zuhört, weil in Zeiten wie diesen
es nottut, damit ihr weiterhin zuhört,
über Bäume zu sprechen.

(Übersetzung Ruth Klüger)

 

Ein Gespräch über Bäume

Adrienne Rich (1929–2012) zählte zu den einflussreichsten Dichterinnen und Schriftstellerinnen der feministischen Bewegung, war eine unerschrockene Gegnerin des Vietnamkrieges und Befürworterin anderer progressiver Bewegungen. Ihr umfangreiches Werk enthält aber auch viele Naturgedichte, die, im konventionellen Sinn, einfach schön sind. Unser Gedicht handelt von dem scheinbaren Gegensatz zwischen Politik und Poesie und sucht ihn aufzuheben.
Das Persönliche ist das Politische, heißt es in einem alten feministischen Slogan der Linken. Unser Gedicht weitet diese Einsicht aus, sodass es „Das Poetische ist das Politische“ einschließt. Das Persönliche ist in der hausbackenen, ganz privaten Beschäftigung „Schwämme sammeln“ gegeben; das Politische erinnert daran, dass die bewohnte Natur nicht nur harmlose Gewächse, wie essbare Schwämme, sondern auch Mementos an entführte, „verschwundene“ Menschen birgt. In jeder der drei ersten Strophen ist das Wort „verschwinden“ maßgebend und mahnt an Gewaltmaßnahmen gegen Wehrlose. Das Gedicht will hartnäckig vor Untaten warnen und gleichzeitig die Befriedigung nicht ausgrenzen, die den Betrachter der Bäume oder die Schwämmesammlerin belebt.
Auf zwei Vorgänger weist die Autorin hin. Der erste und ausführlicher zitierte ist Bert Brecht, der mit seinem berühmten Gedicht „An die Nachgeborenen“ sowohl im Titel wie in den letzten Versen von Richs Gedicht präsent ist. Bekanntlich geht es Brecht um die Frage, ob ein Gespräch über Bäume – also über Ästhetik und Schönheit – vereinbar sei mit einer politischen Gegenwart, die Engagement gegen die Ungerechtigkeit fordert. Adrienne Richs anderer Zeuge ist Ossip Mandelstam, den die Autorin in der zweiten, etwas obskuren Strophe in einer englischen Übersetzung von Brown & Merwin fast wörtlich zitiert. In Mandelstams Gedicht ist eine dunkle Nacht, die der Sprecher im Freien verbringt, mit der Drohung verwoben, die von einem autoritären Staat ausgeht (dem Mandelstam ja zum Opfer fiel).
Die letzte Strophe schlägt vor, dass man über Bäume, also ein poetisches und privates Thema, reden soll, reden muss, damit man über Politik so reden kann, dass man Zuhörer findet. Das Waldeck, wo die Schwämme wachsen, erinnert an politische Verbrechen, aber das sprechende Ich ist nur wegen des Schwämmesammelns an dieser Stätte gewesen. Eine private Annehmlichkeit trifft auf eine Gewissensfrage, nämlich die Verfolgung von Opfern – in Amerika, in Deutschland, in Russland –, die ein Anliegen der Öffentlichkeit ist. Das Gedicht vereint die beiden, macht sie voneinander abhängig und schlägt einen internationalen Bogen durch die Einbeziehung der beiden fremdsprachigen Dichter. Es befreit uns aus Brechts Zwickmühle, indem es vorschlägt, dass ein waches Gewissen und ein Sinn für die Natur vereinbar sind, dass das eine der Weg zum anderen sein kann.
Adrienne Rich hat einmal geschrieben:

Es war immer so, dass Dichtung unsere Isolation durchbrechen kann, uns zeigen kann, wer wir sind, auch wenn man uns ausgegrenzt und unsichtbar gemacht hat. Sie kann uns an Schönheit erinnern, wo Schönheit unmöglich schien, und an Gemeinschaft, wenn alles nur auf Vereinzelung hinweist.

Ruth Klüger, aus Ruth Klüger: Gegenwind, Paul Zsolnay Verlag, 2018

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