– Zu Anne Sextons Gedicht „Die Abtreibung“. –
ANNE SEXTON
Die Abtreibung
Jemand, der leben sollte, ist weg.
Just als die Erde den Mund spitzte für die Blüten,
wie sie sich einzeln aus ihren Knollen plustern,
hab ich die Schuhe gewechselt und fuhr nach Süden,
wo Pennsylvanias Blauer Berg mit grünem Haar
einen endlosen Katzenbuckel macht,
der wie mit Buntstift ausgemalt war.
Die Straßen gesunken, wie ein graues Waschbrett hohl,
wo wahrhaftig die Erde bösartig kracht,
eine dunkle Augenhöhle, aus der Kohle quoll.
Jemand, der leben sollte, ist weg.
Das Gras wie Lauch borstig und steif,
und ich frag mich, wann die Erde aufbrechen wird,
und ich frag mich, ob irgendwas Zartes hier reift.
In Pennsylvania traf ich einen kleinen Mann,
er war nicht Rumpelstilzchen, bei weitem nicht…
er nahm die Fülle, die mit der Liebe begann.
Auf dem Rückweg war sogar der Himmel flach
wie ein hohes Fenster, das keine Aussicht hat
und die Straße ausgewalzt wie Blech.
Jemand, der leben sollte, ist weg.
Ja, diese Logik, meine Gute,
führt zu Verlust ohne Tod. Oder sag doch, was du meinst,
du Feigling: Dieses Baby, das ich ausblute…
(Übersetzung Ruth Klüger)
Zu einer Zeit, als Schwangerschaftsabbruch noch verboten war, schnürt eine Frau ihre Reiseschuhe, setzt sich in ihr Auto und beginnt eine lange Fahrt durch den Staat Pennsylvania. Dort wird sie von einem kleinen Mann erwartet, den sie, wenn auch nur in der Verneinung, Rumpelstilzchen nennt. Anders als der Zwerg in Grimms Märchen, der um ein noch nicht geborenes Königskind Verhandlungen führte und das Kind, nach der Entbindung, der unwilligen Mutter entreißen will, entfernt dieses moderne Rumpelstilzchen ein Ungeborenes aus dem Körper der willigen Sprecherin. Trotzdem stilisiert sie ihn zu einem Miniaturmonster und bezeichnet das, was sie aufgibt, als „die Fülle, die mit der Liebe begann“. Dieser Zwiespalt durchtränkt das Gedicht mit einer fassungslosen Trauer.
Die Vorfrühlingslandschaft, durch die sie fährt, ist widerspenstig, sogar düster und spiegelt somit die Empfindungen der Frau im Auto. Der Frühling wird nicht eintreffen, trotz der Blüten in der ersten Strophe und dem Grün der Berge, die wie Kinderzeichnungen anmuten („ich frag mich, ob irgendwas Zartes hier reift“), Statt Leben zu fördern, kracht die Erde „bösartig“, „eine dunkle Augenhöhle, aus der Kohle quoll“. Das Gedicht ist präzise, denn tatsächlich ist Pennsylvania ein Schwerpunkt der amerikanischen Kohlenindustrie.
Die Erde als Mutter, lebensspendend, fruchtbar und ihre Kinder behütend, ist eine uralte Metapher in der Lyrik. So heißt es in einem bekannten Epigramm Friedrich von Logaus aus dem 17. Jahrhundert über den Monat Mai:
Dieser Monat ist ein Kuß, den der Himmel gibt der Erde,
daß sie jetzund seine Braut, künftig eine Mutter werde.
Manchmal kann diese Braut, in Umkehrung ihrer gottgewollten mütterlichen Funktion, auch hexenhaft, stiefmütterlich und bedrohlich werden, ein Schlund. Ganz originell ist es jedoch, die Natur mit gewollter, geplanter Unfruchtbarkeit, also mit Abtreibung, in Beziehung zu setzen. Auf dem Rückweg, nach dem vollzogenen Eingriff, vermittelt diese Landschaft, die so genau, wenn auch unfreundlich, beschrieben wurde, nur noch Aussichtslosigkeit, Straßen wie Blech, Fenster ohne Blick. Und schließlich geht in der letzten Strophe ein Riss durch diese, doch nur metaphorischen, Überlegungen. Sie werden als Alibi entlarvt. Die Abgrenzung vom eigenen Entschluss hält nicht stand, und eine herablassende, verächtliche innere Stimme rüttelt die Fahrerin im Auto auf: Das war der Tod, nicht einfach ein „Verlust“. Gesteh es dir ein, sei nicht feig. Nenn es beim Namen. Du blutest, und dein Blut ist ein Baby.
Anne Sexton wurde in den fünfziger und sechziger Jahren als eines der hervorragenden Talente der sogenannten „Confessionalism“-Schule berühmt: Dichter, die ihre Erfahrungen unmittelbar und ohne die Scheidewand eines „lyrischen Ichs“ in Verse umsetzten und sich von keinem Tabu abschrecken ließen. Persönliche Geständnisse und Erlebnisse, die sonst als unanständig oder schockierend, sogar als abstoßend galten, wurden, oft mit psychoanalytischen Deutungsversuchen, zu Poesie. Zweifelsohne hat diese Gruppe, zu der auch Sylvia Plath gehörte (mit der Sexton befreundet war), unser lyrisches Wahrnehmungsvermögen erweitert. Es war ein Durchbruch, besonders für die Darstellung des weiblichen Intimlebens.
Abtreibung ist bekanntlich seit Jahrhunderten praktiziert worden und war immer weit verbreitet, und zwar in allen Klassen und Gesellschaftskreisen. Umso erstaunlicher ist, dass die Literatur sich weitgehend darüber ausgeschwiegen und die Lyrik praktisch nichts dazu zu sagen hat. Schon als Bereicherung von poetisch erfassten gespaltenen Entschlüssen und erlebten Zweideutigkeiten ist das vorliegende Gedicht von Anne Sexton einzigartig.
Ruth Klüger, aus Ruth Klüger: Gegenwind, Paul Zsolnay Verlag, 2018
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