Ruth Klüger: Zu Christine Lavants Gedicht „Lockte mich die alte Zauberin“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Christine Lavants Gedicht „Lockte mich die alte Zauberin“ aus Christine Lavant: Die Bettlerschale. 

 

 

 

 

CHRISTINE LAVANT

Lockte mich die alte Zauberin

Lockte mich die alte Zauberin
wirklich fort aus meinem Apfelgarten
und nun rinnt aus meinen Händen Sand.
Wie sie kichert! – Ach, sie sagt, ich bin
eine Uhr bloß unter Uhrenarten,
eine, die sie auf der Straße fand.

Viele hat sie schon in ihrem Haus,
manche schreien: Kuckuck! – und sind heiter;
auch die Sonnenuhren tun sich groß;
abends geht die alte Hexe aus
und begegnet einem dürren Reiter,
für ein Ührlein nimmt er sie aufs Roß.

Was sie sich erzählen bei dem Ritt,
wenn sie zwischen Höll’ und Himmel rasen,
ist mir armen Sanduhr unbekannt.
Manchmal schrei ich: Nehmt mich endlich mit!
Öfter hoff ich, daß sie mich vergaßen,
und aus meinen Händen rinnt der Sand.

 

Das Warten hat sich verselbständigt

Christine Lavants Leben spielte sich in engen Grenzen ab, und „Grenzen“ ist in jeder Beziehung das richtige Wort. Eine volle Entwicklung war ihr nicht beschert, wegen Armut, beschränkter Ausbildung und vor allem durch Gebrechlichkeit, ständige Schmerzen und eine Reihe von Krankheiten, die sie zeitlebens zur Invalidin machten. Was sie kannte, waren vor allem die Natur in dem Kärntner Lavanttal, wo sie geboren war und von dem sie ihren Künstlernamen bezog, und die kirchlichen Lehren. Das sind Standort und Ambiente der meisten ihren Verse, allerdings das Christentum oft in blasphemischer Umkehrung. Unser Gedicht jedoch ist eher heidnischen Ursprungs, auf jeden Fall folkloristisch geprägt. Zwei märchen- und sagenhafte Gestalten sind die Gegenspieler der Sprecherin. Eine Hexe hat sich des Ichs bemächtigt und es ins Hexenhaus verschleppt oder verlockt, aus dem Apfelgarten, während das Haus der Zauberin, in dem das Ich nun wohnen muß, von der Todeserwartung durchtränkt ist, völlig eingestellt auf die verfließende Zeit, denn es hausen nur Uhren darin. Sie sind die Unerlösten, die zur Vorhölle, zum Limbo, verdammt sind. Der Mensch ist nicht Besitzer einer die Zeit verkörpernden Uhr, sondern er ist selbst eine solche geworden.
Der zweite Unhold, mit dem die Zauberin Umgang pflegt, ist ein unheimlicher Nachtreiter, dem die Uhren nach und nach ausgeliefert werden. Das trifft auf alle zu, auch auf die „heiteren“ Kuckucksuhren und die lichtabhängigen Sonnenuhren, die sich „großtun“, aber es läßt sich am deutlichsten an den Sanduhren erkennen. Zu diesen ganz gewöhnlichen gehört auch die Sprecherin, „eine Uhr bloß unter Uhrenarten“, eine Allerwelts-, sozusagen eine „Straßen“-Uhr.
Das Gedicht kommt daher wie „Hänsel und Gretel“ oder wie „Der Zauberlehrling“, amüsant und gruselig zugleich. Im Hexenhaus geht’s scheinbar ganz munter zu, denn nicht alle Uhren sind so besessen wie die Sprecherin. Ihr geht es nur um das seelische Zwillingspaar Todesangst und Todessehnsucht. Statt Pathos, wie es gerade bei diesem Thema verzeihlich, sogar angebracht wäre, ist der Grundton des Gedichts ein kindlich verstörtes Aufbegehren – nicht umsonst beherrscht das Wort „kichern“ die erste Strophe, wenn es auch aus dem Mund der mißgünstigen Zauberin kommt. Die Hexe ist die Vermittlerin zwischen Leben und Tod, wie es Hexen so an sich haben. Die Sprecherin klammert sich ans Hiersein und will gleichzeitig aus dem Leben scheiden. Der Weg in den Tod ist ein Zauberritt, den man auch einmal versuchen möchte, schon deshalb weil da von Unbekanntem die Rede sein wird, aber dann doch lieber nicht. Keine der beiden Neigungen siegt, und am Ende bleibt nur das fortgesetzte Warten, dem der rinnende Sand des dritten und des letzten Verses entspricht.
Das Versmaß ist regelmäßig und die Form traditionell. Die Gestalten sind eine Abwandlung von Bekanntem. Das Originelle, das, was uns aufhorchen läßt, ist der psychologische Zustand des Ichs, das sich als ein armes, hilf- und ratloses Geschöpf gibt, eine Stimme aus dem Abgrund der befristeten Zeit. Was da mitschwingt, ist eine im modernen Sinne psychopathologische Ambivalenz, die sich zwar der holzschnittartigen Widersacher bedient, aber tiefer schürft als deren einfache Symbolik. Es sind volksliedartige Töne, doch wird kein genauer Leser ihr Alter überschätzen. Denn bei näherem Hinhören entpuppt sich die „Volksballade“ als eher beckettverwandt und seine Sprecherin als eine Figur, die genausogut auf Godot wie auf den reitenden Kumpel der Zauberin warten könnte. Das Warten hat sich verselbständigt und ist mit dem Leben eins geworden.

Ruth Klügeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreißigster Band, Insel Verlag, 2007

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