– Zu Durs Grünbeins Gedicht „Die Wachtel“ aus dem Lyrikband Durs Grünbein: Strophen für übermorgen. –
DURS GRÜNBEIN
Die Wachtel
Ach Großmutter, so nah am Wasser gebaut –
Beim Abschied riß sie mich jedesmal an sich
Mit der plötzlichen Kraft der Ertrinkenden,
In ihrer Blumenschürze eine so kleine Person.
Wie bestürzend rasch all das vorüber war,
Die Jahre der Rosenzucht, Jahre am Spülstein.
Sie war die Agile, die Schwatzhafte, Zärtliche.
Als sie starb, war ich wer weiß wie weit weg.
Dieses Ach aber, überhaupt jede Art Seufzer,
Wurde in ihren Kreisen geradezu kultiviert.
Welche Kreise? Die Damen vom Rommé-Club,
Das Kaffeekränzchen jeden Mittwochnachmittag.
Sie schämte sich immer der Stunde Null –
Als Frau, der Russen wegen, ihrer Befreier.
Spätnachts hatten sie ihr die Tür eingetreten.
Die Kinder waren zum Glück auf dem Lande.
Diese letzten Tage des Krieges, sie blieben
Versiegelt ein Leben lang, unter Verschluß,
Wie in der Kommode unten das Bündel Briefe,
Die fleischfarbnen Wäschestücke der jungen Braut.
Fünfzig Jahre lang hielt das Familiengeheimnis.
Kein Sterbenswörtchen, erst kurz vor dem Ende
In den Wochen der Krankheit packte sie aus.
Großmutter, eine geborene Wachtel aus Schlesien.
Die Wachtel, ein Speisevogel zu Goethes Zeiten –
Es hieß, das kommt bei uns nie auf den Tisch.
Heute noch zucke ich manchmal zusammen,
Schwärmt man von Wachteleiern als Delikatesse.
Oder ein Wort weht herüber, eine brüchige Silbe,
Die einen schwach macht, weil sie so vieles enthält,
Überhaupt, die Erhaltungssätze der Sprache…
Dasselbe Ach in Fachwerk wie in Kasachstan.
So nah am Wasser gebaut, ich kann sie noch hören,
Ihre Seufzer – die tiefen, die lebenssatten,
Und jene schwachen, behutsam eingeschlagen
Wie in Seidenpapier zwischen zwei kleinen Lachern.
Ein liebevolles Porträt einer Frau, die viel geweint (sie war „nah am Wasser gebaut“), viel gelacht – das Gedicht endet mit ihren „kleinen Lachern“ – und viel geseufzt hat. Die Seufzer gehörten zum guten Ton in ihren Kreisen, und man kann die Karten spielenden Damen so richtig sehen, wie sie tief Atem holen, um richtig zu seufzen. Ein leicht komisch angehauchtes Porträt eines trauernden Enkels bahnt sich an, der bereut – aber nicht allzu sehr –, bei ihrem Tod nicht dabei, sondern „wer weiß wie weit weg“ gewesen zu sein. Er skizziert sie mit wenigen Strichen, eine kleine Person mit Blumenschürze, mit ihren selbstgezüchteten Rosen, heftigen Umarmungen und redseligen Zärtlichkeiten. Aber der Text enthält auch ein Paradox: Es ist ein Gedicht über eine geschwätzige Frau, die schweigt.
Denn das Eigentliche ist die Rolle, die diese Frau in der Geschichte – oder vielmehr umgekehrt, die Rolle, die die deutsche Geschichte in ihrem Leben – gespielt hat. Das Kernstück sind die dritte bis sechste Strophe, die so diskret wie möglich von Vergewaltigung und dem darüber gebreiteten Schweigen handeln, dem Schweigen, das der sogenannten Vergangenheitsbewältigung vorausging. Die Soldaten der siegreichen Armee hatten der damals noch jungen Mutter spätnachts die Tür eingetreten. Fünfzig Jahre lang schämte sie sich für das, was diese paar Worte über den Einbruch der Männer, die sie in der DDR als ihre Befreier bezeichnen musste, verhüllen. Schämte sich und schwieg. Schockierend umschrieben ist dieses Schweigen, wenn der Enkel es mit den „fleischfarbnen Wäschestücken der jungen Braut“ vergleicht, also die sexuelle Brutalität einerseits der erotischen Unerfahrenheit und Vorschau auf die Hochzeitsnacht auf der anderen Seite gegenüberstellt: Eine Schublade in einer weiblichen Kommode voller Briefe und Seidenpapier steht als Versteck für Gewalt und verdrängtes Trauma. Diskreter als Grünbein hier dichtet, geht es gar nicht, und darin liegt die Stärke dieser Verse.
Aber wieso haben wir es auf einmal mit Goethe zu tun? Grünbein ist ein Dichter, der die Tradition immer mit im Gepäck hat. Das Wort „Wachtel“ weht von weit her. Die Sprache verbindet nicht nur die Vorkommnisse innerhalb einer Familie, sondern sie enthält in ihren „Erhaltungssätzen“, wie er sie nennt, auch die Mittagstafel der gehobenen Klassen im 18. Jahrhundert. Sie enthält das Ausgelassene wie das Ausgesagte. Das Gedicht handelt nicht nur von einem bestimmten Menschen, sondern auch von dem, was Sprache weitergibt, in einem Wort oder, noch weniger, in nur einer Silbe, eingeschachtelt in Wörtern, die gar nicht zusammengehören, hier der unverwechselbar deutsche Ausruf „Ach“ in Großmutters Mädchennamen Wachtel, im Namen der Sowjetrepublik Kasachstan und im heimatlichen „Fachwerk“. Das im Seufzer enthaltene menschliche Leiden und Gedenken über Vergänglichkeit („Wie bestürzend rasch all das vorüber war“) macht den Sprecher „schwach“, sodass am evozierten Gefühl übers Erinnern die gehaltvolle Silbe nochmals teilnimmt.
So vermengt das kleinste Sprachfragment, drei Buchstaben, die einen Laut ausmachen, der nicht unbedingt immer ein Seufzer sein muss, in dem merkwürdigen Kochtopf der Erinnerungen das, was einmal gegessen wurde, und das, was noch heute als Delikatesse gilt, mit dem Alltagsleben einer Frau aus dem vorigen Jahrhundert, die zufällig vor ihrer Ehe Wachtel hieß. „Alles ist ewig im Innern verwandt“ dichtete Brentano, und die Romantiker waren einverstanden. Nur dass sie an eine wesentliche, existentielle und beruhigende Zusammengehörigkeit der Bestandteile ihrer Welt glaubten, während Grünbein, wenn ich sein Gedicht recht verstehe, eher an eine zusammengewürfelte glaubt, die uns trotzdem mit allem, was schon war, verbindet.
Ruth Klüger, aus Ruth Klüger: Gegenwind, Paul Zsolnay Verlag, 2018
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