– Zu Emily Dickinsons Gedicht „Ein schmaler Bursche schiebt sich…“ aus dem Band Emily Dickinson: Dichtungen. –
EMILY DICKINSON
Ein schmaler Bursche schiebt sich
Bisweilen durch das Gras –
Du hast ihn schon gesehn – bestimmt
Er sagt sich nicht lang an –
Das Gras zerteilt sich wie gekämmt –
Ein Speer taucht auf, gefleckt,
Dann schließt es sich vor deinem Fuß
Öffnet sich weiter weg –
Er mag sein Grundstück im Morast –
Ein Parterre zu kühl für Korn –
Doch als Bub, barfuß am Mittag,
Fand ich manchmal, wie mir schien,
Eine Peitschenschnur, die lag entrollt
In der Sonne auf dem Grund
Und immer wenn ich nach ihr griff
Wand sie sich, und war fort –
Ich kenne manche aus dem Volk
Der Natur, sie kennen mich –
Fühle für sie im Überschwang
Herzliche Sympathie –
Doch diesen Burschen traf ich nie
Ob mit andern, ob allein,
Ohne stockenden Atem
Gefrierpunkt im Gebein.
(Übersetzung Werner von Koppenfels)
Emily Dickinson (1830–1886) war zu Lebzeiten unbekannt und praktisch unveröffentlicht. Man muss nur einen Blick in die damals hochgeschätzten, leicht verdaulichen und heute zum Gähnen langweiligen Verse von Henry Wadsworth Longfellow werfen, um die Distanz einzuschätzen, die Dickinson von ihren Zeitgenossen trennte. Selbst Jahre nach ihrem Tod, als ein Teil ihres Werks bekannt wurde, waren ihre Gedichte mit ihren gewollten Unregelmäßigkeiten zu befremdlich, um ernst genommen zu werden. Ihr Durchbruch in lyrisches Neuland wurde als die Ungeschicklichkeit einer ungebildeten Frau eingestuft oder auch herablassend als die Gefühlsduselei einer Damendichterin, die nicht einmal wusste, wie man Kommas setzt. Sie erschienen in verschandelter Form, wo jeder Herausgeber mitdichten durfte – durch Kürzungen, Auswahl, willkürliches Strophenbild und Zeichensetzung, und anderes mehr. Erst seit der Mitte des letzten Jahrhunderts wissen wir, was wir an ihr haben, nämlich, neben Walt Whitman, eine der beiden amerikanischen Dichtergrößen des 19. Jahrhunderts.
Unser Gedicht besteht in perfekter Symmetrie aus dreimal acht Zeilen. Zwei Strophen für das erste Drittel, nur eine Strophe für die acht Zeilen der Mitte, dann wieder zwei Vierzeiler für den letzten Teil. Ein an sich normales, hier aber in seiner Wirkung abnormales Geschehen beherrscht dieses überschaubare Schema. Im ersten Teil taucht ein harmloses Tier auf unter Menschen, für die es aus unerklärbaren Gründen nicht harmlos ist. Im zweiten Drittel wird daraus eine Kindheitserinnerung. In den letzten acht Versen kaut ein erwachsenes Ich an dem anhaltenden Schrecken, den diese unverdaute Erinnerung auslöst.
Und woraus besteht dieser Schrecken? Anders als die Schlange in der Genesis verkörpert das Tier nicht das moralisch Böse, ist kein Teufel, der sich ins Paradies eingeschlichen hat, sondern ein irdisches Wesen aus dem „Volk der Natur“ („Nature’s People“), das sich ringelt und schlängelt, um sich dann dort zu verkriechen, wo es zu nass und kühl für das Lagern von Korn oder Mais wäre. Eine gewöhnliche Gartenschlange oder der „Bursche“, wie es in unserer Übersetzung so schön heißt, entfernt sich im zweiten Drittel des Gedichts eilig von dem „Buben“, eine generische Bezeichnung für das Kind, das dem „Burschen“ eben begegnet ist und ihn anfassen wollte, weil es zuerst meinte, das Reptil sei ein Objekt, eine Peitsche, und dann erschrak, als es sich bewegte. Übrigens kommt das Wort „Schlange“ nirgends vor, wir erkennen das Tier nur in der Beschreibung als „gefleckten Speer“ und in der feinen Metapher von der entrollten Peitschenschnur, die sich nicht anfassen lässt.
Unvermeidlich fällt uns im post-Freud’schen Zeitalter als zweite Bedeutungsebene, neben der Bibel, die Schlange als bedrohliches phallisches Symbol ein. Auch diese Assoziation ist falsch, sogar wenn man die darin enthaltene Verniedlichung weiblicher Ängste hinnehmen will. Denn eine solche Bedrohung deutet auf einen Gewaltakt, einen Überfall, auf Erhitzung hin, und hier geht es um den Einbruch plötzlicher Kälte. Solche Deutungen schleichen sich beim Lesen aber trotzdem unvermeidlich ein, denn die Dichterin kannte ihre Bibel, und die heutigen Leser kennen ihren Freud.
Doch das Eigentliche an dem Gedicht, das Großartige daran, ist das Erfassen einer Urangst, die ein Teil unserer genetischen Struktur zu sein scheint, in einem Augenblick der Selbsterkenntnis, der verhindert, sich gemütlich wohlzufühlen in einer bekannten und gepflegten Umgebung. Das Heimatliche wird umgestülpt durch das plötzliche Erscheinen des Unheimlichen, das wir erkennen, aber geistig nicht erfassen können. Im dritten Teil spricht das erwachsene Ich über seine/ihre Zwiespältigkeit in einem Zuhause, das an den Garten in Amherst erinnert, wo die Dichterin einen guten Teil ihres Lebens verbrachte, wo aber auch das andersartige und seit der Kindheit bekannte Wesen noch immer wohnt. Plötzlich ist das Undefinierbare da. Das Gedicht bringt diese Wahrnehmung von Entsetzen ohne Ursache wörtlich auf den Nullpunkt, wo alles vereist, genial verkürzt im letzten Vers als „Gefrierpunkt im Gebein“, die Null in den Knochen, „Zero at the Bone“.
Ruth Klüger, aus Ruth Klüger: Gegenwind, Paul Zsolnay Verlag, 2018
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