– Zu Emma Lazarus’ Gedicht „Der neue Koloss“. –
EMMA LAZARUS
Der neue Koloss
Nicht wie der Griechen eherner Koloss
die Feinde mit der Waffe unterdrückt:
An unser meerumspültes Tor gerückt
steht eine mächt’ge Frau, die Mutter der Migranten,
den Blitz als Fackel in der starken Hand,
ein Leuchtturm, der zwei Städte überbrückt.
Sie ruft: „Behaltet den berühmten Tand
und euren Pomp an euren alten Küsten.
Schickt mir stattdessen eure Mittellosen,
die Heimatlosen, hoffnungslos Zerlumpten,
vom Sturm Gebeutelten, die Abgestumpften,
die Müden, die trotzdem nach Freiheit dürsten.
Den Abschaum schickt vom übervollen Strand.
Am Goldnen Tor erheb ich meine Hand.“
(Übersetzung Ruth Klüger)
Diese Verse stehen am Sockel der Freiheitsstatue im Hafen von New York. Sie ist so groß – etwa 34 Meter bis zum Scheitel – wie die Statue des Sonnengottes Helios, die im Altertum den Hafen von Rhodos beherrschte und auf die sich die ersten beiden Zeilen des Gedichts beziehen. Ihr Bildhauer war Frédéric-Auguste Bartholdi, und sie kam als Geschenk Frankreichs nach Amerika, wo sie im Oktober 1886 eingeweiht wurde, nach komplizierten und teuren Vorbereitungen. Nachdem sie in Stücken nach New York verfrachtet worden war, musste sie erst wieder zusammengebaut und aufgestellt werden. Man sammelte Geld für ein Piedestal und beauftragte die junge Lyrikerin Emma Lazarus, ein Gedicht beizutragen, das bei der Werbung helfen könnte. Sie war eine begabte, wenn auch konventionelle Dichterin und war angeblich zuerst wenig angetan von dem Gedanken, eine Statue zu besingen. Sie konnte nicht wissen, dass ein paar Verse aus diesem einen Sonett sie unsterblich machen würden.
Das Gedicht beginnt mit dem Hinweis auf die antike Parallelfigur und hält dem kriegerisch triumphierenden Riesen eine einladende Gestalt entgegen, die leuchtturmartig zwei Städte, Brooklyn und New York, verbindet und alle Emigranten in der eleganten Sprache der Gebildeten willkommen heißt. In der zweiten Hälfte des Sonetts erfolgt ein Durchbruch: Da hatte die Dichterin den guten Einfall, die Statue selbst sprechen zu lassen. Die umständliche Symbolik des Anfangs macht einen Sprung in ein intensiv wahrgenommenes, realistisches Bild von Flüchtlingselend und Flüchtlingshoffnung. Diese Verse haben es in sich, mit ihrem hautnahen pessimistischen Vokabular, das von materiellem Elend und geistiger Verzweiflung ungeschminkt spricht und vor den stärksten Ausdrücken, wie „Abschaum… vom übervollen Strand“ („the wretched refuse of your teeming shore“) nicht zurückscheut. Die gehäufte Beschreibung von äußerster Verwahrlosung mischt sich mit dem Jubelton und der Zuversicht des Willkommens, die die Statue, von der Dichterin kühn umgetauft in „Mutter der Migranten“, ausstrahlt. Ihr ist niemand zu schmutzig, zu heruntergekommen.
Emma Lazarus stammte aus einer wohlhabenden, alteingesessenen jüdischen Familie in New York, war hochgebildet und belesen, konnte auch gut Deutsch und hat mehrere Gedichte von Heinrich Heine ins Englische übersetzt. Sie war in der Flüchtlingshilfe tätig und setzte sich besonders für die jüdischen Immigranten ein, die in den frühen 1880er Jahren aus osteuropäischen Ländern in Amerika einwanderten und durch die sie erfuhr, wie die Armen leben.
Heute kennen nur wenige den Namen der Dichterin, und der Anfang des Gedichts ist kaum einprägsam. Doch die sechs letzten Verse sind in Amerika zu Recht berühmt und werden oft zitiert, manchmal mit Begeisterung, dann wieder ironisch oder zumindest kritisch, denn sie sind ja keine private Glosse, sondern Inschrift auf einem öffentlichen Denkmal. Die Geschichte der Vereinigten Staaten hat, wie die anderer westlicher Länder, eine Welle von Fremdenfeindlichkeit nach der anderen zu verzeichnen, und gerade die im Gedicht angeführten Neuankömmlinge sind jene, die man am wenigsten hereinlassen möchte. Gleichzeitig hat Amerika eben auch eine Welle von Flüchtlingen nach der anderen aufgenommen, die in New York, und später oft innerhalb des Landes, Fuß fassen konnten. Das Gedicht drückt beides aus, die Not und die Rettung.
In Franz Kafkas erstem Roman Amerika (oder Der Verschollene) sieht der junge Einwanderer Karl Roßmann im New Yorker Hafen eine Statue, die statt einer Fackel ein Schwert hält. Fehler oder Absicht des Autors? Wohl das Letztere, aber gerade in diesem Kontrast wird deutlich, warum das Gedicht heutzutage womöglich noch aktueller ist als vor 130 Jahren. Es stellt in unserer, von Flüchtlingen überschwemmten Welt alle wohlhabenden Länder vor die Wahl: geballte Faust oder ausgestreckte Hand, Schwert oder Fackel?
Ruth Klüger, aus Ruth Klüger: Gegenwind, Paul Zsolnay Verlag, 2018
Schreibe einen Kommentar