Ruth Klüger zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Schwere Koffer“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Schwere Koffer“ aus dem Band Hans Magnus Enzensberger: Rebus. –

 

 

 

 

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Schwere Koffer

Wo kommen all diese Koffer im Hinterhof her,
wem gehören sie? Wer hat sie hergeschleppt,
abgestellt, liegenlassen, aufgestapelt,
vergessen? Altmodische Koffer,
zerfleddert, aufgeplatzt,
mit Schnüren zusammengehalten.
Aber das Leder ist gut, einst
muß es geglänzt haben, und das geborstene Schloß –
im Schaufenster schimmerte golden.

Was sollen all diese Koffer in unserem Hinterhof?
Was ist da drin? Diese Socken, diese Perücken,
das Tagebuch, der im Nadelkissen versteckte Diamant –
daß mir keiner die Sachen anrührt!
Hier gibt es keinen Finderlohn.
Die Unterseite der Griffe ist schmiegsam.
So viele Hände, durch die sie gegangen sind.
Niemand da. Nur die Koffer.

 

Kein Finderlohn

Enzensberger ist der Jeremia der zeitgenössischen Lyrik, der mit in Ironie getauchter Verzweiflung „Wehe“ über seine Mitbürger ruft. Wie die barocken Dichter des 17. Jahrhunderts, die im alles verwüstenden Krieg zähneklappernd und fassungslos vor dem unaufhaltsamen Verlauf der Zeit standen, dem sie versuchsweise den Trost der Ewigkeit und der eventuellen Seligkeit entgegenhielten, so schreibt auch Enzensberger aus einer Gegenwart heraus, die wir verdrecken, zerstören und mit tödlichen, wenn auch langsam wirkenden Giften infizieren, und schaut in eine unbewohnbare Zukunft, wobei nur selten ein Hoffnungsschimmer aufblitzt. Die Dimension Zeit und wir in ihr sind ein unberechenbares Rätsel. Allerdings liebt Enzensberger das Rätselmachen und Rätsellösen, und so heißt auch jener Band, aus dem unser Gedicht stammt, Rebus. Doch wenn der Dichter in früheren Sammlungen vor dem, was uns noch bevorsteht, warnte, schließt er jetzt die Akten, beziehungsweise die Koffer.
Die Zeit hat ihre Dynamik verloren, was vorbei ist, steht im Hinterhof herum wie angesammeltes Gepäck. „Schwere Koffer“ ist der Obertitel eines Kapitels von sieben Gedichten, die alle Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit sind, die sich von Fall zu Fall als lächerlich oder unmöglich oder irrelevant herausstellen. In unserem Gedicht ist der Inhalt der Koffer einerseits wertlos, andererseits entspricht er dem Bild von unseren Großeltern: Tagebuch, Perücke, Nadelkissen, Socken. Irgendwo mag ja sogar ein Diamant stecken. Die verflossene Zeit ist zu den Objekten geschrumpft, die einst in ihr benützt wurden und die niemand im Vorderhaus der Gegenwart mehr haben will. Nur durch den Notbehelf von Schnüren hält das alte Zeug zusammen. Und doch glänzte das geborstene Schloss einmal im Schaufenster wie Gold, und „das Leder ist gut“. Dem Sprecher sind sie irgendwie lieb, sie rühren ihn an. In früheren Gedichten erfand Enzensberger eine vorweggenommene Nostalgie, in der wir auf die fröhliche Gegenwart als eine glückliche Zeit, die nie wiederkommen wird, zurückschauen.
Auf die anfänglich gestellte Frage, wem die Koffer gehören, gibt die letzte Zeile Antwort: Sie gehören niemandem, weil niemand mehr da ist. Die Dinge selbst bleiben, wenn auch in fragwürdigem Zustand, unheimliche Überbleibsel, ihre Besitzer sind verschwunden, es sind die Koffer der Toten. Und trotzdem soll niemand diesen im Hinterhof gelagerten Trödel anrühren. Der Sprecher legt ganz persönlich Wert darauf, wie aus dem Wörtchen „mir“ („daß mir keiner die Sachen anrührt“) hervorgeht. Wie in einem Vexierspiel mit Zeitverschiebungen wirkt dieser Sprecher persönlich gereizt, wenn er anderen keinen Einblick in die Koffer gönnt, obwohl sie ihm eingestandenermaßen nicht gehören. Hält er sich für den Alleinbesitzer des Hinterhofs, obwohl doch ausdrücklich von „unserem Hinterhof“ die Rede ist und wenn er doch beim Auffinden dieses Gerümpels in den ersten Versen verblüfft und verstört war? Worin besteht die Anziehung? Und warum haben andere Forscher, Nachforscher, Historiker hier nichts zu suchen, denn: „Hier gibt es keinen Finderlohn“?
Diese Ambivalenz gegenüber dem ganzen Krempel, den die Leute einmal für erlebtes Leben hielten, macht den Reiz des Gedichts aus. Die Lösung (oder die Vertiefung?) des Widerspruchs (oder des Rätsels?) ist die Menschenleere des letzten Verses.

Ruth Klüger, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierunddreißigster Band, Insel Verlag, 2011

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