Ruth Klüger: Zu Ilse Aichingers Gedicht „Zeitlicher Rat“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ilse Aichingers Gedicht „Zeitlicher Rat“ aus dem Lyrikband Ilse Aichinger: Verschenkter Rat. –

 

 

 

 

ILSE AICHINGER

Zeitlicher Rat

Zum ersten
mußt du glauben, daß es Tag wird,
wenn die Sonne steigt.
Wenn du es aber nicht glaubst,
sage ja.
Zum zweiten mußt du glauben
und mit allen deinen Kräften,
daß es Nacht wird,
wenn der Mond aufgeht.
Wenn du es aber nicht glaubst,
sage ja
oder nicke willfährig mit dem Kopf,
das nehmen sie auch.

 

Glaube und Unglaube

Es steht geschrieben: „Am ersten Tag schied Gott das Licht von der Finsternis. […] Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“ Ilse Aichinger, eine katholisch erzogene Jüdin (oder, anders gesehen, eine als Jüdin verfolgte Katholikin), stellt in ihrem Gedicht den ersten Akt der Schöpfung in Frage. Oder vielmehr, sie stellt in Rechnung, dass es den Menschen nicht immer gegeben ist, an die Schöpfung zu glauben.
Aichinger, Jahrgang 1921, war die Patriarchin unter den deutschsprachigen Lyrikern. Ihre Werke wurden im Laufe eines langen Lebens immer kürzer, aber nicht weniger tiefsinnig. Ihr literarischer Anfang, der Roman Die größere Hoffnung, war das längste. Die Verkürzungen erleben einen Höhepunkt in ihren kleinen, meisterhaften und teils rätselhaften Gedichten.
„Zeitlicher Rat“ verlangt von den Lesern, die Wirklichkeit, mit der sie vielleicht nicht einverstanden sind, zu bejahen. Oder, wenn das zu viel verlangt ist, das Leben stumm, aber „willfährig“ hinzunehmen, um den höheren Mächten, wer immer sie sein mögen, angedeutet durch das „sie“ im letzten Vers, Genüge zu tun. Es gibt „sie“, aber nicht so positiv, dass man sie Gott nennen würde. Das Gedicht weicht dem Gedanken an das Göttliche aus, ohne ihn abzulehnen, und das ist vielleicht das Rätselhafteste daran.
Im Kontrast zu dem beunruhigenden Inhalt der Verse geht eine eigentümliche Ruhe vom Rhythmus und der Ausgewogenheit dieser Zeilen aus, also vom eigentlich Lyrischen. Da ist das Gleichgewicht von „Zum ersten“ und „Zum zweiten“, die doch dasselbe bedeuten: Denn wer an den Tag glaubt, glaubt auch an die Nacht. Wer an das Leben glaubt, glaubt auch an den Tod. Und da ist der gesteigerte Stufengang – ob hinauf oder hinunter – in der wiederholten Ermutigung zum Glauben. Oder sind das nur die Beschwichtigungsversuche einer Lebenslüge? Man kann das Gedicht nämlich auch so lesen, dass der Unglaube siegt. Es beschwört einen vertrackten Zweifel in einer Schaukel von Glauben und dessen Ablehnung. Und der Zweifel ist ja leider nicht nur sprachlich mit der Verzweiflung verwandt.
Ilse Aichinger war eine Predigerin des Misstrauens. In einem verwandten Gedicht spricht sie ein Kind an mit den Worten:

Hör gut hin, Kleiner,
Es gibt Weißblech, sagen sie,
Es gibt die Welt,
prüfe, ob sie nicht lügen.

(Hier reicht die Fragwürdigkeit vom konkreten und nicht sonderlich gedichtfähigen Weißblech bis zur unüberschaubaren Welt.) In Prosa hat sie geschrieben:

Wir müssen uns selbst misstrauen. Der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten! Unserer eigenen Wahrhaftigkeit müssen wir misstrauen.

Das Gedicht „Zeitlicher Rat“ stellt den Gemütszustand des Misstrauens in extremis dar, und rät paradoxerweise (oder ironisch?) zum Glauben.
Kurze Gedichte, ob Epigramme oder gereimte Aphorismen oder Haikus, sind entweder kleine Landschaftsbilder oder stellen eine Stimmung her oder bringen komplexe Umstände auf eine griffige Formel oder machen eine witzige Pointe. Sie sind Geistesblitze oder Blitzaufnahmen. Sie erläutern nicht, sie zeigen nur hin, manchmal mit ausgestrecktem Zeigefinger, manchmal mit angedeutetem Fragezeichen. Ich schlage vor, dass wir die direkten Aussagen beiseitelassen. Denn dieses Gedicht ist ja darauf angelegt, sie uns zu verweigern. Je weniger Interpretation, desto besser, meine ich.
Es gibt Gedichte, die einem durch die Schwere des Alltags helfen und daher an gewissen Tagen zu unwillkürlichen Ratgebern dieses besonderen Tages, sprich zu Lieblingsgedichten, werden. „Zeitlicher Rat“ will dank seiner Widersprüche und trotz seines Titels nicht überzeugen. Weitaus tröstlicher, schafft es einen Schwebezustand, in dem wir uns wiedererkennen.

Ruth Klüger, aus Ruth Klüger : Gegenwind, Paul Zsolnay Verlag, 2018

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