– Zu Peter Huchels Gedicht „Soldatenfriedhof“ aus dem Band Peter Huchel: Gesammelte Werke Band 1. –
PETER HUCHEL
Soldatenfriedhof
Die Luft ist brüchig.
Fünftausend Kreuze
In Reih und Glied,
Streng ausgerichtet
Auf Vordermann.
Nach dem Abendappell
Gehen sie in die Stadt.
Sie bevölkern Ruinen
Und schwarze Brücken,
Werfen Laub in die Grachten.
Sie besuchen den Dom
Und verdunkeln den Heiland.
Aber es glimmen die silber-
Beschlagenen Ecken des Meßbuchs.
Und das Stigma der Abendröte
Brennt auf den Dächern.
Als Fensterschatten
Lehnen sie an der Wand der Bar.
Sie hauchen Eis in die Gläser.
Sie blicken aus Gitarren
Den Frauen nach.
Kurz vor Mitternacht
Hallt gräberhin
Des Todes Clairon,
Das trostlose Trommeln
Die große Retraite,
Der Zapfenstreich.
In erster Helle
Stehen sie wieder
Starr im Geviert.
Fünftausend Kreuze.
Streng ausgerichtet
Auf Vordermann.
Fünftausend Tote schweifen abends durch eine Stadt mit Grachten, also eine holländische Stadt und suchen Frauen, Musik und Gott. Die „Ruinen und schwarzen Brücken“ verweisen auf die Bomben des Zweiten Weltkriegs. Die Toten könnten Engländer oder Deutsche sein, es kommt nicht darauf an, ob sie für eine gerechte oder ungerechte Sache gekämpft haben. Es geht um die Trauer der früh und gewaltsam ums Leben Betrogenen, die eben nicht „Frühvollendete“ waren, wie das merkwürdige deutsche Wort allzu tröstlich lautet, als könnte einer, der noch nicht einmal ein Drittel des normalen Lebensalters erreicht hat, wirklich vollendet sein. Sie gesellen sich zu den Zivilisten, doch die letzte Strophe ruft sie mit Clairon und Zapfenstreich von ihrem Ausgang in die militärische Zucht ihrer Gräber zurück.
Merken’s die Lebenden? Ja, denn die Getränke in der Bar werden kälter, die Kirche verdunkelt sich, die Gitarren nehmen die Sehnsucht der Toten nach einem Liebesleben mit auf. Ein Hoffnungsglimmer leuchtet in der dritten Strophe auf, wo im Dom Licht und Dunkel einander gnostisch konfrontieren. Der verdunkelte Heiland weist uns auf die Trostlosigkeit der vorletzten Strophe („trostloses Trommeln“), wogegen der Einsatz eines „aber“ das Silber des Meßbuchs und das Gold der untergehenden Sonne hervorhebt, des Dunkels Gegenkraft. Nur ist dieses Licht wieder durch das Wort „Stigma“ relativiert, „Stigma der Abendröte“ – eine Genetivmetapher, wie Huchel sie häufig gebrauchte und die er, wie manche seiner Kritiker meinten, gelegentlich strapazierte. Doch unser Gedicht ist karg und nicht metaphernreich, so daß dieser metaphorische Lichtblick ein besonderes Gewicht erhält, ob er vom Dichter nun ernst oder ironisch gemeint ist.
Peter Huchel, der langjährige und später in der DDR verfemte Herausgeber der renommierten Zeitschrift Sinn und Form, war selber Soldat im Zweiten Weltkrieg und hat eine Reihe von bekannten Antikriegsgedichten verfaßt. Unser Gedicht wurde, im letzten Jahr vor Huchels erzwungenem Rücktritt als Herausgeber, in Sinn und Form erstveröffentlicht und erschien im Westen ein Jahr später in dem Band Chausseen, Chausseen. Friedhöfe und die Leiden des Kriegs spielen in dieser zutiefst pessimistischen Sammlung eine herausragende Rolle. Doch ein Gespenstergedicht? Was fangen wir, in dieser Hinsicht Ungläubige, damit an?
Dasselbe fragte schon Lessing im Jahre 1767, bezüglich der Spukgestalten auf den Bühnen der Aufklärung, und antwortete, daß nur wenige seiner Zeitgenossen den Gespensterglauben tatsächlich abgestreift hätten, denn der Durchschnittsmensch, „der große Haufe“, meinte er, „verhält sich gleichgültig“ in puncto Gespenster, „und denkt bald so, bald anders, hört beim hellen Tage mit Vergnügen über Gespenster spotten und bei dunkler Nacht mit Grausen davon erzählen“ und schloß daraus:
Der Same, sie zu glauben, liegt in uns allen… Es kömmt nur auf (des Dichters) Kunst an, diesen Samen zum Keimen zu bringen.
Unsere von Psychologie gesättigte Epoche weiß zu Lessings grundgescheiten Worten noch hinzuzufügen, daß der Ursprung dieses Samens unsere Ängste und vergeblichen Wünsche sind, die wir in traumhaft konkrete Bilder gießen und eben auch Bedrückendes und Beunruhigendes auf die Toten projizieren. Huchels Geister spuken nicht im tiefen Dunkel, sondern, wie normale Soldaten, haben sie nach dem Abendappell frei, also in der Dämmerung, wenn alles noch wach ist. Da gehen sie in die noch belebte Stadt und sind rechtzeitig zum Zapfenstreich, hier um Mitternacht, wieder zu Hause im Grab. Traditionell fängt die Geisterstunde aber erst um Mitternacht an. Geht der Spuk da nicht von den Köpfen der Davongekommenen aus, die den Krieg und seine Opfer zurücknehmen, ungeschehen machen möchten? Sind die wahren Unfertigen, Unvollendeten die Bewohner der durch die Toten unheimlich gewordenen Stadt, dazu der Dichter und schließlich wir, die Leser des Gedichts vom Soldatenfriedhof?
Ruth Klüger, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts, Insel Verlag, 2000
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