Ruth Klüger: Zu Stephen Cranes Gedicht „Der Krieg ist gütig“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Stephen Cranes Gedicht „Der Krieg ist gütig“. –

 

 

 

 

STEPHEN CRANE

Der Krieg ist gütig

Weine nicht, Mädchen, denn der Krieg ist gütig.
Nur weil dein Geliebter fuchtelnd die Hände gen Himmel warf
Und das erschrockene Pferd allein weiterlief,
Weine nicht.
Der Krieg ist gütig.

aaaaaaaHeisere, brausende Regimentstrommeln
aaaaaaaKampfdurstige kleine Seelen,
aaaaaaaGeboren zum Exerzieren und Sterben
aaaaaaaDer ungeklärte Ruhm fliegt über ihnen
aaaaaaaGroß ist der Gott und sein Reich
aaaaaaaEin Feld, wo tausend Leichen liegen.

Weine nicht, Kindlein, denn der Krieg ist gütig.
Nur weil dein Vater in den gelben Graben fiel,
Sich an der Brust zerrte, würgte und starb,
Weine nicht.
Der Krieg ist gütig.

aaaaaaaRauschende Fahnen des Regiments
aaaaaaaAdler mit roten und goldenen Federn,
aaaaaaaErklär’ den Männern, geboren zum Exerzieren und Sterben
aaaaaaaDie Vorzüglichkeit des Schlachtens
aaaaaaaZeig ihnen die Tugend des Tötens
aaaaaaaUnd ein Feld, wo tausend Leichen liegen.

Mutter, deren Herz wie ein bescheidener Knopf
An deines Sohns prächtigem Grabtuch hing,
Weine nicht.
Der Krieg ist gütig.

(Übersetzung Ruth Klüger)

 

Krieg aus zweierlei Sicht

Stephen Cranes allzu kurzes Leben (1871–1900) verlief in der Pause zwischen dem großen Blutvergießen des amerikanischen Bürgerkrieges und dem Ersten Weltkrieg, also in einer relativ friedlichen Zeit. Crane war selbst nie Soldat. Umso erstaunlicher, dass sein bekanntestes Werk, der kurze Roman Das rote Tapferkeitszeichen (The Red Badge of Courage, 1895), der längst zu den amerikanischen Klassikern zählt, von den widersprüchlichen Reaktionen eines jungen Rekruten handelt, der eine Schlacht erlebt und überlebt. Es ist ein psychologischer Kriegsroman; der Held schwankt zwischen Mut und Terror, zwischen Tapferkeit und Feigheit. Zweck und Rechtfertigung des Krieges werden nicht angesprochen, obwohl der Protagonist auf der Unions-Seite des Bürgerkrieges kämpft, in dem es ja um nichts Geringeres als die Abschaffung der Sklaverei ging. Es ist aber auch kein ausgesprochen pazifistisches Buch, obwohl man es als solches lesen kann.
Unser Gedicht hingegen kann meines Erachtens nicht anders gelesen werden. Es erschien 1899 in dem Band War is Kind and Other Lines. (Crane sprach von seinen Gedichten typisch als „Zeilen“, „lines“, wohl um ihre Verwandtschaft mit seiner naturalistischen Prosa zu betonen.) Zwei Strophenblöcke stehen einander gegenüber wie feindselige Armeen, die nicht miteinander verhandeln. Oder wie zwei Chöre, jeder mit seinem eigenen Rhythmus. Der eine Block besteht aus drei kurzen Strophen, mit einem wiederholten zweizeiligen Refrain am Ende, in dem ganz widersinnig die Freundlichkeit oder Güte (skindness“) des Krieges als Trost für die überlebenden beschworen wird, nachdem der Anfang den Tod eines Soldaten, beziehungsweise sein Begräbnis, realistisch beschrieben hat.
Der zweite Strophenblock besteht aus zwei längeren Strophen, auch sie mit einem zweizeiligen Refrain, der so aufgeteilt ist, dass in der Mitte lebende Soldaten und am Ende ihre Leichen dominieren (übrigens der einzige Reim im Gedicht!). Die drei kürzeren Strophen beschreiben die Agonie des gewaltsamen Sterbens und den seelischen Schmerz der überlebenden. Die zwei längeren verherrlichen den Krieg anhand seiner Symbole, dem Drum und Dran des Drangs nach Sieg. Es sind leere Symbole: zuerst die akustischen, im Lärm der Trommeln, dann die visuellen, im Glanz der Fahnen. Diese beiden längeren „Kriegsgott-Strophen“, wie ich sie nennen möchte, strotzen von Verachtung für die Kämpfenden: Diese werden als „kampfdurstige kleine Seelen“ abgetan, die von Geburt an zu nichts anderem taugten, als vor der Schlacht zu exerzieren und während des Kampfes auf dem Feld zu sterben. Fahnen und Trommeln dienen nur dazu, die Männer zu verwirren und sie anzuspornen. Sie sollen spüren, dass es gut ist, Feinde zu töten, und zwar recht viele, doch sie sollen nicht fragen, warum. Der Ruhm bleibt etwas unerklärlich (oder ungeklärt) Mysteriöses, das in der Luft über den Soldaten schwebt.
Auf der einen Seite die Menschen als todgeweihtes, anonymes Massenopfer, angeführt von abstrakten Symbolen, auf der anderen die Einzelnen, die liebten und geliebt wurden, die einmal Kinder waren und später selbst Kinder hatten. Der beschwichtigende Refrain der Kurzstrophen ist so ironisch, dass einem das Lächeln über den gütigen (oder „gnädigen“?) Krieg anfänglich vergeht und am Ende erstirbt. Den überlebenden wird ein Trost gespendet, der nicht tröstet, der im Gegenteil entweder sarkastisch oder hilflos wirkt. Am anrührendsten sind wohl die letzten Verse, wo das Herz der Mutter als Knopf auf dem kostbaren Leichentuch des Sohnes hängt. – Das deutsche Wort „Knopf“ drückt vielleicht die offizielle Wert- und Würdelosigkeit des mütterlichen Verlusts noch besser aus als das englische „button“.
Das Gedicht ist so beunruhigend, weil seine Zweideutigkeiten zum Hinterfragen und Mitdenken zwingen. Widersprüche drängen sich auf, aber da sie nicht als solche angesprochen werden, fordern sie ein „Wieso?“ heraus. Der Dichter diktiert uns die Zusammenhänge nicht, er fordert uns heraus, sie selbst herzustellen oder zu dem Schluss zu kommen, dass das Gedicht genau diese Widersprüchlichkeit zum Thema hat.
Ein Vergleich mit Matthias Claudius’ nicht-ironischem, umstandslos pazifistischem „Kriegslied“ („’s ist Krieg! ’s ist Krieg!“), das mehr als hundert Jahre vor Cranes „War is kind“ entstand, wäre erhellend.

Ruth Klüger, aus Ruth Klüger: Gegenwind, Paul Zsolnay Verlag, 2018

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