Ruth Klüger: Zu Walt Whitmans Gedicht „Stadt der Orgien“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Walt Whitmans Gedicht „Stadt der Orgien“. –

 

 

 

 

WALT WHITMAN

Stadt der Orgien

Stadt der Orgien, Promenaden und Freuden,
Stadt, die ich, in deiner Mitte lebend, besang und
aaaaaeinmal berühmt machen werde,
Nicht deine Feiern, nicht deine wechselnden Tableaus,
aaaaadeine Spektakel, belohnen mich;
Nicht deine endlosen Häuserreihen, nicht die Schiffe in
aaaaaden Werften,
Nicht die Festzüge in den Straßen noch die glitzernden
aaaaaAuslagen mit ihren Waren;
Nicht das Gespräch mit Gelehrten oder mein Teil an
aaaaaSoiree oder Gelage;
Die alle nicht – aber wenn ich, O Manhattan, vorbeigeh’
aaaaaund oft wirft mir ein Augenpaar einen schnellen
aaaaaLiebesblick zu,
In Antwort auf meinen Blick – die belohnen mich;
Liebende, nur unaufhörlich Liebende, sind mein Lohn.

(Übersetzung Ruth Klüger)

 

Ode an Sodom/New York

„Stadt der Orgien“ entstand 1859 als Teil des Gedichtzyklus „Calamus“, in Walt Whitmans 41. Lebensjahr, wie er gleich zu Anfang berichtet, in der für ihn typischen Verschmelzung von „lyrischem“ und „biografischem“ Ich. „Calamus“ erschien 1860 im Selbstverlag in einer frühen Ausgabe der Leaves of Grass (Grashalme oder Grasblätter), Whitmans immer wieder revidiertem Lebenswerk.
In dieser Sammlung bekannte sich Amerikas gefeiertster Dichter zu seiner Homosexualität, ein Wort, das damals noch nicht gebräuchlich war und das er umschreibt oder beschreibt als „athletische Liebe“, „robuste Liebe“, „männliche Zuneigung“. Niemals entschuldigt er sich für sie oder schämt sich ihrer. Im Gegenteil, er feiert sie als Lebenskraft, nicht als Schwäche, auch dort, wo Jubel und Trauer einander gelegentlich abwechseln. In der griechischen Mythologie ist die Sumpfpflanze Calamus ein verwandelter Jüngling, der Selbstmord beging, nachdem sein Geliebter Karpos bei einem Wettschwimmen ertrank.
Erst in letzter Zeit, seit man unbefangen mit dem „offenen Geheimnis“, wie Heinrich Detering es genannt hat, umgeht, ist es möglich geworden, die Homoerotik als einen wesentlichen Bestandteil von Whitmans Dichtung wahrzunehmen. Aus Gründen des „guten Geschmacks“ und eines Patriotismus, der meinte, Amerikas größten Dichter in eine Zwangsjacke angeblicher und missverstanden einengender Männlichkeit stecken zu müssen, wurden die „Calamus“-Gedichte oft verdrängt und verschwiegen oder ihr Zusammenhang mit dem Gesamtwerk falschen Voraussetzungen, anders gesagt Verharmlosungen, unterworfen.
Eines der Gedichte in „Calamus“ („The Base of All Metaphysics“), das mit einer namentlichen und wohl leicht humoristischen Aufzählung griechischer und deutscher Philosophen beginnt, endet mit der Feststellung, dass die „Kameradschaft“ die Grundlage aller Philosophie und aller Religion sei. Jubelnd heißt es in einem weiteren:

Ich werde in Mannahatta und in jeder Stadt dieser Staaten, ob im Landesinneren oder am Meeresufer, die herzliche Kameradenliebe einführen.1

In „Stadt der Orgien“ fordert der Dichter Dank und Lohn von New York, „seiner Stadt“, wie er sie gerne nannte, und ihrem kulturell lebendigsten Viertel Manhattan. Er verspricht ihr, sie mit seinen Hymnen berühmt zu machen. Berühmt wofür? Er verschränkt den Rummel der Stadt, ihre öffentlichen Feste und Bauten mit dem Intimleben ihrer Bewohner und macht das eine vom anderen abhängig. Es ist eine Stadt, wo Fremde sich durch einen Augenaufschlag kennenlernen und erkennen. Das Gedicht enthält keine Spur der üblichen Kritik an der Stadtkultur als korrupt und verderblich, im vermeintlichen Gegensatz zur freien, unverdorbenen Natur, als deren Dichter Whitman oft angesehen wird. Das ist er zwar, aber keineswegs exklusiv. Keine puritanische Zensur, oder auch nur Zurückhaltung, waltet in der Darstellung der berauschenden Eindrücke, in der Aufzählung von urbanen Reizen. Manhattan ist ein „Sodom“, das von einer Flut sinnlicher Wahrnehmungen überschwemmt ist, von einer Anhäufung von Genüssen, hauptsächlich visuell, teils aber auch geistig und ästhetisch. Zwar ist jeder Attraktion ein „nicht“ vorausgestellt, als Signal, dass das Gedicht noch auf das Wesentliche hinsteuert, doch die poetische Anhäufung von Lustbarkeiten und Augenweiden ist auch willkommenes Vorspiel, das in der Liebe mündet. (Ich lese das Wort „continual“ in der letzten Zeile nicht als „lasting“ – „dauernd“, also nicht als eine konventionelle Voraussage von langfristigen Beziehungen, sondern eher als „fließend“ in einem Strom von Beziehungen.) Bei der Sympathie der Passanten, die einander zufällig auf den belebten Straßen begegnen und Liebende werden, handelt es sich deutlich um eine „verbotene“ Erotik, wie schon der Titel und der erste Vers andeuten.
Whitmans Erotik ist eins mit der Sinnlichkeit seiner Begeisterung für alles, was Natur und Mensch zu bieten haben, sichtbar in seinen Landschaften, welche das Ineinander-Aufgehen von Ich und All beschreiben, und hörbar in seinen oft nachgeahmten und doch unnachahmlichen Rhythmen, wo Prosa vor unseren Augen und Ohren zu Lyrik wird. In seiner Ode an New York ist die Stadt sowohl Ort wie Objekt der Liebe.

Ruth Klüger, aus Ruth Klüger: Gegenwind, Paul Zsolnay Verlag, 2018

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