− Zu Nelly Sachs’ Gedicht „Weiss im Krankenhauspark“ aus dem Gedichtband Nelly Sachs: Fahrt ins Staublose. −
NELLY SACHS
Weiss im Krankenhauspark
I.
Im Schnee
die Frau geht
hält auf dem Rücken
umkrampft mit falschem Griff
ganz heimlich
abgebrochene Zweige mit Knospen
noch von Nacht verdeckt
Sie aber im Wahnsinn ganz still
im Schnee
um sich blickend und weit offen
die Augen wo
von allen Seiten das Nichts einfährt −
Aber sehr heimlich das Ferne
ist in ihrer Hand
in Bewegung geraten −
II.
Die Stille mit soviel Wunden getränkt
Religion der schon ausgefahrenen Beter
lebt noch vom Martyrium
immer neu wie Frühling −
Die Gedichte von Nelly Sachs kreisen um zwei Hauptthemen. Die einen, für die sie den Nobelpreis erhielt, sind die Klagen um die Opfer des Holocaust. Die anderen, verhalteneren, sind die Gedichte um Krankheit und Todeserwartung. Unser Gedicht gehört der letzteren, späten Phase an, mit einem leisen Hinweis auf den ersten Motivkreis.
Es ist Vorfrühling, eine geisteskranke Patientin hat im Krankenhauspark knospende Zweige abgebrochen und geht jetzt damit spazieren. Da sie sie zu verstecken sucht, hält sie sie „falsch“, das heißt verkrampft, auf dem Rücken, nicht wie eine Blumenfreundin sie tragen würde. Zu ihren Füßen liegt Schnee. In einer für Nelly Sachs typischen Formulierung für kosmisches Erschrecken oder tiefste existentielle Einsamkeit fährt von allen Seiten das Nichts auf sie ein. Die Kranke klammert sich an ihre Knospen, an etwas Lebendiges und Junges, ganz heimlich, also im Bewußtsein, daß sie sie eigentlich nicht haben dürfte. Sie sind Selbstbestätigung gegen die winterliche Starrheit ihrer Umgebung.
Soweit die Psychologie. Doch darf für fromme Menschen wie Nelly Sachs das, was außerhalb der Wahrnehmung unserer fünf Sinne liegt, nicht nur in Verzweiflung münden, sondern schließt auch Verheißung mit ein. Die dritte Strophe bringt das Ferne als Gegengewicht zum Nichts ins Spiel. In das Diesseits des Gartens ist ein hoffnungsträchtiges Jenseits eingebrochen. Das Ferne offenbart sich in den frischen Zweigen, die im Griff der Kranken – hier eine Rückblende auf das Wort heimlich – in Bewegung geraten sind. Übrigens sind die einzigen Satzzeichen im ganzen Gedicht die Gedankenstriche am Ende der Strophen: Sie wirken wie Wegweiser ins Offene.
Im zweiten, viel kürzeren Teil ist die Frau ausgeklammert. Die Verbindung mit dem ersten Teil liegt in dem Worte Frühling und in der Voraussetzung anderer Daseinsmöglichkeiten als der des Lebens. Wir sind aus dem Krankenhauspark in eine Todesstille versetzt worden, wo die Religion der schon ausgefahrenen Beter herrscht, also der Verstorbenen. „Fahrt“ als Übergang vom Hier zum Ewigen – wie in dem Buchtitel Fahrt ins Staublose – war ein Lieblingsbegriff von Nelly Sachs. In unserem Gedicht kommt sowohl Einfahrt wie Ausfahrt vor: Wo das Nichts einfuhr, fahren die Beter aus. Das klingt fast wie romantische Todessehnsucht. Nur erinnern Wunden und Martyrium, an sich christlicher Herkunft, in den Versen der jüdisch-deutschen Dichterin an „ihre“ Toten, die Ermordeten der Nazis, denen sie ihre berühmtesten Gedichte gewidmet hat.
„Weiß im Krankenhauspark“ veranschaulicht zunächst eine ganz private Krise und enthält erst am Ende Anspielungen auf geschichtliche Katastrophen, über die man hinweglesen kann, ohne daß das Ganze dadurch unverständlich würde. Das Bestechende an dem Gedicht sind solche Ambivalenzen. Für Gottergebenheit ist der erste Teil zu psychopathologisch konzipiert. Auch wird kein friedliches Hinscheiden in Aussicht gestellt, dazu sind Ausdrücke wie mit falschem Griff, im Wahnsinn ganz still, mit soviel Wunden getränkt zu beunruhigend. Ebenso entbehren die verknautschten, gestohlenen Knospen einer strahlenden Symbolkraft. Es ist kein erhabenes, eher ein konfuses Erlebnis, das sich im Kopf der Verrückten abspielt, die jedoch, wie andere Menschen, zwischen dem Winter und dem Frühling, dem Nichts und der Auferstehung schwankt und für die die Hoffnung besteht, sie werde nicht allein bleiben, wie sie es jetzt im weiß kalten Park ist, sondern in die Gemeinschaft der Toten treten.
Das Gedicht verarbeitet mystisches Gedankengut mit einer Feinfühligkeit, die unserer im Laufe von Kriegen und anderen Mordaktionen stark herabgestuften Selbsteinschätzung Rechnung trägt. Jenseits des Wahnsinns beharrt es trotzdem auf seinem Glaubensbekenntnis; denn es beginnt mit Im Schnee und endet mit Frühling.
Ruth Klüger aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002
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