29. DIE WELTLÄUFIGKEIT DER POESIE
wenn die esel räder hätten wenn die ziegen stiefel trügen wenn die kamele flügel hätten (wunder der welt) wenn die steine singen könnten wenn niemand kränker würde als das licht geheimnisvoller lingaradscha wo der wind aus allen ecken bläst land des abschieds ein unbekanntes königreich und dem kältepol entgegen feuerseen im herzen afrikas und der mond in amazonien zwischen zwei weiten unter der eiskappe der erde die fahrt zum höllentor die seidenstraße (wunder der poesie) das war gewiß das sonderbarste und interessanteste schauspiel das ich je erlebt hatte ich sah nur die schimmernden wogenkämme wenn die schiffe über sie wegglitten zeigten sie ihre weißen zähne schon seit tausenden von jahren setzt die poesie ihre fahrt fort mit und ohne lyrisches ich denn der herr der poesie fängt ein huhn und geht um die anderen herren der welt zu sehen der herr der poesie kehrt wieder heim und beendet sein werk und er sagt gebt den kindern die hälse die köpfe die füße der hühner und wenn sie fertig sind gehen sie heim wenn aber die poesie heimgeht woher sollte sie zurückkommen die läden werden schon geschlossen die gesänge verstummen die nebel fallen von den bergen und alle initianden bemalen ihre körper und warten denn die welken blätter fallen auf den boden der grube nun könnten sie die ursache ihrer mißgeschicke als dahingegangen betrachten du hast schöne augen aber zu viele ahnen und mit all deinen gedichten reizt du die haut wie rauhe wolle der abend ist lau und still es wird gescherzt und gelacht und jeder möchte schneller sein als der andere im morgengrauen kehrt die poesie zurück keiner folgt ihrer spur die sonne ist auf der anderen seite der berge zurückgeblieben die poesie sieht die karawane vorbeiziehen und versucht ihr zu folgen nie werde ich ihren blick vergessen.
Quer durch die Verheißungen der Poesie ein poetisch-poetologischer Feldzug für das Vermessen, für das vermessene Versprechen, für das ausufernde Einfangen und Ausschreiten (auf-schreiben, nicht zu-schreiben) einer denkbaren Schreiberfahrung. Die 30 plus 30 Zustandsberichte schöpfen aus dem Quellwasser der Geschichte (Morgen, Abend, Nachtgesang…) und können als Kompendium gefaßt werden, insofern die Wegmarkierungen selbst wieder auf die Stichwörter verweisen und weiter.
Poesie muß immer wieder einmal ausgeschrieben werden, bis ihre Offenbarung geheim wird. Nichts war und ist bei ihren immer wieder vorhergesagten Untergängen vor ihren Aufgängen sicher. „Alles, was von ihr gesagt werden kann“, sagt S. J. Schmidt, „kann sich nicht mehr auf einen Abschlußgedanken einigen.“ Wenn er von der Poesie, die alles sein kann, spricht, will diese nichts auslassen; das Wenige, das S. J. Schmidt nicht zur Poesie werden läßt, wird von ihm allenfalls eingeräumt. Wenn die Worte sich auf seiner Seite nicht mehr aufhalten lassen, hält sich ihr Sinn doch am Gedankenfluß fest. In ihm wird Poesie zu Wasser, und das Meer ist am Ende der abschließende Gedanke.
(Paul Wühr zu S. J. Schmidt: alles was sie schon immer über poesie wissen wollten)
der anfang der poesie – die definition der poesie – der pate der poesie – die kriege der poesie – die morphischen felder der poesie – die erinnerungen der poesie – die große wiederholung der poesie – die neue poesie – das schwarze loch der poesie – die fakten der poesie – die mechanik der poesie – das gebirge der poesie – die letzten tage der poesie – die aktionen der poesie – die poesie der poesie – die untreue der poesie – die mängel der poesie – das system der poesie – die geschichten der poesie – die pathologien der poesie – die befragung der poesie – die bekenntnisse der poesie – die beziehungen der poesie – die ständig alternde poesie – die unverzichtbarkeit der poesie – die zustände der poesie – die sternstunden der poesie – die frustrationen der poesie – die weltläufigkeit der poesie – der abgesang der poesie
Ritter Verlag, Ankündigung
Dieses Buch handelt theoretisch und praktisch über die lyrische und prosaische deutsche Dichtkunst in komprimierter Formgebung, die uns Leser einen Einblick in die Gedankenwelt eines wissenschaftlich arbeitenden Mannes, der Germanistik an den Universitäten Bielefeld und Siegen lehrt.
Der Autor gibt uns Leser die Antwort auf die Frage: Was Literatur ist? „dass Literatur immer ein wenn – dann ist wenn schreiben dann lesen wenn sprechen dann hören wenn hören dann denken“. S. J. Schmidt schreibt diese prosaische Poesiebegriffe in dreißig Zustandsberichten festhaltend nieder, und meint: „das gebirge poesie dem man mit lächerlich wenigen begriffen beikommen will“. Auf die Befragung der Poesie mit den drei Fragen: „Hat es die Poesie je gegeben? Glauben Sie, dass es heute noch Poesie gibt? Wird es nach ihrer Auffassung auch künftig Poesie geben? würde ich dreimal bejahen.
„wenn alle zustände der poesie sie nicht nur in alle winde zerstreuten.“ „gleichwohl behauptet die poesie sich an alle ihre gedichte wort für wort zu erinnern.“ „der herr der poesie kehrt wieder heim und beendet sein werk.“ Was soll dieses Werk oder Stück Literatur vermitteln? Diese Frage stelle ich mir am Ende dieses Poesielexikons. Der Kreislauf der Literatur lebt in der Poesie weiter, auch wenn „die Rolle Toilettenpapier das Buch künftig hin ersetzen wird!“.
(…)
Und falls Sie nach einem Kompendium suchen, das Ihnen alles was sie schon immer über poesie wissen wollten, verrät, sei Ihnen die gleichnamige Hymne auf die Poesie von Siegfried J Schmidt empfohlen. In einem assoziativem Rausch, der vielleicht weniger Perversionen wie Woody Allens ähnlichlautender Film offenbart, aber mit gleicher Leidenschaft geschrieben wurde, liefert Schmidt dreißig „Zustandsberichte“ der Poesie, von ihren Anfängen bis zu ihren Abgesängen. Atemlos, verschachtelt und verknappt, Zitate und Buchtitel vereinnahmend, aber ohne akademischen Furor trotz mancher Volten des Vokabulars, redet er uns und die Poesie schwindlig, schiebt den einen oder anderen Lehrsatz dazwischen („ein gedicht ist ein lebendes system das von sich selbst beschreibungen anfertigen kann“) und erklärt „alles was gesagt wird zu jeder zeit und an jedem ort“ zur Poesie – ein Beuys der Dichtung. Folgte man seiner These, wäre ja auch dieser Text… Oh, Schreck!
Thomas Kraft, neue deutsche literatur, Heft 508, Juli/August 1996
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