INTERGALAKTISCHER EINKAUF BEI DER SHOPPING-MALL IM WEIHER
das piepsen entsteht in maschinengewehrschnelle
die kassierer tragen headphones als wären sie piloten
und würden gleich mitsamt den kunden und
aaaaakaufständen abheben
ihre kassenvorrichtungen scheiden langsam papier
streifen aus wie wenn die maschinen von papiernen
würmern befallen wären
und die kommunikation zwischen den pilotenkassierern und klienten
ist fast so maschinengewehrschnell wie das piepsen
kommuniziert wird durch das kartenzücken zum rabattfang
durch das kartenzücken zum kontozugriff
in der integrierten bäckerei sind alte damen am lästern
zittrig
haarausfall
und gleich hebt das einkaufszentrum ab
und die alten werden versuchen hinauszurennen
sie wollten nur lästern
jetzt geht es zum orion
Şafak Sarıçiçek liest am 8.3.2019 bei artes liberales – universitas.
„Wenn ich an den gestauten und frei fließenden Fluß denke, so denke ich zuerst an den Fluss Munzur. In der kurdisch-zazaisch und alevitisch geprägten Region meiner Ahnen ist einer der ältesten Nationalparks der Türkei. Unzählige endemische Pflanzen- und Tierarten finden sich hier. Mit Staudämmen wird dort von der Regierungsseite eine Politik im Geiste des Jahres 1938 fortgeführt, einem blutigen Jahr, das im Dersim-Massaker mündete. Der Fluss, die Berge, die Natur, haben für die einheimische Bevölkerung Seelen, sind heilig, sind Lebens- und Kulturgrundlagen.
Wenn Lyrikbände eine Essenz haben können, so ist die Symbolik vom Fluss Munzur die Essenz dieses Lyrikbandes. Ich wollte dieser Symbolik eine Sprache geben. Auch die Sprache des Lyrikers fließt frei assoziativ oder gestauter, abstrahierter, hermetischer, die Betonwand des Staudammes, hinter der die Wassermasse Druck ausübt, um wieder frei zu fließen. Tage können fließen, positiv, so dass das Zeitgefühl verschwindet oder gleichmäßig und gestaut in der Routine.
Meinen älteren Bruder Deniz beschäftigt kreativ gleichsam diese Dualität. Als wir noch Kinder waren, zeigte er mir durch Erzählungen insbesondere die frei fließende Seite des Flusses, wofür ich ihm sehr dankbar bin. In seinen Geschichten bekam der Wald mythologische Einwohner und führten selbstgezeichnete Türen der Vorstellungskraft in verborgene Welten.
Die Zeichnungen in diesem Band sind wieder, wie in der Vergangenheit, kleine Pforten, die den gestauten Fluss befreien und zu neuen Orten fließen lassen, von denen man tief in Schubladen des Unterbewusstseins ahnte. Dieser Band soll solche Pforten für den Leser öffnen.
brot und kunst verlag, Ankündigung
– Neue Gedichtbände von Şafak Sarıçiçek und Alexander Estis. –
Die jüngsten Publikationen von Alexander Estis und Şafak Sarıçiçek in den Fokus zu nehmen heißt, zwei junge Dichter zu würdigen, die – der eine als Kind, als Student der andere – ihre Herkunftsländer verlassen und ihre Zweitsprache Deutsch zur Literatursprache gemacht haben. Der angehende Heidelberger Jurist Sarıçiçek, 1992 in Istanbul geboren, veröffentlichte im vergangenen Jahr nicht weniger als drei Gedichtbände, darunter zwei in der von Jürgen Brôcan herausgegebenen edition offenes feld. Dem dritten, einem mit Graphitzeichnungen seines Bruders Deniz gestalteten Broschurband, hat Lütfiye Güzel eine Collage aus Gedicht-Splittern Sarıçiçeks vorangestellt.
Wie schon in seinem Debüt 2017 findet sich in Der gestaute und der frei fließende Fluß eine Mischung aus hellsichtig-kritischen Zeitanalysen, Liebesgedichten und Poemen mit sprachspielerischem Gestus. Wem die Trump- und Erdogan-Fratzen in der „renaissance der weltverschwörer“ mit ihrer „den himmel verdunkelnden venusfliegen / falle gigantischer kriegsmaschinerie“ zu prosaisch sind, dem gefällt vielleicht ein – ganz irdischer – „intergalaktischer einkauf bei der shopping-mall weiher“:
die kassierer tragen headphones als wären sie piloten
und würden gleich… abheben
In „wodka heidelberg“ ist das Gefühl der Absurdität des zeitgenössischen Lebensalltags schärfer benannt: da „verwest ein mensch“ in der Bahn, während er von Touristen, Kommilitonen, Menschen in blinden Haufen umströmt wird:
überall verwesen menschen
überall wird kredenzt
es riecht bestialisch,
nach absolution
Es geht immer ums große Ganze, selbst in Liebesgedichten – „das system / hat dich nun“, konstatieren die Mikroverse von „entfaltung“. Der geliebte Mensch eines anderen Textes, anwesend in Düften, „philosophinnen“ „denkerfalten“, ist aufgehoben erst in der ersehnten Zweisamkeit – „und in deiner hitze ist die freiheit von raum und zeit.“ Über das titelgebende Gedicht schreibt Sarıçiçek auf der Homepage des Brot & Kunst Verlags, es gemahne ihn an den ostanatolischen Fluß Munzur in der „kurdisch-zazaisch und alevitisch geprägten Region meiner Ahnen“:
erde tat sich auf ranken schossen in sternensysteme
wo phönixe der wunden erde schorf
und in der asche sezierte träume zu neuem leben
zum amazonas der weltanakonda werden
Die starke sprachassoziative Bewegung dieser Verse ist in den 29 durchnumerierten Gedichten des Bandes Kometen Kometen aus der Brôcan-Edition noch stärker ausgeprägt.
Ich sehe nicht, ich sehe.
Ich höre nicht, ich höre.
Horch,
Schmirgelsand am Meeresgrund.
Es ist gut so.
So beginnt das erste Gedicht, „Anemone und Amphore“. Man merkt Sarıçiçek an, mit welch kosmischer Lust er, teils unter Dehnung der Grammatik, bis in verborgene Nischen der deutschen Sprache vorstößt:
Frei und im Urtum, wo Gleißen Farbloses durchwäscht
(Neu Anfang).
Da gibt es den Kometen, der ein „galaxieverlassenes Dorf Ostanatoliens reich“ macht (Kometen Kometen), oder den Außerirdischen, der nicht weiß, „auf / welchem Planeten er war und auf welchem Mond. Oder / wie er ward, ob er überhaupt ward“ (Außerirdischer).
Sprachspiel und Witz zeigen sich auch in „Austernjagd“, einem Unterwassergedicht, dessen beschwörendes Ritornell „Dies ist kein Liebesgedicht“ letztlich in der ,Entbindung‘ von Seepferden, dem gedämpften „TAK“ und „TOK“ des Meeresbodens untergeht. Trotz gelegentlichen politsatirischen Schabernacks wie im Gedicht mit dem Titel „Ah ja, ät’z: who? A Ska“ spielt sich Sarıçiçeks Kometen-Lyrik zwischen den Personen Ich, Du und Wir ab. „Ein leerer Panzer bin ich“, heißt es – mit großen weißen Flächen um die Leere – im letzten Gedicht, „Alt“. Und in „Teilwesen“ ruft uns der Dichter wie zum Abschied zu:
Schreib Gedichte, die du musst.
Dann erst
geh in Lyrikpension.
Patrick Wilden, Ostragehege, Heft 95, 3.3.2020
Jamal Tuschick: Verirrtes Licht
textland-online.de, 8.2.2019
Slata Roschal: der gestaute und der frei fließende fluß
signaturen-magazin.de,
Marina Büttner: 2 x 2ter Lyrikband…
literaturleuchtet.de, 27.2.2019
Jan Kuhlbrodt: Alles fließt
piqd.de, 2.5.2019
Elif Dabazoğlu: Rezension: der gestaute und frei fließende Fluß
ruprecht.de, 3.5.2019
Rolf Birkholz: Kleine Abrisse
amerker.de
Jamal Tuschick im Gespräch mit Şafak Sarıçiçek: „Über Wortschätze und den Terminus technicus der Juristen“
Walter Pobaschnig Interview mit Şafak Sarıçiçek „… ob wir uns aus der Gemütlichkeit des Althergebrachten lösen können“
Verena Körber: Der Jurist und sein lyrisches Ich
Şafak Sarıçiçek liest seine Gedichte „lichtferndiagnose“ & „lichtfischen“.
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