Sarah C. Schuster: Amygdala und andere Gedichte

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Sarah C. Schuster: Amygdala und andere Gedichte

Schuster-Amygdala und andere Gedichte

AMYGDALA

Schwere, Stein, Papier
Äste, Felsen
zwischen gespreizten Fingern
gewinnt der Wind
und legt die Mandeln frei.
Die Flut schiebt mich
ins Plasma der Zeit zurück
in den nassen Badeanzug
bis auf die Knochen
der Geister, die mich riefen.

Die Mandeln sind salzig,
aber nicht mehr bitter:
Just another lesson learned.

Der Regenwald trocknet
zwischen den Stürmen
gemeinsam mit mir
treibt das Meer die Wunden
mit der Ebbe zurück
in die Mitte des Ozeans
ins weit Offene.
Die Vergangenheit ist vorbei.
Die Löwin hört nicht auf
zu jagen.

 

 

 

@sarahcschuster Sarah C. Schuster reads Amydgala and other poems: Lo, veLov,e #newpoetrycollection #reading #amygdalaandotherpoems #sarahcschuster #editionfaust #englishversion #englishtext #foryou ♬ I Am the Antichrist to You – Nu Deco Ensemble

Schonungslose Offenheit

„Ein Intellektueller ist jemand, der einfache Dinge schwierig ausdrückt, ein Künstler drückt schwierige Dinge einfach aus“, heißt es bei Charles Bukowski; ein Kerngedanke, der sich durch sein gesamtes literarisches Schaffen gezogen hat. Sarah C. Schuster hat sich mit ihrem Debütband Amygdala und andere Gedichte dieser womöglich schwierigsten Aufgabe der Schriftstellerei, wie Bukowski vor ihr, durch und durch verpflichtet. Für Schusters Dichtung gilt, was Bukowskis Gedicht „Roll the dice“ verlangt, nämlich keine halben Wege oder Abkürzungen:

if you’re going to try, go all the
way.
otherwise, don’t even start.
[…] and, you’ll do it
despite rejection and the
worst odds

Unterwegs zum Grund der Dinge, vermeiden Schusters Gedichte hermetische Gedankenspiele im luftleeren Raum, ohne auf die Potenzierung von Bedeutung durch technisches Feingefühl verzichten zu müssen. Im Gedicht „ALL IN“ begegnen wir beispielsweise den „Ideen, die immer bloß nach / vorn sprengen wollen sollen / ins Allerhöchste hinaus, / aber niemals zurück oder zurück / nach innen,“ und kommen sogleich auf den Boden der Tatsachen zurück, wenn es im Anschluss heißt:

Räum erst mal deinen Scheiß auf,
bevor du neu erfindest,
neue Lügen findest,
wenn es zu wahr wird

Die unbedingte Suche nach Wahrheit, die sich wie ein roter Faden durch den Gedichtband zieht, setzt eine schonungslose Offenheit der Wahrnehmung und des Verstehens voraus.
Sarah C. Schusters Gedichte zeugen insgesamt von einer Schwerkraft, die den Denkfehlern in täglichen Konflikten unseres Lebens auf die Schliche kommt. Die Autorin macht klar: Die Dinge sind komplex. Amygdala und andere Gedichte liest sich als gedankliches Angebot, dort nicht die Augen zu verschließen, wo die Übergänge zwischen Liebe und Angst fließend sind und die Verletzlichkeit des Menschen und der Sprache selbst bedeuten. Sie arbeitet dabei mit einer Tiefgründigkeit, die an Marc Aurels Selbstbetrachtungen erinnert.

 

Gedichte der Ent-täuschung

Die Kraft der Schwere, die Schusters Gedichte innehaben, mag wie bei Bukowski auch von persönlichen Erfahrungen geprägt sein, wie die Biografie der Autorin vermuten lässt, denn ihre Perspektive ist eine besondere Mischung, die äußerst selten anzutreffen ist. Virginia Woolf erklärte einst:

Sperren Sie Ihre Bibliotheken, wenn Sie möchten; aber es gibt kein Tor, kein Schloss, keinen Bolzen, den ihr auf die Freiheit Meines Geistes setzen könnt.

Wenn es um Ausgrenzung geht, lässt sich in Schusters Dichtung ein ähnlicher Gestus finden, der sich im Moment der Desillusionierung gleichzeitig den Staub von der Schulter klopft, aufsteht und weitergeht, wie im Gedicht „Tabula rasa“:

Der Mittelfinger der Einsicht:
Farewell, Akademie,
schieb den Riegel von innen vor –
die Sonne auf der Straße
[…] die Zukunft einen Schritt voraus

Neben Schule und Magisterstudium arbeitete Schuster seit frühester Jugend im Schichtdienst in Bäckereibetrieben. Trotz dieser schweren körperlichen Belastung hatte sie als Komparatistin und Schülerin von Prof. Dr. Werner Hamacher (✝︎) hohe philologische Ansprüche. Diese Asymmetrie zwischen Besitzenden und Besitzlosen übersetzte sich später genauso wie die Asymmetrie ihres eigenen Daseins in ihre Dichtung. Das lyrische Ich in Schusters Gedichten weiß um mehr als eine Lebenswirklichkeit und entwickelt so eine kraftvolle Stimme. Wo es auf den ersten Blick keinen Platz für Dichtung gibt, spricht diese Stimme zugunsten derer, die um 4:00 Uhr morgens ans Montageband müssen, und verleiht der Sprachlosigkeit angesichts täglicher Ungerechtigkeit Ausdruck. Trotzdem ist Sarah C. Schusters Dichtung kein politisches Manifest, obwohl es durchaus das Potenzial dazu hat.

 

Der Drang der Dichtung

Ende der 1980er Jahre, ich war 20 Jahre alt, begegnete ich Erich Fried in Oldenburg. Er saß mit ein paar meiner Freunde und mir auf dem Rasen vor der Carl von Ossietzky Universität, an die er anlässlich der Veranstaltung „Republikaner ohne Republik“ gemeinsam mit Friedensnobelpreisträger Willy Brandt und dem Zukunftsforscher Robert Jungk eingeladen worden war, um eine Rede zu halten.
1986 war Erich Fried mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte ausgezeichnet worden. Wir kämpften darum, wie seit 1971 viele andere vor uns, dass die Universität Oldenburg in Niedersachsen endlich offiziell Carl von Ossietzky Universität heißen durfte, was allerdings erst 1991 vom Niedersächsischen Landtag beschlossen werden sollte. Anlässlich der Feier zur Namensgebung entschuldigte sich der damalige Ministerpräsident Gerhard Schröder schließlich bei Carl von Ossietzkys Tochter für den beschämenden Umgang mit dem Namen und Erbe ihres Vaters.
Es waren die Gedichte Erich Frieds gewesen, die mich die Wirkkraft der Lyrik entdecken ließen und mich dazu brachten, mich in diese Kraft zu verlieben. Auf der Wiese erzählte uns Fried, wie er als junger ambitionierter Autor im Jahr 1932 Carl von Ossietzky, damals Herausgeber der Weltbühne, mit einem Theater-Artikel aufsuchte. Dieser nahm sich die Zeit, den Artikel aufmerksam zu lesen, und fragte Erich Fried, ob er nicht glaube, dass es im Moment weitaus wichtigere Dinge als das Theater gebe, über die man schreiben sollte. Auf der Wiese vor der Universität sprach Erich Fried nicht von seinem Erfolg oder dem Lob der Kritiker, sondern teilte mit uns – einer Gruppe Arbeiterkinder, junger linker Aktivisten und Gewerkschaftler – seine erste große Niederlage, um uns Mut zu machen. Wir haben verstanden, dass es nicht darauf ankommt, erfolgreich zu sein, sondern darauf, das Richtige zu tun.

Wenn ich heute die Gedichte von Sarah C. Schuster lese, bin ich mir nicht sicher, ob es nicht trotz aller politischer Dringlichkeit richtig gewesen wäre, Frieds Artikel über das Theater zu publizieren, denn totalitären Systemen, die nur unter der Voraussetzung der Entmenschlichung ganzer Gruppen funktionieren, kann man nur mit der Aufrechterhaltung eines kulturell und humanistisch ausgerichteten Bewusstseins begegnen.
Sarah C. Schusters Gedichtband Amygdala und andere Gedichte ist zugleich Implosion und Explosion an Klangfarben, die nur jemand zu Papier bringen kann, der für die Sprache und das Wissen über Literatur, sei es Lyrik, Prosa oder Drama, Grenzen überschreiten musste. Wenn es ein Multiversum gäbe, wäre es wahrscheinlich in der Dichtung Sarah C. Schusters zu finden, ohne dass sie die Naturgesetze, denen die Bedeutung und Qualität ihrer Arbeit unterliegen, außer Kraft setzt.

Michele Sciurba, Nachwort

 

 

Sarah C. Schusters Gedichtband

ist Implosion und Explosion an Klangfarben, die nur jemand zu Papier bringen kann, der für die Sprache und das Wissen über Literatur, sei es Lyrik, Prosa oder Drama, Grenzen überschreiten musste. Wenn es ein Multiversum gäbe, wäre es wahrscheinlich in der Dichtung Sarah C. Schusters zu finden, auch wenn sie dabei die Naturgesetze, denen die Bedeutung und Qualität ihrer Arbeit unterliegen, nicht außer Kraft setzt.

Der Gedichtband Amygdala und andere Gedichte überzeugt nicht nur durch einen offenen Blick, sondern auch durch vielschichtige Gedichte. Wenn ein Wort spricht, spricht immer schon ein anderes mit. In der Vorbemerkung ihres Bandes beschreibt die Autorin diese komplexe Überschneidung des Erlebens und Erinnerns wie folgt: „Wir hören auf unser Herz, sagen wir, und meinen unser Gehirn, das für uns entscheidet, ob unser Herz rast. Wenn die Schlange mir ins Hosenbein kriecht oder du mir näherkommst, schlägt es mir bis zum Hals, egal aus welchem Grund. Wer du bist und was du fühlst, bestimmt das Corpus amygdaloideum. Schmerz, Freude, Trauer, Lust, Hunger, Wut oder Furcht, wovor? Bedeutung ist gefährlich, aber unumgänglich. Amygdala findet immer ihren Weg, mit oder ohne dich, aber ohne sie wird es dunkel und die Luft immer dünner. Angst ist ein Mandelkernkomplex. Riecht es nach Gefahr oder nach Madeleines? Bevor du es weißt, hat sie sich schon erinnert und entschieden. Bevor du zusammenzuckst, hat deine Amygdala alles auf sich genommen: deine Erfahrungen, Erinnerungen, Bilder und Gefühle. Sie bewahrt sie für dich auf, auch wenn du sie vergisst. Wir tragen Mandelkerne in uns. Dieser Gedichtband ist die Geschichte von meinen.“

editionfaust, Ankündigung

 

 

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