Sarah Kirsch: Rückenwind

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Sarah Kirsch: Rückenwind

Kirsch/Wolff-Rückenwind

RÜCKENWIND

Wie er mich jagt, sein Schrei
Mich vorwärts trägt fünfundzwanzig
Windsbräute in der Sekunde
Den ganzen Tag, am Abend, und in die Nacht.
Ich komme zur Welt ich singe vor ihm
Jubel und Lachen: die Finger
Des himmlischen Kinds auf meiner Schulter.
Und hör ich die Stimme des Einen
Von großer Schönheit
Dreht sich der Gegenwind, ich fliege
Und immer zu dir
Klopfendesherz wie das Haus schwankt

 

 

 

Sarah Kirsch: Rückenwind

Allein schon aufgrund solcher sublimen, ursprünglichen Gedichte wie „Der Milchmann Schäuffele“ und „Bei den weißen Stiefmütterchen“ muß man Sarah Kirsch zu den größten Lyrikern des deutschen Sprachraums rechnen. Ihre Gedichte laden, und wie selten ist das eigentlich, zu immer wiederholter Lektüre ein und faszinieren in steigendem Maße. Um ein solches Talent konnte man die DDR ruhig beneiden. Diese hat aber, wie sich in unseren Tagen zeigt, kein Auge für solche Geschenke des Himmels: Im Widerstreit von Menschlichkeit und Parteiinteresse stand der Ausgang von vornherein fest.
Der Rezensent ist einigermaßen in Verlegenheit, wenn er aus dem vorliegenden Band zitieren will, weil sich soviel dankbare Beispiele anbieten. Mit Nachdruck meldet sich aber die entzückende Suite von elf Gedichten „Wiepersdorf“, der ein Vierzeiler mottohaft vorangestellt ist:

Hier ist das Versmaß elegisch
Das Tempus Praeteritum
Eine hübsche blaßrosa Melancholia
Durch die geschorenen Hecken gewebt

Mit hölderlinscher Diktion klingt in der friedlichen ländlichen Szene die ,Melancholia‘ an:

aaaaaaaaaaaaaaa… Was bin ich
Inzwischen umhergefahren. Und eifrig
War ich bemüht, Apollon zu fassen und gleichfalls
Ein hübsch klopfendes menschliches Herze erbeuten –
Vergebens. Deshalb
Hab ich nur mich, einen winzigen Knaben und die sich mehrende
Anzahl der Jahre und hin und wieder
Schön schwimmendes Wolkengetier

Gewalt und Krieg, Tod und Verderben tauchen aber auch in dieser Idylle auf und werden nicht ohne einen Schuß Sarkasmus registriert:

Der Mensch ist hier gut, das Geld stimmt immer:
Hier rollen nur gegen Morgen um vier
Drei Stunden Panzer vorbei und die Landschaft
Sieht am Tage verwunschen aus. Wo ein Weg war
Jetzt eine Schlucht. Schwarze Bauersfrauen auf Rädern
Rufen: es muß
Abwechslung geben.

Wo ich nach Seifenlappen frage im Konsum erfahr ich
Ein Haus und zwei Mann überfahren, es war
Eine mondlose Nacht.

Anlehnend an die historische Tatsache, daß Achim von Arnim und Bettina von Brentano viele Jahre ihrer Ehe auf dem Gut Wiepersdorf wohnten, drücken folgende Zeilen wohl auch eine Bezogenheit auf die gegebene politische Lage in der DDR aus:

Dieser Abend, Bettina, es ist
Alles beim alten. Immer
Sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben
Denen des Herzens und jenen
Des Staats. Und noch
Erschrickt unser Herz
Wenn auf der anderen Seite des Hauses
Ein Wagen zu hören ist.

Aber auch von dieser herrlichen Suite abgesehen, enthält der Gedichtband, der mit den Graphiken von Willy Wolff auf adäquate Weise illustriert wurde, noch manch entzückendes Gedicht. So darf zumindest der Einsatz von „Im Juni“ dem Leser nicht vorenthalten bleiben:

Gott mit uns! Der Herr Pastor
Sah Rübezahl ähnlich und fuhr wie der Teufel.
Überholte die vornehmsten Wagen, indem er
Sich an die Stoßstangen hängte und wild übersprang.
Weißen Haares glaubte ich die Stadt zu erreichen, da begann
Die Gegend lieblich zu werden; manche Allee
Aus Linden Kastanien, ein und der andere Weiher
Zeigten sich her; die blaue Chaussee
Ward ein buckliges hüpfendes Schlänglein.
Wie leicht mir der Mut war. Ich grüßte ein schönes
Zwiefarbnes Pferd auf der Weide, mein Kind
Zählte an fünfhundert Bäume…

Unselig das Land, in dem eine unnachahmbare Stimme schweigen mußte. Wie aber wird dieses Talent, entwurzelt, sich in der gefrorenen Freiheit des kapitalistischen Westens entfalten? Wird es gedeihen können?

Johannes Maassen, Deutsche Bücher, Heft 3, 1977

„Am Himmel ordnen sich Vögel / und nachts die Sterne.“

– Ein (un)friedliches Bilderbuch. –

Ein poetisches Bild: das ging mir
Plötzlich wie Honig ein: die Linden
Fingen zu blühn an und ich hatte gesehn
Dass die Bäume Ähnlichkeit haben mit Mädchen
Blondhaarigen, die Strähnen rötlich
Leichthin gelockt.

Ein Moment, in dem aus Bäumen Mädchen werden, in dem die Imagination eine zweite Welt erschafft, ohne die erste deswegen auszugrenzen, da sie ja der Rückenwind, dass Trampolin für diese zweite ist.
Sarah Kirschs letzter Gedichtband (von dreien) den sie in der DDR veröffentlichte, hat etwas von der Ruhe vor dem Sturm. In sich zurückgezogen verarbeitet sie in ländlichen Umgebungen die Trennung von ihrem Geliebten Christoph Meckel. Abgesehen von einer paar langen, sehr ausdrucksstarken Gedichten, enthält der Band hauptsächlich kurze Eindrucksskizzen/-märchen und Beobachtungen.

Die Fuchsroten Felder
Haben Licht vom Abendstern.
Das Uhrenherz treibt seine Zeiger vor.
Pelargonien in bunten Töpfen
Ziehn Licht auf die Dielen, es flog
Ein dunkler Vogel übers Haus.

Beinahe friedlich erscheinen diese in mattes Licht und Schatten getauchten Illuminationen, wie kleine Poesiekästchen, ausgeschnitten aus einem großen Bilderbuch, von dem nur ein schmaler Ausdruck zurückbleibt. Etwas unterbewusst Wartendes schwingt mit, eine fast kindliche und doch sehr deutliche Ahnung von den Dingen, die kommen werden oder zumindest ihre Möglichkeiten am Horizont zusammenziehen und von den Dingen, die geschehen, irgendwo zwischen Zeit und Raum.
Darin immer wieder der letztendliche Rückzug aus den Sprachlichtern in das eigene selbst, das schreibt:

Dieser Abend, Bettina, es ist
Alles beim alten. Immer
Sind wir allein wenn wir den Königen schreiben
Denen des Herzens und jenen
Des Staates.

Welch eine grandiose Formulierung für das Dichtersein und doch eigentlich gar nicht tauglich als Definition, was ein Zug alles Schönen und Eingebenden ist. Einige solcher Zeilen lassen sich finden zwischen den Fluchtmärchen, den Nebenbeierzählungen und den Gedanken an Liebe und Sehnsucht, in die Bilder versperrt:

Schnee fällt uns
Mitten ins Herz, er glüht
Auf den Aschekübeln im Hof Darling flüstert die Amsel

Deine Augen
Jagen mir das Herz auf die Zunge

Insgesamt ist Sarah Kirchs dritter Gedichtband auch heute noch eine echte Entdeckung, auch wenn ein seltsames Schicksal, noch immer nicht eingetreten, über ihm schwebt und ihn zeitlos und vergessen anmuten lässt. Man muss wirklich ganz genau hinsehen, die Hauptsachen, die Nebensachen einklappen und sich vollends auf die poetische Aussage der Gedichte, ihren inneren Zusammenhalt und Ausgangspunkt und nicht auf ihre Abfolgen konzentrieren. Dann erkennt man eher die große Leistung der genau umrahmten Zeilen und findet ihrer Tiefe einen Film, den man vor dem geistigen Auge Revue passieren lassen.

Im Himmel wurden wohl Kirchen gesprengt,
der Donner
Fraß Echo und Blitze
Fielen Poliert und Verbogen, Sturm
Kämmte das Ufer, es rieselte Ästlein,
wir sprachen:
Das will nun runter! und traten ins Haus.

Sarah Kirsch ist in ihren frühen Gedichten immer zwischen dem Land der einfachen Farben und der komplexen Gefühle hin und her gegangen und hat einiges aus beidem gemacht. Vielleicht ist dieses Werk tatsächlich der Höhepunkt dieses Versuches. Zumindest ist eine grandiose kleine Lektüre!

Timo Brandt, amazon.de, 7.12.2012

Rückenwind (1976)

Mit Rückenwind setzte Sarah Kirsch die Ansätze von Zaubersprüche fort, gleichzeitig stellte sie sich aber auch in Gegensatz zu ihnen und führte die Lyrik von Landaufenthalt weiter. Die Gedichte von Rückenwind sind zweifellos optimistischer, fröhlicher als die von Zaubersprüche. Sie sind weltoffener; die Dichterin steht der Welt und sich selbst wieder optimistischer und offener gegenüber. Bewußt hat sie, auch für eins der Liebesgedichte (S. 36), den Titel „Rückenwind“ gewählt, der Veränderung, Vorwärtsbewegung in sich enthält. Die Liebe gibt ihr diesen Rückenwind, diese vorwärtstreibende Kraft.
Formal variieren die Gedichte zwischen Zweizeilern und balladesken Langgedichten; auffällig ist gegen Ende der Sammlung die große Zahl von epigrammatischen Kurzgedichten von nicht mehr als sechs Zeilen Länge. Die Verse sind klarer, musikalischer, weniger kompliziert als früher, die Bildersprache ist einfacher und konzentrierter geworden, ohne aber in der Formulierung real geschauter Bilder an Ausdrucksnuancen einzubüßen. Der Lebenswille der Sarah Kirsch, ihre Haltung, die sich in einem fast barocken Dennoch artikuliert, kommt in bacchantischen Gedichten und trotzigen Elegien zum Ausdruck, die, dem antiken Vorbild entsprechend, wieder meist in Hexametern bzw. dem Hexameter angenäherten Daktylen geschrieben sind. So heißt es in „Wiepersdorf 1“ (S. 18) programmatisch:

Hier ist das Versmaß elegisch
Das Tempus Praeteritum
Eine hübsche blaßrosa Melancholia
Durch die geschorenen Hecken gewebt

Die Sprache bewegt sich zwischen gemessener Stilisierung und einer neuen, saloppen Diktion, die in Vokabular und Orthographie gesprochene Sprache genauso imitiert wie in der Prosa der Autorin, z.B. in folgendem Frustrationsausbruch in „Wiepersdorf 8“ (S. 26):

(…)              Zu der Zeit
Rauche ich die dunkelsten Schwaden und fluche
Du Schönhäutiger Schwacher Verfuckter
Dichselberliebender schöngraues
Schielendes Aug ach geh weck

– eine Passage, die am ehesten noch den Fluchformeln von Zaubersprüche verwandt ist. Die Ruf- und Klageformeln von Zaubersprüche sind ja nicht aufgegeben, aber nun meist gelassener, selbstbewußter, durchdachter formuliert.
Bei den meisten Gedichten der Sammlung handelt es sich um Liebesgedichte. Der erste Teil enthält darüber hinaus, in z.T. ironischem Berichtton, eine Reihe von berichtenden Gedichten über ein Dichtertreffen in Albanien („Warum die wilde sich bäumende Musik am Ohrid-See plötzlich schweigt“; S. 9ff.), ein Sommernachtsfest in Potsdam („Der Ausflug“; S. 14ff.) und den „Wiepersdorf“-Zyklus (S. 18ff.) über einen Sommerferienaufenthalt.
Am wichtigsten und für die Haltung der Kirsch zwischen Privatem und Politischem am interessantesten ist der im gleichen Jahr wie die westdeutsche Ausgabe (1977) auch separat (500 numerierte und signierte Hefte) publizierte „Wiepersdorf“-Zyklus. Wiepersdorf ist ein Schloß in der Mark Brandenburg, das für Generationen im Besitz der Familie von Arnim war, das auch Bettina von Arnim (1785–1859) bewohnte und das die DDR-Behörden zum Erholungsheim für Schriftsteller machten. Dort war auch Sarah Kirsch zu Gast, und aus diesem Anlaß kam es zur Abfassung des Zyklus. Wiepersdorf liegt in der Nähe der deutsch-deutschen Grenze, der Minengürtel ist nicht weit; im sechsten Gedicht (S. 24) heißt es:

Hier rollen nur gegen Morgen um vier
Drei Stunden Panzer vorbei und die Landschaft
Sieht am Tage verwunschen aus. Wo ein Weg war
Jetzt eine Schlucht.
[…]
Wo ich nach Seifenlappen frage im Konsum erfahr ich
Ein Haus und zwei Mann überfahren, es war
Eine mondlose Nacht.

Wegen dieser Zeilen, mit denen nicht nur die romantische Idyllik unterlaufen, sondern auch die Perfektion und Humanität des staatlichen Militärapparats in Frage gestellt wird, konnte der Zyklus nicht in der Literaturzeitschrift Sinn und Form abgedruckt werden.
Bettina von Arnim hatte, so Sarah Kirsch in dem Band Erklärung einiger Dinge (1978), „eines Tages, als sie mit dem gerade entstehenden Proletariat in Berlin in Berührung kam, ein Buch geschrieben, das die Widmung trug: ,Dies Buch gehört dem König‘, und darauf bezieht sich so manches, wenn ich sage: alles ist beim alten, man müßte dem König schreiben und so. Da ist die Regierung gemeint oder so etwas“ (S. 6). Bettina von Arnim wird im Zyklus mehrmals beschworen; sie ist für die Kirsch, ähnlich wie die Droste, eine historische Identifikationsfigur: „Bettina! Hier / Hast du mit sieben Kindern gesessen, […]“ (S. 19), und das neunte Gedicht (S. 27) lautet:

Dieser Abend, Bettina, es ist
Alles beim Alten. Immer
Sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben
Denen des Herzens und jenen
Des Staats. Und noch
Erschrickt unser Herz
Wenn auf der anderen Seite des Hauses
Ein Wagen zu hören ist.

Die Versuchung ist groß, diesen Wagen als ein Gefährt des Staatssicherheitsdienstes zu identifizieren und so das Gedicht rein politisch zu interpretieren. Dann müßte man auf die Biermann-Ausweisung und Sarah Kirschs Unterschreiben der Petition an die DDR-Regierung Bezug nehmen. Verbindungen existieren zu Bettina von Arnims Königsbuch und auch zu Christa Wolfs Interesse an Bettina, wie es in ihrem Essay „Nun ja! Das nächste Leben geht aber heute an“ zum Ausdruck kommt. Auf den „König des Herzens“ bezogen, wäre es aber natürlich auch möglich, daß das Erschrecken sich auf die unwahrscheinliche Hoffnung oder auf die Angst der Sprecherin, einer Frau, die nur ihr eigenes Leben leben möchte und sich von ihrem Liebhaber getrennt hat, bezieht, daß dieser Herzenskönig zu ihr zurückkäme. In Erklärung einiger Dinge meint Sarah Kirsch, auch die politische Interpretation sei möglich.

„… wenn wir den Königen schreiben, denen des Herzens und jenen des Staats.“ Da ist schon angesprochen, daß es nicht nur um Liebhaber geht, sondern aus dieser Ansprache an die Bettina entwickelt sich, daß man auch mit seinem eigenen König, mit seinem Staatsratsvorsitzenden oder was weiß ich, einmal reden müßte und dem auch einen Brief schreiben. Das ist ja später auch passiert. (S. 18)

Nach Ansicht der Kirsch verwandeln sich Gedichte manchmal, so daß aus einer späteren Situation heraus auch eine andere Sinngebung möglich wäre, in diesem Falle also auch eine politische. Sie will den Leser nicht völlig festlegen, sondern ihm nur kleine Anstöße geben, damit er sich in den Zeilen noch bewegen kann:

– und mehr will ich eigentlich gar nicht, als daß jemand sagt: So ähnlich ist es mir auch schon mal gegangen, das habe ich auch schon mal gedacht. So eine kleine Solidarisierung zwischen dem Schreibenden und dem Leser. (S. 13 )

Was den die persönliche Erfahrung eines Ferienaufenthalts berichtenden „Wiepersdorf“-Zyklus so interessant macht, ist u.a. auch die Verquickung von Privatem und Politischem:

Das staatliche Erholungsheim erinnert daran, daß hier der Staat der DDR das Leben des einzelnen, in diesem Fall des Schriftstellers, anscheinend perfekt organisiert, ihn mit allem versorgt. Doch läßt sich aber die private, innerste Not des einzelnen nicht staatlich regeln. Und um dieses Gegeneinander von Privatem und staatlicher Fürsorge, von Planbarem und individuellem Rest geht es. Deshalb heißt es spöttisch-ironisch im siebten Gedicht (S. 25):

[…]           da denkt sie [die Freundin Elke Erb]
An mich hier in diesem
Volkseignen Schloß wo private
Unken Kummer mir vorschrein 

Mit der Existenz dieses Privaten, dem Aufzeigen der Nöte des Individuums und damit der Existenz von unvertuschten Widersprüchen im staatlichen Anspruch ist hier Dichtung entstanden, die staatliche Kritik herausfordern mußte. Sarah Kirsch schreibt ihre Gefühle heraus, ihre Liebe und ihre Frustration, besinnt sich, hält in antikisierenden Daktylen Rückschau auf ihr Leben:

[…]           Was bin ich
Inzwischen umhergefahren. Und eifrig
War ich bemüht, Apollon zu fassen und gleichfalls
Ein hübsch klopfendes menschliches Herze erbeuten –
Vergebens. Deshalb
Hab ich nur mich, einen winzigen Knaben und die sich mehrende
Anzahl der Jahre und hin und wieder
schön schwimmendes Wolkengetier
(S. 23) 

Neben dem Privaten, dem Politischen und Historischen ist auch das Mythische gegenwärtig, zumindest in den Statuen im Park, wenn damit auch nur in Anspielungen und nicht gewichtig genug, um eine metaphysische Rolle zu spielen wie in den Zyklen Rilkes. Da steht ein „Zeus, der hielt den Blitz an der Stelle / Wo der Park mit dem Wald schläft“ (S. 19), ein Hermaphrodit, ein „Kleiner aus Marmor“ „geht im Park spazieren“ (S. 28), und in dem Gedicht „Männliches Steinbild im Park“ (S. 29) legt die Dichterin, spöttisch sich selbst ironisierend, einer Statue männliche Kritik an der Frauenemanzipation in den Mund:

Leider leider werden die Damen
Immer schnurriger. Was die nicht mehr
Können und alles vermögen! Die trennn sich
Dreimal im Leben von Diesem und Jenem, die schleppen
Nur das Nötige mit die Kinder, die Arbeit
O wie mir graut!

– wobei sich die dreimalige Trennung fast kalauerhaft in den drei nnn von „trennn sich“ spiegelt.
Trennung ist auch das Hauptthema der Liebes- oder besser: Einsamkeitsgedichte, denn der Geliebte lebt im Westen, während die Dichterin im östlichen Teil Deutschlands wohnt:

Freundbruder aus Wolfsland wir wollen
Unsere Blicke anzünden an etwas glauben

lautet das erste, titellose Gedicht des zweiten Teils der Sammlung (S. 33), und in „Datum“ (S. 35) wird die Situation der Liebenden mit der des klassischen Liebespaars Romeo und Julia verglichen:

Herzschöner wollen wir Julia und Romeo sein?
Der Umstand
Ist günstig, wir wohnen
Wohl in der gleichen Stadt, aber die Staaten
Unsere eingetragenen Staaten gebärden sich, meiner
Hält mich und hält mich er hängt so an mir wir
Könnten sehr unglücklich sein ach du sprachest
Eben noch mit mir

Vom Spätherbst mit drohendem Schneefall in einem der ersten Liebesgedichte („Die Luft riecht schon nach Schnee“; S. 12) begleiten die Gedichte die Autorin durch das ganze Jahr hindurch; sie ersehnt das Ende des Mai herbei, „weil der Freund mir / Abgetrennt ist und in fremder Welt“ („Dem Mai“; S. 38). In „Ende Mai“ (S. 41) wünscht sie den Herbst herbei:

[…]           Wenn mein Leib
Meine nicht berechenbare Seele sich aus den Stäben
Der Längen- und Breitengrade endlich befreit hat.

Viele Themen behandelt die Dichterin im Zusammenhang mit dem Sommer, der Zeit der Trennung von dem Geliebten, wobei die Trennung Deutschlands, das Politische immer nur als Zufälliges, Frustrierendes hinzukommt, das Thema der Isoliertheit, Einsamkeit jedoch im Vordergrund steht. Das genaueste Bild dafür ist das des Vogels, „Der Milan“ (S. 54), der über der geteilten Stadt Berlin schwebt:

[…]           Ein wüster Vogel
Ausgebreitet im Wind und noch arglos
Segelt in Lüften. Hat er dich
Im südlichen Auge, im nördlichen mich?
Wie wir zerrissen sind, und ganz
Nur in des Vogels Kopf.
[…] 

Auch in dieser Sammlung will keine Idyllik aufkommen. In „Im Sommer“ (S. 51), auf dem Lande in Mecklenburg, heißt es:

Wenn man hier keine Zeitung hält
Ist die Welt in Ordnung.

Mit anderen Worten: Die Welt ist nicht in Ordnung, sie scheint es nur aufgrund von mangelhaften Informationen. Entsprechend bietet sich eine politische Interpretation auch für das Haiku-ähnliche Gedicht „Ein Bauer“ (S. 47):

Ein Bauer mit schleifendem Bein
Ging über das Kohlfeld, schwenkte den Hut
Als wäre er fröhlich.

Mit anderen Worten: dieser Bauer ist in Wirklichkeit nicht fröhlich, er ist verletzt, hat keinen Grund, fröhlich zu sein. Etwa aus politischen Gründen? Die Frankfurter Rundschau vom 28.4.1977 sprach von einem „geradezu gigantischen Dreizeiler“. Bei Sarah Kirsch steht er inmitten anderer Landschaftsgedichte und ist ihrer eigenen Aussage nach einfach nur „ein ganz kleines Bild, eine Momentaufnahme, eine Skizze oder irgend etwas“. Die Versuchung ist groß, hinter ihren Gedichten immer wieder etwas Politisches zu sehen, sie partout zur systemkritischen DDR-Dichterin machen zu wollen. Deshalb sei nochmals betont, daß das Politische hier nur insofern von Wichtigkeit ist, als es die Trennung der Sprecherin von ihrem Geliebten bewirkt. An einer offenen ideologischen, weltanschaulichen Auseinandersetzung zwischen Ost und West scheint Sarah Kirsch nicht interessiert zu sein!
1976 reiste die Dichterin in den Süden. Die dabei entstandenen Gedichte sind offensichtlich eine Reflexion auf diese Reise in die Provence zur Verleihung des Petrarca-Preises. Eine Begeisterung für alles Südliche spricht aus ihnen, wie sie bei der am Reisen gehinderten DDR-Bürgerin verständlich ist. Da wird eine ganze Welt neu entdeckt, so in „Markttag“ (S. 55):

Ich sah einen Olivenhain.
Er sagte das ist ein Olivenhain.
Der Zweig auf dem Rücksitz
Nach Nyons! Nyons! Dort hängt
Eine lange türkische gestickte Musik in den Bäumen.

Akazienblätter werden erwähnt, der Mistral, Skorpione, und in „Der Süden“ (S. 58) kommt es unterm Mont Ventoux zu einer visionären Begegnung mit Petrarca und Laura, maultierreitend, eine Begegnung, die sich in dem Band La Pagerie (1980) wiederholen sollte. Zurück im Norden wird die dortige Natur mit der südlichen verglichen, die Erinnerung schwingt noch nach, so in „Einäugig“ (S. 60):

Wie Ölbäume schimmern die Weiden
Blaugrün und zitternd, die Pappeln
Ahmen Zypressen nach (dunkler
Dunkler! Vertieft eure Schatten!). Der Wind
Übt Fall und Flug seines Bruders Mistral

Und wieder dichtet die Autorin Liebesgedichte, so das „Die Überschwemmung“ (S. 63) überschriebene, das durch das Spiegelbild des Wassers mit dem fast mystischen Scheinparadox schließt:

Dein Leib bin ich, du lächelst dir zu.

Eins der schönsten Liebesgedichte, das an Brechts „Die Liebenden“ erinnert, ist „Der Meropsvogel“ (S. 37), in dem im Fliegen des sagenhaften Vogels das gleichzeitige Sich-Nähern und Sich-Entfernen Gestalt wird. Es wäre falsch, in diesen Liebesgedichten immer nur nach dem autobiographischen Hintergrund zu forschen. Liebesgedichte sind bei Sarah Kirsch zwar immer autobiographisch angeregt, sie enthalten aber immer auch Allgemeines, eine existentielle Aussage über die Situation liebender Menschen. Hier spricht sie völlig ohne Scheu ihre Gefühle und Wünsche aus.
Im Schlußgedicht „Raubvogel“ (S. 74) ist die ganze Erfahrung des Sommers, des Jahres, wie es in diesem Band dokumentiert ist, zusammengefaßt:

Raubvogel süß ist die Luft
So kreiste ich nie über Menschen und Bäumen
So stürz ich nicht noch einmal durch die Sonne
Und zieh was ich raubte ins Licht
Und flieg davon durch den Sommer!

Hans Wagener, aus Hans Wagener: Sarah Kirsch. Colloquium Verlag Berlin, 1989

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Roland H. Wiegenstein: Approbierte Hexe, Sprechstunden nach Vereinbarung
Merkur, Heft 345, Februar 1977

Rolf Michaelis: Windsbraut Hoffnung. Die trotzigen Elegien einer nicht volkseigenen Dichterin
Die Zeit, 11.3.1977

Rolf Politzer: Die weiße Zauberkunst der Sarah Kirsch
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.3.1977

Sigrid Damm: Sarah Kirsch: Rückenwind
Weimarer Beiträge, Heft 3, 1977

Peter von Becker: Das Herz auf der Zunge
Süddeutsche Zeitung, 30.3.1977

Klaus Seehafer: Rückenwind
Neue Deutsche Hefte, Heft 2, 1977

Karl Corino: Dornen unter die Haut. Die Sappho der DDR
Deutsche Zeitung / Christ und Welt, 4.3.1977

Roman Ritter: Meubeln zierlich, Verse o.k.
Deutsche Volkszeitung, 7.4.1977

Thomas Rothschild: Von wo der Wind bläst
Frankfurter Rundschau, 23.4.1977
Unter dem Titel Selten direkt: Sarah Kirsch
Basler Zeitung, 22.12.1977

Heinz Politzer: Verhohlene Leidenschaft als politische Metapher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.5.1977
Auch in: Frankfurter Anthologie. Bd. 3. Frankfurt/M. (Insel) 1978. (Zu dem Gedicht „Nachricht aus Lesbos“).

Heinz Ludwig Arnold: Gedichte aus Gelegenheiten
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 14.8.1977

Rolf Schneider: Zwischen Aufgang und Untergang
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.12.1977
Auch in: Frankfurter Anthologie. Bd. 3. Frankfurt/M. (Insel) 1978. (Zu dem Gedicht „Im Juni“).

Harald Weinrich: Langsam gelesen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.5.1978
Auch in: Frankfurter Anthologie. Bd, 4. Frankfurt/M. (Insel) 1979. (Zu dem Gedicht „Einäugig“).

Sybille Demmer: „Schnee fällt uns / Mitten ins Herz“. Naturbildlichkeit und Liebeserlebnis in Sarah Kirschs Gedicht „Die Luft riecht schon nach Schnee“
Walter Hinck (Hg.): Gedichte und Interpretationen. Bd. 6. Stuttgart (Reclam) 1982. (= Reclams Universal-Bibliothek 7895)

Jürgen Haupt: Natur und Lyrik. Naturbeziehungen im 20. Jahrhundert. Stuttgart (Metzler) 1983. (Zu den Gedichten „Im Sommer“ aus Rückenwind und „Schöner See Wasseraug“ aus Landaufenthalt),

Ulrich Eisenbeiß: Zeitgenössische Liebeslyrik
Gerhard Köpf (Hg.): Neun Kapitel Lyrik. Paderborn (Schöningh) 1984. (Zu dem Gedicht „Die Luft riecht schon nach Schnee“)

Horst Bienek, Horst: Liebe und Schnee
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.3.1984
Auch in: Frankfurter Anthologie. Bd. 9. Frankfurt/M. (Insel) 1985. (Zu dem Gedicht „Die Luft riecht schon nach Schnee“)

Timo Brandt: Sarah Kirschs frühe Lyrik 1967–1976
babelsprech.org, 22.2.2014

 

Die Lust ,Ich‘ zu sagen

– Versuch über die Lyrik der Sarah Kirsch. –

DIE ÜBERSCHWEMMUNG

Schwarze Spiegel Doppel-Landschaften Spielkartenschönheit
Die Wolke grüßt ihren Zwilling, der Himmel ein Kreis.
Ein Stamm, zwei Kronen jeder Baum.

Dein Leib bin ich, du lächelst dir zu.1

In Stichworten wird Landschaft skizziert; ohne Schwierigkeiten kann der Leser sich ,ein Bild machen‘. Dem Angeschauten gibt der Dichter neue Bedeutung, besser, überhaupt erst Bedeutung. Dichten als sinnstiftender Akt, ein Akt der Freiheit, durchaus auch eine herrscherliche Geste. Die überschwemmte Landschaft – Regenpfützen, in denen sich Himmel, Wolke und Baum spiegeln – wird zum Symbol für die Einheit der Liebenden. Ein uraltes poetisches Verfahren: das Vermögen, im Alltäglichen ,unerhörte‘ Beziehungen zu stiften und Bedeutungen herzustellen, das dem Leser oder Hörer obiger Zeilen auf beglückende Weise einleuchtet, eine freudig zustimmende Reaktion bewirkt, in der Art von „Ah ja, sehr schön“.
Die Ordnung unseres kleinen Textes leuchtet gleichfalls ein. Drei Zeilen Landschaftsskizze, abgesetzte vierte Zeile, die ,Deutung‘ stiftet:

Dein Leib bin ich, du lächelst dir zu.

Es gibt keinen Reim, wie fast nie bei Sarah Kirsch, kein Metrum, keinen Rhythmus. Das ist bei anderen Gedichten Kirschs anders. Ein Versmaß stellt sich zuweilen ganz unverhofft ein, und von einem eigentümlichen Rhythmus leben viele ihrer Gedichte wesentlich mit. Das Fehlen von Interpunktionszeichen, dort wo die Grammatik ihnen zu stehen befiehlt, fällt auf. Auch das ist häufig bei Kirschs Texten, die der Grammatik gerne ein Schnippchen schlagen und dem Leser zusätzliche Aufmerksamkeit, Tätigkeit abverlangen, weil er lesend zuweilen selber die Ordnung im Text herstellen muß, wobei die regelfrei gesetzten und weggelassenen Satzzeichen Signale des Dichters sind, ebenso wie die Einteilung des Textes in Zeilen, die oft sich keineswegs vom Textinhalt ergeben, wie es hier der Fall ist.
Beglückungen, wie „Dein Leib bin ich, du lächelst dir zu“ gibt Sarah Kirsch oft. So die durch ,als ob‘ gestiftete Bedeutung von Spiegeln, die nichts zeigen, von leeren Spiegeln, die von der Abwesenheit des Geliebten sprechen.

DIE SPIEGEL

Leere Spiegel im Haus.
Niemands schönes Gesicht. Wolken
Ziehen darin. Die sanften die grauen die
Unheimlich blitzzerschlagenen. Als ob er
Im Krieg ist.
2

Das Motiv der ,leeren Spiegel‘ kehrt am Schluß eines der schönsten Gedichte Kirschs wieder, „Der Milan“ „(…) und die Sonne / In tausend Spiegeln ist ein furchtbarer Anblick allein“.3

DER MILAN

Donner; die roten Flammen
Machen viel Schönheit. Die nadligen Bäume
Fliegen am ganzen Körper. Ein wüster Vogel
Ausgebreitet im Wind und noch arglos
Segelt in Lüften. Hat er dich
Im südlichen Auge, im nördlichen mich?
Wie wir zerrissen sind, und ganz
Nur in des Vogels Kopf. „Warum
Bin ich dein Diener nicht ich könnte
Dann bei dir sein.“ In diesem elektrischen Sommer
Denkt keiner an sich und die Sonne
In tausend Spiegeln ist ein furchtbarer Anblick allein.

Beglückung des Einverständnisses mag der Leser auch empfinden, wenn ein Thema signalisiert, nicht ausgesprochen wird: ,Die wartende Liebende.‘

STILL STÜRZEN WÄNDE EIN

Still stürzen Wände ein, der Apfelbaum fällt
mit roten Früchten ins Gras.
Auf verbeulten Rädern jagen
Kinder die Felder ab und die Postfrau
Wäscht ihre Hände in Unschuld.
4

Es gibt in den Gedichten der Sarah Kirsch viele vertraute Themen die man in einer ersten Annäherung losgelöst von Zeit, Ort und bestimmten Personen aufnehmen kann; ,allgemein menschliche Themen‘ hat man früher gesagt. Vertraut, weil die Zustände, die sie aussprechen, vertraut, altvertraut sind: conditiones humanae vitae. Das Vertraute wird auf besondere Weise neu gesagt. Das erfreut.
Nehmen wir das Gedicht, dessen Überschrift dem Band den Titel gegeben hat „Rückenwind“: ,Die Liebende über ihre Liebe.‘

RÜCKENWIND

Wie er mich jagt, sein Schrei
Mich vorwärts trägt fünfundzwanzig
Windsbräute in der Sekunde
Den ganzen Tag, am Abend, und in die Nacht.
Ich komme zur Welt ich singe vor ihm
Jubel und Lachen: die Finger
Des himmlischen Kinds auf meiner Schulter.
Und hör ich die Stimme des Einen
Von großer Schönheit
Dreht sich der Gegenwind, ich fliege
Und immer zu ihm
Klopfendesherz wie das Haus schwankt
5

Oder ein altes, zumindest seit Didos Klagen altehrwürdiges Sujet: ,Die von der Liebe Geschlagene.‘

DAS WALDSANATORIUM

Nicht mehr hoffen und klagen. Auf dem Rücken
Liegen wie ausgestopft, verstarrte Augen.
Erinnerungskino: als wir
Langsam in einem Mantel gehen und fliegen.
Die Ohren für andres ertaubt
Erinnern den einzigen Klang deiner Stimme
Das Gedächtnis erschafft dich in deiner Bewegung.
Du winkst mich
Mit einem Lidschlag dir hin. Grauköpfig
Durchsegelt die Krähe den Augen-Blick.
6

Rückenwind, den bisher letzten Gedichtband der Sarah Kirsch, darf man mit gutem Fug und Recht einen west-östlichen Divan nennen. Divan, also Liedersammlung. Zusammenstellung von Liebesgedichten; „westöstlich“, hier ganz einfach, präzis, konkret: weil die Liebende in der DDR, der Geliebte in West-Berlin lebt. Eine archetypische Situation – Liebende, durch höhere Gewalt getrennt – ist konkret aktualisiert im Hier und Heute: ,Liebe im geteilten Deutschland.‘
Das Motto zum zweiten Teil der Gedichtsammlung schon sagt es; knapp und sehr schön:

Freundbruder aus Wolfsland wir wollen
Unsere Blicke anzünden an etwas glauben.
7

„Wolfsland“, das Land, in dem der Mensch dem Menschen ein Wolf ist – homo homini lupus est, so der böse Hobbes – der Kapitalismus, so definiert von seinen Gegnern, zu denen die überzeugte Sozialistin Sarah Kirsch durchaus zu zählen ist. „Freundbruder“ ist der Geliebte genannt; Wahl- und Blutsverwandtschaft wird hergestellt und die Hoffnung der Liebe beschworen

Wir wollen
Unsere Blicke anzünden an etwas glauben

Soviel in zwei Zeilen, die übrigens durch kein einziges Interpunktionszeichen gegliedert sind. Gliedern, ordnen, das soll der Leser selbst tun, der durch solche herausgereizte Aktivität ein wenig, ein klein wenig zum Mit-Dichter gemacht wird.
,Liebe im geteilten Deutschland‘ – sehr konkret mit Datum und Hinweis auf den Ort, Hochhaus in Berlin, in dem Sarah Kirsch wohnte – und in einem werbendes Beschwören der Zauberkraft der Liebe.

DATUM

Der kam am 28. Februar, stellte
Sich mir vors Fenster in einem Bärenfell sagte
O wie mir schwindelt. An diese Höhe
Könnte ich dich gewöhnen, Schöner
lerne mich tragen und ich
Mache mich leicht. Auch soll dir dafür
Manches Wunder passieren: mein Haar
Wird dir durch die Finger wachsen dein Mund
Der Abdruck des meinen du hörst mich fortan
Wenn ich nicht da bin. Sprichst meinen Namen
Hin in die Winde: alles gelingt.
Herzschöner wollen wir Julia und Romeo sein?
Der Umstand
Ist günstig, wir wohnen
Wohl in der gleichen Stadt, aber die Staaten
Unsere eingetragenen Staaten gebärden sich, meiner
Hält mich und hält mich er hängt so an mir wir
Könnten sehr unglücklich sein ach du sprachest
Eben noch mit mir
8

Die Klage, „wie wir zerrissen sind“,9 daß „der Freund mir / abgetrennt ist und in fremder Welt“10 ist ein Leitmotiv in diesem west-östlichen Divan. Ein Text, der sich als ,Erzählgedicht‘ oder, wie ein Autor und Literaturkritiker aus der DDR sagt, als „tagebuchartiges Briefgedicht“ präsentiert11 – Fahrt auf die Insel Rügen – mündet in Klage und beruft zugleich Glaube und das biblische Beispiel der Beständigkeit.

aaaaaaaaaa(…) Der Pastor
Sagte, was glauben bedeutet, so fuhrn wir
Hin auf die Insel, wo Caspar David
Einst in die Kreide gestiegen war. In grüner
Dann blauer Farbe lag nun das Meer
Mit Muscheln und zitterndem See-Stern zu Füßen.
Ich saß auf einem Wegstein und sah
Die dunkle, die weggleitende Sonne, dich
Auf der anderen Seite der Welt. Ich schlief
Und fror die ganze Nacht. Der Pastor aus Dranske
Las in der Schrift von Jakob und Rahel.
12

Vor 15 Jahren hat Christa Wolf einen Roman veröffentlicht, in dem von einer Liebe erzählt wird, die an der politischen Konstellation zerbricht. Die Liebenden finden sich wieder diesseits und jenseits der Mauer, und zwar örtlich und politisch-weltanschaulich. Der geteilte Himmel ist in der DDR und mit einiger Verspätung auch in der Bundesrepublik sehr bekannt geworden; es gibt auch einen Film von Konrad Wolf. Der Titel ist symbolisch gemeint. Erklärt wird er im Abschiedsgespräch der Liebenden.

Früher suchten sich Liebespaare vor der Trennung einen Stern, an dem sich abends ihre Blicke treffen konnten. Was sollen wir uns suchen? „Den Himmel wenigstens können sie nicht zerteilen“, sagte Manfred spöttisch.
Den Himmel? Dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer? „Doch“, sagte sie leise. „Der Himmel teilt sich zuallererst.“
13

Sarah Kirsch zitiert den symbolischen Titel des Romans der Christa Wolf; sie knüpft an ihn an und beschreibt den Versuch einer Gegenbewegung. Zeigte Wolf den Prozeß der Teilung des Himmels der Liebenden, so geht, 15 Jahre später, Sarah Kirsch von der Teilung aus und will Vereinigung des Getrennten.

Meine Worte gehorchen mir nicht
Meine Worte gehorchen mir nicht
Kaum hör ich sie wieder mein Himmel
Dehnt sich will deinen erreichen
Bald wird er zerspringen ich atme
Schon kleine Züge mein Herzschlag
Ist siebenfach geworden schickt unaufhörlich
Und kaum verschlüsselte Botschaften aus
14

Für den unbefangenen Leser haben Sarah Kirschs Gedichte einen Reiz, der für den philologisch Geschulten ein Problem darstellt: sie wirken und werden genossen als persönliche Aussagen. Es spricht die liebende Frau; ihre sehr verschiedenen Zustände präsentieren sich in schöner Sprache. Die autobiographische Substanz ist deutlich; nicht wegzuinterpretieren. Das ,lyrische Ich‘ und das autobiographische fallen weitgehend zusammen. Lesegewohnheiten werden korrigiert. Kindisch wäre es, wollte der Interpret, z.B. in der mit Wiepersdorf betitelten Textfolge, mit ,lyrischem Ich‘ operieren. Es ist auf altmodische Weise viel einfacher. Sarah Kirsch macht im Schriftsteller-Heim auf dem ehemaligen Gut der Achim und Bettina von Arnim, geb. Bettina Brentano Ferien, und die Texte sagen, was in ihr vorgeht. Sie sagen es sehr kunstvoll, aber „kaum verschlüsselt“.15

(…) Im Irrgarten steht
Jelängerjelieber und duftet herauf.
Hier trink ich das Tränklein Vergessen, hier spiel ich
Die Herrin der Bilder und Meubeln bis dann
Nach Tagen das Leben im praktischen Hochhaus
Mich wieder nimmt, in dem ich wie vorher
Bin, nur ein Name im Heidenkalender verstrichen
16

Ehrwürdiges schönes Haus
Mit dem zwiefachen Dach – doppelt
Allein bin ich da und dem Wetter, dem hellen
Dem knatternden Hagel, so mildern Mond
Ausgesetzt. Ach ich gedenke
Der rührenden Zeit, als fast eines Bruders
Zärtliche Hand mich morgens geweckt hat und fröhlich
Ein Tag der Zwilling des vorigen war. Was bin ich
Inzwischen umhergefahren. Und eifrig
War ich bemüht, Apollon zu fassen und gleichfalls
Ein hübsch klopfendes menschliches Herze erbeuten –
Vergebens. Deshalb
Hab ich nur mich, einen winzigen Knaben und die sich mehrende
Anzahl der Jahre und hin und wieder
Schön schwimmendes Wolkengetier.
17

Der Dichter ist indiskret. „Dichter ist umsonst verschwiegen / Dichten selbst ist schon Verrat“, so heißt es in Goethes West-östlichem Divan.18 Man darf das getrost steigern. Der Dichter ist schamlos. Schamlosigkeit aber rechtfertigt sich durch Schönheit; und das heißt hier, daß treffend gesagt wird, was gemeinhin kaum sagbar ist.

Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide
.19
Sehr persönlich, in die Intimität eindringend und also ,indiskret‘, ist auch Sarah Kirschs Berufung von Dichtern der Vergangenheit. Wie selbstverständlich ist Intimität da.

DER DROSTE WÜRDE ICH GERN WASSER REICHEN
Für Helga

Der Droste würde ich gern Wasser reichen
In alte Spiegel mit ihr sehen, Vögel
Nennen, wir richten unsere Brillen
Auf Felder und Holunderbüsche, gehn
Glucksend übers Moor, der Kiebitz balzt
Ach, würd ich sagen, Ihr Lewin –
Schnaubt nicht schon ein Pferd?

Die Locke etwas leichter – und wir laufen
Den Kiesweg, ich die Spätgeborne
Hätte mit Skandalen aufgewartet – am Spinett
Das kostbar in der Halle steht
Spielen wir vierhändig Reiterlieder oder
Das Verbotne von Villon
Der Mond geht auf – wir sind allein

Der Gärtner zeigt uns Angelwerfen
Bis Lewin in seiner Kutsche ankommt
Schenkt uns Zeitungsfahnen, Schnäpse
Gießen wir in unsre Kehlen, lesen
Beide lieben wir den Kühnen, seine Augen
Sind wie grüne Schattenteiche, wir verstehen
Uns jetzt gründlich auf das Handwerk Fischen
20

Im Wiepersdorf-Zyklus wird Bettina Brentano in ein schwesterliches Gespräch genommen. Sie, die alte Hausherrin, bei der die „ Spätgeborne“ zu Gast ist.

(…) ich dachte bloß noch: Bettina! Hier
Hast du mit sieben Kindern gesessen, und wenn
Landregen abging
Muß es genauso geklappert haben Ende Mai
Auf die frischaufgespannten Blätter – ich sollte
Mal an den König schreiben.
21

„An den König schreiben“: Bettina von Arnim, geb. Brentano, hat das mehrfach getan. Die romantische Dichterin war zugleich eine sozial und politisch engagierte Frau. Sie hat das Elend der kleinen Leute auf dem Land und in der Großstadt Berlin gekannt und genau geschildert und zahlreiche Vorschläge zur Verbesserung der Zustände gemacht. Sie hat sich für politisch Verfolgte eingesetzt.22 Das Motiv „An den König schreiben“ wird wiederaufgenommen und als doppelsinnig vorgezeigt: dem Geliebten schreiben, dem politisch Mächtigen schreiben.

Dieser Abend, Bettina, es ist
Alles beim alten. Immer
Sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben
Denen des Herzens und jenen
Des Staats. Und noch
Erschrickt unser Herz
Wenn auf der anderen Seite des Hauses
Ein Wagen zu hören ist.
23

Und doppelsinnig ist dann auch der letzte Satz: Der Wagen, der den Geliebten bringt und der Wagen, in dem die Abgesandten der Macht kommen, etwa gar die politische Polizei. Sarah Kirsch hat, darauf angesprochen, den Doppelsinn zugegeben –; beim Schreiben freilich habe sie nicht daran gedacht. „Aber“, so sagt sie rückblickend, „es ist eine Situation eingetreten, wo ich auch in der Art und Weise auf ein Auto gehört habe und es auch so ein Auto gab.“24
„An den König schreiben.“ Unwillkürlich denkt der Leser heute an den offenen Brief, in dem über hundert Schriftsteller und Künstler in der DDR gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestierten, den Brief, den Sarah Kirsch mit unterzeichnet und der ihr Leben verändert hat. Aber – das Gedicht ist zeitlich früher.
„Sarah Kirsch ist eine Hexe“, so hat es Urs Widmer in seiner Preisrede gesagt.25 Sie selbst hat diesen Satz vorgegeben.
Zaubersprüche hat sie ihren vorletzten Gedichtband genannt und erklärt:

Ich hoffe, daß Hexen, gäbe es sie, diese Gedichte als Fachliteratur nutzen könnten.26
Was ist das für eine Hexerei, die da geübt und zu der angereizt wird? „Traurige Tage“ heißt ein Gedicht aus dem 1967 veröffentlichen Gedichtband Landaufenthalt. Ein Gedicht, das sich wie eine Hommage an Else Lasker-Schüler ausnimmt.

Ich bin ein Tiger im Regen
Wasser scheitelt mir das Fell
Tropfen tropfen in die Augen

Ich schlurfe langsam, schleudre die Pfoten
die Friedrichstraße entlang
und bin im Regen abgebrannt

(…)
Ich fauche mir die Straße leer
und setz mich unter ehrliche Möwen

Die sehen alle nach links in die Spree

Und wenn ich gewaltiger Tiger heule
verstehn sie: ich meine es müßte hier
noch andere Tiger geben
27

Hier ist, recht einfach greifbar, die Lust, die Einbildungskraft in Tätigkeit zu setzen, Verwandlung auszuprobieren, die Alltäglichkeit mit der ,inneren Welt des ich‘, mit Sehnsucht und Phantasterei zu überdecken; – in späteren Gedichten wäre zu sagen, sie mit ihr zu verschmelzen. Freilich wissen wir, daß ,innen‘ und ,außen‘ keine Ordnungen sind, die man auf lyrische Texte anwenden soll. Das Gedicht ist seine eigene Welt und der Dichter ist frei, sie aufzubauen aus Elementen verschiedenster Herkunft. Das gehört zur Freiheit der Poesie und macht den Dichter, wenn er nur will, zum Verwandlungskünstler, zum Magier. Eben diese Freiheit nutzt Sarah Kirsch mit wachsender Entschiedenheit, wie überhaupt ,Radikalisierung‘ das Merkmal ihrer ,Entwicklung‘ ist. Wichtig aber: der poetische Prozeß bleibt einsehbar, und so ist der Leser eingeladen, ihn mitzuvollziehen. Sarah Kirschs Lyrik ist ein Gegenpol zu hermetischer Poesie. Die Welt ihres Gedichtes ist offen; sie erlaubt Teilhabe, d.h. auch Teilhabe an der Freiheit, die Grenzen der alltäglichen Vernünftigkeit aufzuheben, zu spielen: sich zu bekennen zu den unbrauchbaren Sehnsüchten, zu den verrückten Wünschen, zu den törichten Hoffnungen usf.

Ich tanze Seil überm Meer von Felsen zu Felsen.28

Sarah Kirsch liebt die Welt des Märchens und der Sagen, wo die Rationalität noch nicht/nicht mehr dominiert.

SCHNEELIED

Um den Berg um den Berg
fliegen sieben Raben
das werden meine Brüder sein
die sich verwandelt haben

Sie waren so aufs Essen versessen
sie haben ihre Schwester vergessen
sie flogen weg die Goldkuh schlachten
ach wie sie lachten

Eh sie zur Sonne gekommen sind
waren sie blind

Mein Haus ich blas die Lichter aus
bevor ich schlafen geh
kann ich die schwarzen Federn sehn
im weißen gefrorenen Schnee
29

Die Liebenden sind weniger verschlossen als gemeine Leut; auch im Gedicht reden sie leichter mit Tier, Pflanze und Ding und diese mit ihnen.

BEI DEN WEISSEN STIEFMÜTTERCHEN

Bei den weißen Stiefmütterchen
im Park wie ers mir auftrug
stehe ich unter der Weide
ungekämmte Alte blattlos
siehst du sagt sie er kommt nicht

Ach sage ich er hat sich den Fuß gebrochen
eine Gräte verschluckt, eine Straße
wurde plötzlich verlegt oder
er kann seiner Frau nicht entkommen
viele Dinge hindern uns Menschen

Die Weide wiegt sich und knarrt
kann auch sein er ist schon tot
sah blaß aus als er dich untern Mantel küßte
kann sein Weide kann sein
so wollen wir hoffen er liebt mich nicht mehr
30

Eine Liebesklage endet so:

Du Schnee, sag ich, weiße Federtiere, Reimwort auf Weh
du bist Lava, kochender Stahl verglichen mit ihm
Tau ihn auf. Er magert mich ab.
31

Die Hexerei der Sarah Kirsch ist auch zum Mit- und Nachmachen bestimmt. Wenn man will, es ist eine Hexerei zum Hausgebrauch für Menschenkinder – ganz besonders für weibliche Menschenkinder, eine sehr menschen- und besonders frauenfreundliche Kunst, die da geübt und zu der angereizt wird.
Zauber hat von alters her besonders zu tun mit Liebeszauber – so auch Kirschs Zaubersprüche. ,Einladung zur Liebe‘ würde der Interpret einen Text überschreiben, den die Autorin einfach „Anziehung“ nennt.

ANZIEHUNG

Nebel zieht auf, das Wetter schlägt um. Der Mond versammelt Wolken im Kreis. Das Eis auf dem See hat Risse und reibt sich. Komm über den See.32

Beschwörung, Bann versucht ein anderes, „Rufformel“ betiteltes Gedicht.

RUFFORMEL

Phöbus rotkrachende Wolkenwand
Schwimm
Ihm unters Lid vermenge dich
Mit meinen Haaren
Binden ihn daß er nicht weiß
Ob Montag ob Freitag ist und
Welches Jahrhundert ob er Ovid
Gelesen oder gesehen hat ob ich
Sein Löffel seine Frau bin oder
Nur so ein Wolkentier
Quer übern Himmel
33

Weitere Titel lauten „Fluchformel“, „Ruf- und Fluchformel“.34
„Klagruf“ heißt ein anderes Gedicht, in dem die verlassene Geliebte spricht.

KLAGRUF

Weh mein schneeweißer Traber
Mit den Steinkohlenaugen
Der perlendurchflochtenen Mähne
Den sehr weichen Nüstern
Den schöngewaltigen Schatten
Ging durch! Lief
Drei Abende weiter war nicht zu bewegen
Heimzukehren. Nahm das Heu nicht
Wahllos fraß er die Spreu
Ich dachte ich sterbe so fror ich
35

Das Wichtigste, was Sarah Kirsch bislang geschrieben hat, sind Liebesgedichte. Sie hat sich in ihrer Poesie als große Liebende vorgezeigt, mit wachsender Offenheit und Direktheit, und mit immer größerer Sprachkunst. Dazu gehört Mut – und das macht Mut, Mut ,ich‘ zu sagen. Mut also zur eigenen problematischen Individualität, mit ihren Beschädigungen und ihrer undeutlichen Utopie.
Man kann den thomistischen Lehrsatz zitieren: „Individuum est ineffabile“ – das Individuum ist unaussagbar, nie ,restlos‘ ins Wort zu bringen. Goethe hat den Satz in einem Brief an Lavater berufen und gesagt, er leite daraus „eine Welt“ ab.36 Der Dichter kann ,mehr‘ sagen als andere, und gerade deshalb deuten seine Worte auf das Unsägliche, auf das nicht berechenbare und nicht aufrechenbare Geheimnis der Individualität. Das letzte Gedicht der Zaubersprüche heißt Ich.

ICH

Meine Haarspitzen schwimmen im Rotwein, mein Herz
Sprang – ein Ei im kochenden Wasser – urplötzlich
Auf und es fiel, sprang wieder, ich dachte
Wo du nun wärest, da flogen die Schwäne dieses
Und auch des anderen Spreearms schnell übern Himmel.
Das Morgenrot, das dezemberliche, Bote
Vielleicht frühen Schnees, hüllte sie ein und die Hälse
Verlockung, sich zu verknoten, sie stießen
Fast mit der Kirche zusammen. Ich stand
Auf eigenen Füßen, Proleten unter den Gliedern, ich hätte
Mir gern einen Bärn aufgeladen ein Zopf aufgebunden
Ein Pulverfaß aufm Feuer gehabt
.37

Und damit sind wir wieder beim Beginn unserer Betrachtungen, beim west-östlichen Divan, zu dem dieses letzte Gedicht der Zaubersprüche die Brücke bildet.
Wir haben bislang lyrische Texte vorgestellt und über sie gesprochen, wobei wir nicht den Fachkollegen, sondern den uns lieberen Adressaten, den Dilettanten im Auge hatten. Dilettant, das ist der Liebhaber. Wir haben viel ausgespart, den gesamten Kontext: persönliche Biographie und Geschichte der Schriftstellerin Sarah Kirsch, das literarische Leben in der DDR und ihr Platz darin. Wir haben nichts gesagt über die Gesellschaft, an die sich ihre Dichtung zuerst wendet, über die Aufnahme ihrer Texte usf. Stichwortartig sei jetzt einiges mehr angedeutet als ausgeführt. Die Vita von Ingrid Bernstein, so der Geburtsname, ist zunächst ein DDR-typischer Lebenslauf, in ,aufsteigender Linie‘. 1935 geboren im Südharz, Facharbeiterkind, nach 1945 höhere Schule, Abitur, danach Arbeit in einer Fabrik, dann Biologiestudium und Examen, Arbeit in ihrem Beruf. Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei. Die Literaturlaufbahn ist noch mehr DDR-typisch und so in der Bundesrepublik Deutschland nicht möglich. Seit 1960 trägt sie vor und veröffentlicht lyrische Texte in diversen Zeitschriften und Anthologien unter dem Vornamen-Pseudonym Sarah. Die Wahl des Namens ist antirassistisch philosemitisch gemeint. 1963 erhält sie ein Stipendium zum 2jährigen Studium am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig – der, wenn man so will, ,Dichterschule‘ der DDR. Danach wird sie freie Schriftstellerin; – ein Schritt, der in der DDR leichter ist als in der BRD. Schon vorher hatte sie den Dichter-Kommilitonen Rainer Kirsch geheiratet. Zusammen mit ihm macht sie 1964 einen Text- und Bildband über das Deutschlandtreffen der Jugend in Ost-Berlin; – ein durchaus DDR- und SED-,frommes‘ Buch, im leichten Plauderton gut geschrieben mit schönen Fotos. Das Buch hat den sprechenden Titel Berlin – Sonnenseite –.38 Als Gegensatz ist angedeutet: West-Berlin, das ist ,Berlin Schattenseite‘. Ein Jahr später publiziert sie, ebenfalls zusammen mit ihrem Mann, den ersten Gedichtband Gespräch mit dem Saurier.39 Daneben Hörspiele für Kinder.40 Sarah Kirsch ist Mitherausgeberin der als Solidaritätsaktion konzipierten Anthologie Vietnam in dieser Stunde.41 Das ist eine großangelegte und kostbar ausgestattete künstlerische Dokumentation, 1966 erschienen, künstlerische und literarische Beiträge von zahlreichen Autoren aus aller Welt vereinend:

Die geistige Elite der Welt protestiert gegen den Völkermord in Vietnam.

Sarah Kirsch hat sich intensiv mit Übersetzung und Nachdichtung russischer Poesie befaßt. Anna Achmatowa, Blok, Bagrickij und andere hat sie übertragen.42 Die Übersetzerarbeit ist wesentlich auch Arbeit an der Formung der eigenen lyrischen Sprache, die sich der Begegnung mit fremdsprachiger moderner Dichtung mit verdankt. Für Kirsch wie für viele Schriftsteller der DDR ist Erich Arendt der große Vermittler latein-amerikanischer und spanischer Dichtung gewesen. Seine Bedeutung für die jüngeren Lyriker in der DDR ist außerordentlich groß. Sarah Kirsch hat ihn übrigens – respektvoll – zitiert als „Der alte Dichter“.43

Der alte Dichter war da
Er erzählte vom Thunfischfang wenn
Die übermanngroßen Tiere.
Ins Netz getrieben werden wie sie toben
Der Leitfisch bringt alle und die Schuppen
Glänzen wie rostfreier Stahl
Er aß Kirschkuchen
Hatte die Welt im Blick
Sicher erinnerte er sich
Wie die Nacht da schmeckte
Seine Augen warn blauer als sonst
Und ich hörte die Fischer singen
Die dem Thun Haken in die Köpfe schlagen
Einige Handbreit vom Auge
Einmal sagte er haben die großen Tiere
Einen Mann fast aus dem Boot gehoben
Die Boote waren tiefschwarz
Und acht Meter lang.

Zaubersprüche, S. 36 Nachhaltig beeindruckt wurde sie, wie auch andere Lyriker der DDR, von Rafael Alberti, auch von Ezra Pound, Carlos Williams, Pablo Neruda; – überhaupt von vielen Lyrikern, die in Enzensbergers Museum der modernen Poesie versammelt sind. Von den Dichtern aus der DDR ist Johannes Bobrowski der wichtigste. Sie hat ihm einen schönen Epitaph geschrieben.44

Geh unter schöne Sonne, stirb
weniger kunstvoll, Haus zerfall
zögert nicht: mein grauer Delphin
ist hin zu anderer Küste geschwommen
Gestern noch
blies er Meer vor sich her, schwamm
voller Kunst, peitschte das Wasser
nun bleibt er fort, heißt es, unsere Küste
salzverkrustet und leer
verlor ihren Delphin. Niemand
weiß da einen Ausweg

Eine Schlehe im Mund komme ich übers Feld
sie rollt auf der Zunge stößt Zähne an wenn ich geh
mein Kopf eine Schelle klappert und macht
einen traurigen Mund
aaaaaaaaaaaaaaaaaameiner mit einer Schlehe
deiner Sand schon und Kieselstein
ich drüber du drunter
Ebereschen blutrot samtrot liegts auf dem Weg
Drosseln freßt freßt
den Herbst lang euch Vogelfett an Von den deutschsprachigen Lyrikern der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit seien noch Ingeborg Bachmann, Günter Eich und Else Lasker-Schüler genannt. 1973 hat Sarah Kirsch zwei Prosaarbeiten sehr verschiedener Art veröffentlicht. Die Pantherfrau. Fünf unfrisierte Erzählungen aus dem Cassettenrecorder und Die ungeheuren bergehohen Wellen auf See.45 Das eine ist Dokumentarliteratur: Frauen erzählen ihr Leben. Der Einfluß Erika Runges – Bottroper Protokolle – ist deutlich. Kirsch hat, so sagt sie, nur wenig in die Texte eingegriffen. Am Schluß jedes Berichtes versucht sie das Wesentliche mit aus dem Zusammenhang gelösten Wörtern der berichtenden Frauen zusammenzufassen; was auf recht suggestive Weise gelingt. Auf diese, für die DDR damals noch ungewöhnliche Dokumentarliteratur hat es unterschiedliche, durchaus positive Reaktionen gegeben. K. Jarmatz, ein Literaturwissenschaftler, meint:

Unsere Literatur wird experimentierfreudiger (…). Diese hier angewandte Methode ist eine Möglichkeit, Zipfel neuer Wirklichkeit zu entdecken.46

Die ungeheuren bergehohen Wellen auf See sind eher phantastische Erzählungen. Ganz Ungewöhnliches wird distanziert, ,neutral‘ berichtet, als sei es das ganz Normale – ein literarisches Verfahren, das Verfremdung des Alltäglichen und Einübung in Möglichkeitsdenken intendiert.
Sarah Kirsch selbst rückt ihre Prosaarbeiten deutlich in die zweite Reihe. Die Geschichten aus dem Cassettenrecorder seien „eigentlich journalistische Arbeiten“. Über Die ungeheuren bergehohen Wellen auf See sprechend, gesteht sie:

Wobei ich mir bei der Prosa noch nicht ganz sicher bin. Ich weiß noch nicht genau, wie ich das machen muß. Es sind wirklich Versuche.47

Wer jetzt und hier über Sarah Kirsch, über die Lyrikerin Sarah Kirsch spricht, der hält sich an drei schmale Gedichtbändchen – wie wir es auch getan haben: Landaufenthalt, Zaubersprüche, Rückenwind; alle in der DDR und in der BRD erschienen, zwischen 1967 und 1977.48 Was davor liegt, darf der berufene Dilettant, der Liebhaber schöner Texte, vergessen, genauer, unbeachtet lassen. Der Philologe aber ist gehalten zu vergleichen, auf daß er eine Entwicklung der poetischen Sprache aufzeigen möge. Es fällt ihm in diesem Falle schwer. Die lyrischen Anfänge der Sarah Kirsch sind meist freundliche, um Drolligkeit bemühte Verse, oft von aufgesetzter Kindlichkeit: durchaus sympathisch, aber – nehmt alles nur in allem – ebenso harmlos.
Diese Texte lesend wandelt den Referenten eine Angstvorstellung an: Er stellt sich vor, er wäre Mitglied einer Jury eines Lyrikpreises für junge Talente gewesen, so um 1960 herum. Hätte er der Sarah Kirsch einen Preis gegeben, wenigstens einen Förderpreis? Er fürchtet nein – und was hätte er sich noch nicht zehn Jahre später geschämt.
Sagen wir es diplomatisch: Sarah Kirsch hat einen weiten Weg zurückgelegt. Besser: sie hat viel gearbeitet. Ihre literarische Entwicklung, so wie sie aus den gedruckten Texten ablesbar ist – das ist eine wichtige Einschränkung, ich kenne nur Gedrucktes – ist nicht in einer Linie nachzuzeichnen. Man muß von Sprüngen reden, die man konstatieren, aber nicht recht erklären kann.
Ich weiß allerdings zwei Faktoren zu nennen, denen sich Eigenart und poetischer Rang von Sarah Kirschs Lyrik wesentlich mit verdankt. Das ist die heftige, ja leidenschaftliche Aneignung der vielsprachigen Welt der literarisch-poetischen Moderne, deren Rezeption in der DDR verspätet, aber deshalb um so intensiver erfolgt ist. Ohne diesen, für die Dichtung der DDR sehr wichtigen, aber von der bundesrepublikanischen Literaturwissenschaft kaum zur Kenntnis genommenen Vorgang ist auch die Sprache der Sarah Kirsch nicht denkbar. Wir haben vorhin Namen genannt. Der zweite Faktor ist nicht mehr DDR-typisch, sondern, wenn man es so sagen will, Sarah Kirsch spezifisch. Es ist der große Mut und die Radikalität, mit denen sie sich selbst, das eigene ,ich‘ in das dichterische Sprechen eingebracht hat.
Sarah Kirsch ist in der literarischen Kritik in der DDR viel getadelt, ja gescholten worden. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre gab es in der Kultur- und Literaturpolitik der DDR Verlautbarungen, Richtlinien und vielfältige konkrete Maßnahmen, die den ,sozialistischen Realismus‘ in dogmatischer Enge als verpflichtende Norm für die Arbeit von Schriftstellern und Künstlern festzuschreiben unternahmen. ,Modernismus‘ und ,Exzentrizität‘ wurden Kirsch vorgeworfen.49 In den Jahren zwischen 1967 und 1971 hatte sie kaum Aussicht zu publizieren. Einer ihrer Interpreten in der DDR spricht von „gestörter beziehungsweise eingeschränkter Beziehung zum Publikum“ und von der „Gefahr des Verstummens“. Er findet „die Spuren jener Jahre“ in Gedichten wie den 1968 bzw. 1969 geschriebenen „Schneehütte“ und „Schneeröschen“.50

Schneehecke türmt sich wächst stündlich
Keiner kommt durch ich befinde mich abgeschnitten
Weg sind die Wege kein Mensch
Schlägt sich durch nur du kannst mich retten

oder an eine Zeile aus „Schneehütte“ wie
Dies Leben schafft keiner allein zu viel Niederschlag. Von der „zermürbenden Härte der Auseinandersetzungen auf diesem Felde der Literatur“, gemeint ist die Lyrik, ist die Rede.51
1969, auf dem 6. Schriftstellerkongreß wurde Kirschs Gedicht „Schwarze Bohnen“ als ein Beispiel für viele nachdrücklich gerügt. Gefühle der Melancholie und der Trauer kenne jeder, „aber gestaltenswert […] ist erst ihre Überwindung, das erst macht uns zu sozialistischen Poeten“.52 Vier Jahre später wurde auf dem 7. Schriftstellerkongreß das gleiche Gedicht als Beispiel für die begrüßenswerte „Vielfalt unserer Poesie“ gerühmt.53

Nachmittags nehme ich ein Buch in die Hand
Nachmittags lege ich ein Buch aus der Hand
Nachmittags fällt mir ein es gibt Krieg
Nachmittags vergesse ich jedweden Krieg
Nachmittags mahle ich Kaffee
Nachmittags setze ich den zermahlenen Kaffee
Rückwärts zusammen schöne
Schwarze Bohnen
Nachmittags ziehe ich mich aus mich an
Erst schminke dann wasche ich mich
Singe bin stumm
Zwischen den beiden Kongressen liegt der Einschnitt 1971, der 8. Parteitag der SED mit dem Wechsel von Ulbricht zu Honecker, der eine Liberalisierung und partiell eine Neuorientierung in der Kulturpolitik brachte.
Das heißt nicht, daß es keine grobschlächtige, auf „Totschlag“ zielende Kritik mehr gab. Die gab es durchaus. Die Literaturkritiker der DDR sind in der überwiegenden Mehrzahl konservativ und nicht sehr beweglich – und wenig inspiriert vom Geist der Literatur und Poesie, was übrigens von bedeutenden Autoren der DDR wiederholt beklagt worden ist.54 Zu den Zaubersprüchen sagt ein Kritiker:

Eindeutig muß das Gedicht sein… Und Neues will ich sehen! Von den nicht direkt politischen oder weltanschaulichen Gedichten wünsche ich mir, daß sie lebensbejahend sind, daß sie positive Wirklichkeitsbeziehungen erkennen lassen, daß in ihnen Sinnesfreude sind und vergnüglicher Spaß am Phantastischen.55

Aber solche Töne haben nicht dominiert. Es wurde ausführliche Gegenrede gehalten, und zwar von bekannten Autoren, man darf sagen, von Autoritäten. Adolf Endler und Franz Fühmann haben rühmende Plädoyers für Sarah Kirschs Dichtung geschrieben. Die erschienen an herausragender Stelle, in Sinn und Form, der Zeitschrift der Akademie der Künste.56
Zur Zeit ihrer poetischen Anfänge hatte Sarah Kirsch 1964 den Kunstpreis der Stadt Halle erhalten und 1965, zusammen mit ihrem damaligen Ehemann Rainer Kirsch, die Erich-Weinert-Medaille. Nach dem Erscheinen der Zaubersprüche, 1973, erhielt sie den begehrten Heinrich-Heine-Preis für Lyrik, den das Ministerium für Kultur vergibt. Sie wurde „mit einem großzügigen Stipendium vom Schriftstellerverband der DDR“57 versorgt; – auch in der DDR kann man von schmalen Lyrikbändchen nur schlecht leben. Sarah Kirsch war in der DDR zwar nicht unbestritten, aber weithin, und auch offiziell anerkannt als eine „große Lyrikerin“; – die ,Poetessa‘ zu Hause geliebt und weltweit vorzeigbar.58
Sarah Kirsch hat die Biermann-Petition mit unterschrieben – ein Akt der Solidarität, der bei einer Frau ihrer Haltung und ihres Mutes zwar nicht selbstverständlich, aber konsequent erscheint. Sie wurde danach aus der Mitgliederliste der SED gestrichen und aus dem Berliner Bezirksvorstand des Schriftstellerverbandes ausgeschlossen und hatte Anfeindungen verschiedenster, auch persönlich diffamierender Art, zu erdulden.59 Den Versuchen, sie zum Widerruf zu bewegen, hat sie widerstanden. Aber sie hat fürchten müssen, dem, was da möglicherweise noch auf sie zukam,60 nervlich nicht standzuhalten, und so beantragte sie für sich und ihren kleinen Sohn die Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft und übersiedelte im August 1977 nach West-Berlin.
Ihr Weggang hat in der DDR Betroffenheit ausgelöst. Seyppel hat ihr einen offenen Brief nachgesandt:

Zwischenmenschliche Beziehungen – das Klieren von politischen Schweinereien an Deiner Hochhauswohntür – machen Dir das Leben unmöglich. Deine private Lebenssphäre wird Dir vergällt (…). Dein Ruhm in der DDR war kurz, heftig, begrenzt, Dein Name wird bleiben.61

Rüde Töne, wie bei den meisten anderen „Fällen“, waren nicht zu hören. Und, ein Ereignis ohne Parallele: Nach Kirschs ,Übersiedelung‘ ist in der DDR eine Neuauflage der Zaubersprüche erschienen. Die Lyrik Sarah Kirschs zähle zu den „besten Kunstleistungen unserer Literatur“, sagte der Literaturhistoriker Hans Kaufmann in einem in Sinn und Form veröffentlichten Vortrag.62 Für den Leser nimmt sich das etwa so aus: Auch wenn sie nicht mehr bei uns lebt, gehört sie doch zu uns.
1975 hatte Endler lakonisch – und richtig – festgestellt:

Eines aber ist sicher: Sarah Kirsch ist heute die im In- wie im Ausland bekannteste Lyrikerin der DDR.63

In der Tat, in der Bundesrepublik, die hier für „Ausland“ steht, ist Sarah Kirsch längst vor dem Biermann-Eklat und ihrer Übersiedlung anerkannt und belobt gewesen. 1976 hat sie, zusammen mit Ernst Meister, den Petrarca-Preis erhalten.
Sarah Kirsch ist eine besonders gute Repräsentantin einer Entwicklung, die alle unsere Aufmerksamkeit verdient. Es ist die Entwicklung hin zu ,einer‘ deutschen Literaturlandschaft, an der die Autoren aus der DDR auf ihre sehr besondere Art teilhaben.

Heinrich Mohr, in Lothar Jordan, Axel Marquardt, Winfried Woesler (Hrsg.): Lyrik – Von allen Seiten. Gedichte und Aufsätze des ersten Lyrikertreffens in Münster. S. Fischer Verlag, 1981

Andrea Marggraf: Ein Besuch bei Sarah Kirsch

Von Sein, Schein und Bedenken

– Sarah Kirsch, die sich nicht scheut, sich als Dichterin zu bezeichnen, wobei sie ihre Schreibarbeit als erlernbares und immer wieder neu zu erprobendes Handwerk betrachtet, ist in literarischer Hinsicht eine ferne Verwandte von Ingeborg Bachmann und der Droste-Hülshoff. Ihre sonntägliche Dichterlesung im Hechtplatz-Theater, veranstaltet vom Literaturpodium der Stadt Zürich unter dem Motto „Weltliteratur aus erster Hand“ gab Zeugnis von einem schöpferischen Ausdruckswillen, der mit den Widersprüchlichkeiten von Sein, Schein und Bedeuten ringt. –

Dichten ist für Sarah Kirsch konkrete Arbeit, und konkret sind ihre Texte, bei denen nicht viel zwischen den Zeilen gedeutelt werden muss, weil das Gemeinte klar beim Wort genommen werden kann. Ta-Redaktor Christoph Kuhn gab eine kurze Einführung und nannte ein paar biographische Daten. Sarah Kirsch, 1935 in Limlingerode im Harz geboren, studierte Biologie, bevor sie sich um einen Studienplatz am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig bewarb. Sie arbeitete in verschiedenen Betrieben, darunter in einer LPG. Neben Reportagen, Uebersetzungen, kurzen Erzählungen und einem Kinderbuch hat sie sich vor allem auf das Gedicht konzentriert. 1973 erhielt die DDR-Autorin den Heinrich-Heine-Preis und 1976 den Petrarca-Preis. Im Herbst 1976 gehörte sie zu den Unterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. In der Folge geriet sie in Konflikt mit der Kulturpolitik der DDR, und im Sommer 1977 erhielt sie die beantragte Ausreisegenehmigung für West-Berlin.
Ihre Lesung umfasste eine Auswahl, aus den Gedicht-Zyklen Landaufenthalt, Zaubersprüche und Rückenwind. Ihr Themenfundus greift Privates und Politisches gleichermassen auf, wobei die erlebte Gegenwart stets Ausgangspunkt ist. Mit festen Schritten durchmisst sie die Traumlandschaften ihrer Vorstellung und verankert sie in dem unsentimentalen Bewusstsein ihrer Eigenständigkeit. Höchst kunstvoll ist der sprachliche Rhythmus, den sie ganz unprätentiös zum Schwingen bringt. Ihre Gedichte wirken oft ein wenig atemlos, und der Verzicht auf Interpunktionen bekräftigt diese individuelle sprachliche Durchatmung des Textes. Die Idylle der Jüterborgschen und Wiepersdorfer Landschaft wird aus der literarischen Folie, die an Bettina von Arnim gemahnt, sanft und behutsam geschält, um mit der spontan empfundenen Gegenwart zu einem Bild verschmolzen zu werden.

Vor Stunden noch enge im Hochhaus
In der verletzenden viereckigen Gegend, nun
Das – ich dachte bloss noch: Bettina! Hier
Hast du mit sieben Kindern gesessen, und wenn
Landregen abging
Muss es genauso geklappert haben Ende Mai
Auf die frisch aufgespannten Blätter – ich sollte
Mal an den König schreiben.

Auf einer Vortragsfahrt nach der Insel Rügen formten sich schlichte Zeilen, naiv wie absichtsvoll, mutwillig verspielt und entschieden ernsthaft. Aus Rom, wo Sarah Kirsch ein Jahr in der Villa Massimo verbringen durfte, brachte sie Gedichte voll lockerer Sprachrhythmik mit. In den entworfenen Gegenbildern soll sich die Phantasie des Lesers nach den Anweisungen des Vergleichs entfernen, um sich in eine andere Landschaft zu begeben und eine neue Perspektive für das Gewohnte zu finden.

K. P., Neue Zürcher Nachrichten, 13.11.1979

 

Sarah Kirsch – Natur im gesprungenen Spiegel der Utopie

Mischbildungen
Es gibt eine romantische Tradition der Naturbildlichkeit, die innersubjektive Vorgänge im literarischen Bild versinnlicht. Bisweilen scheint Sarah Kirsch dieser Tradition zu folgen.
64 Doch in ihren Gedichten bewahren die äußeren Phänomene ihre Autonomie gegenüber dem lyrischen Bewußtsein. In der widersprüchlichen Einheit des Bildes kommen Naturmetaphorik und vorliterarische Naturwahrnehmung so zusammen, daß im Hinblick auf die Bildstruktur von Mischbildung65 gesprochen werden kann.
Der Begriff der Mischbildung ist der Traumdeutung Sigmund Freuds entlehnt. Freud spricht von ,Mischbildungen‘ oder synonym von ,Verdichtungen‘, wenn durch die Traumarbeit Tagesreste unterschiedlichen Ursprungs miteinander und darüberhinaus mit Symbolen des Unbewußten kontaminiert werden. Jedes Element des Trauminhalts, so argumentiert er, ist „überdeterminiert“, d.h. es bezieht sich auf mehrere Schnittpunkte des Traumgedankens. Die einzelne Mischbildung entsteht also aus der Fügung verschiedenster, an sich disparater und verschiedenen Reflexionsmomenten angehörender Elemente zu einer neuen Einheit.
66
Ein analoger Verdichtungsprozeß liegt den meisten Naturbildern Sarah Kirschs zugrunde. Unterschiedliche Gesichtspunkte bestimmen ihren Aufbau sowie ihre Funktion im Gedicht. Diese These soll im folgenden an einem Gedicht aus Rückenwind erläutert werden. 

DIE LUFT RIECHT SCHON NACH SCHNEE

Die Luft riecht schon nach Schnee, mein Geliebter
Trägt langes Haar, ach der Winter, der Winter der uns
Eng zusammenwirft steht vor der Tür, kommt
Mit dem Windhundgespann. Eisblumen
Streut er ans Fenster, die Kohlen glühen im Herd, und
Du Schönster Schneeweißer legst mir deinen Kopf in den S
choß
Ich sage das ist
Der Schlitten der nicht mehr hält, Schnee fällt uns
Mitten ins Herz, er glüht
Auf den Aschekübeln im Hof Darling flüstert die Amsel (
R, S. 12)67

Betrachtet man die Entfaltung des Wintermotivs genauer, so zeigt sich die polymorphe Struktur der Mischbildung. Zunächst dienen die Epitheta des Winters der Situationsbeschreibung. Im Verlauf der Verse machen sie einen Funktionswandel durch. Die Darstellung der äußeren Umstände, der Winterstimmung, geht nun vollständig in der metaphorischen Präsentation der Liebesbeziehung auf. Äußere Realität und intersubjektive Verhältnisse werden mit denselben Worten erfaßt. Der Bereich, dem die Bildlichkeit entstammt (Natur), bleibt unverändert; der Bedeutungsraum, den das Naturbild erschließt, vollzieht dagegen kaum merklich eine Metamorphose. Anfangs auf reale Naturvorgänge bezogen, bezeichnen die Naturbilder in den letzten Zeilen die Vorgänge zwischen den Liebenden. So lassen sich spezifische strukturbildende Zuordnungen vernehmen: Windhundgespann/Schlitten – Schnee im Herz/Schnee auf den Aschekübeln – Kohlen glühen im Herd/Schnee glüht im Herz, auf den Aschekübeln.
Mit der Umwertung des Naturbildes kommt eine Dialektik natürlicher und sozialer Phänomene zum Ausdruck, die bereits in der Personifikation des Winters in den ersten Zeilen angelegt ist. Die formale Übermacht der Naturmotive entspricht der inhaltlichen Darstellung von Subjekt-Objekt-Verhältnissen in dem Gedicht: Diese verkehren sich im Fortgang der Verse. Die subjektbezogene, zwischenmenschliche Situation (Geborgenheit und Wärme im Innenraum im Unterschied zu der Winterkälte „vor der Tür“) wird gleichsam aufgesogen von der Naturmacht. Die Menschen werden zu Objekten der Naturgewalt. Diese gewinnt – formal und inhaltlich – die Herrschaft über deren Verhalten. Die äußere Kälte schlägt nach innen („ins Herz“) durch. Die Mitwirkung des Winters beim Zustandekommen der Nähe hat etwas Gewaltsames. Der Winter, der die Liebenden „zusammenwirft“, entfremdet sie auch voneinander („das ist / Der Schlitten der nicht mehr hält“). Sie sind nicht frei in ihrer Liebe. Die Liebe ist kein Akt eines subjektiven Willens, sondern ein Naturzwang. Damit erscheint das zwischenmenschliche Geschehen zum Fatum degradiert.
Aufgrund der formalen Bildstruktur ergibt sich auf diese Weise eine Deutung, bei der das Naturbild als Medium der Reflexion und Kritik einer Liebesbeziehung fungiert.68 Dehnt man allerdings die Perspektive auf den Werkkontext aus, so zeigt sich, daß diese Interpretation nur eine von mehreren möglichen ist. Bewußt hält Sarah Kirsch ihre Gedichte offen für ein möglichst vielschichtiges Verstehen.69 Dementsprechend überlagert auch hier ein zweiter, ebensogut bildkonstituierender Strang den eben vorgestellten: Die Naturmacht ,Winter‘ bildet nicht nur die negative Ausprägung eines entfremdeten gesellschaftlichen Daseins ab, sondern ebensosehr drängt sie auf dessen Gegenteil, nämlich die utopische Freiheit.
Die bisher skizzierte Deutung entspringt einer realistischen Betrachtungsweise. Diese unterstellt der bildhaften Gleichordnung von Mensch und Natur eine kritische Intention in dem Sinne, daß durch die Verschmelzung von sozialem und natürlichem Bereich eine Desubjektivierung des zwischenmenschlichen Geschehens zum Ausdruck gebracht und angeklagt werden soll.
Die Perspektive läßt sich jedoch umkehren. Der sprachliche Aufbau des Gedichts zeigt eine charakteristische Tendenz zur Grenzauflösung: Die ersten Zeilen erwecken noch den – wie sich herausstellt, trügerischen – Eindruck von Wärme und.Geborgenheit. Der Winter bleibt „vor der Tür“. Innen- und Außenraum sind deutlich voneinander geschieden. Der zwischenmenschliche Bereich wird dem „Innen“, die Naturvorgänge werden dem „Außen“ zugeordnet. Bis hierhin verbleibt die Bildkomposition in den Grenzen rationallogischer Wirklichkeitsdarstellung. Mit den letzten Zeilen verflüssigen sich die so gesetzten Schranken. Der Rhythmus der Verse wird atemloser, die gliedernde Interpunktion entfällt weitgehend, Innen und Außen werden ununterscheidbar: So läßt z.B. die Syntax die Frage unbeantwortet, ob der Schnee „im Herz“ oder auf „den Aschekübeln im Hof“ „glüht“.
Auf der manifesten Bildebene ist es das Natursubjekt, die Personifikation des Winters, das die zunächst gesetzten Grenzen aufsprengt. Im subjektivierten Bild der Natur wird damit eine Macht versinnlicht, deren Freiheit nicht durch rational-logische Begrenzungen eingeschränkt ist. Was der realistischen Perspektive zunächst als Bedrohung erscheint – die Gewalt einer subjektivierten, anthropomorphen Natur –, offenbart in der Ambiguität der Mischbildung befreiende Qualitäten. Die ästhetische Mischbildung integriert so ein dialektisches Modell von Be- und Entgrenzung, sie fusioniert gleichsam die Extreme gesellschaftlicher Erfahrung.
Diese Doppelung der Bildbedeutung entspricht der zentralen Rolle, die dem Motiv des Winters in den Gedichten Sarah Kirschs zukommt. Auffällig viele Gedichte umkreisen diesen Motivbereich. Die Autorin greift damit zurück auf eine naturmetaphorische Tradition, die im Bild der verschiedenen Jahreszeiten die Schnittpunkte äußerer (objektiver) und innerer (subjektiver) Spannungen fixiert hat.
Für jede der Jahreszeiten hat sich ein fester Bedeutungskomplex herausgebildet. Dies hat seinen Ursprung in der elementaren Naturverwiesenheit des Menschen; noch im Zeitalter der Klimaanlagen und winterlichen Urlaubsflüge in den sonnigen Süden prägen sich nationale Mentalitäten gemäß der klimatischen Umgebung aus, und weiterhin spricht die Alltagsmetaphorik von Wintertraurigkeit und politischem Tauwetter, vom Konjunkturfrühling und vom Lebensherbst. So abgedroschen die Jahreszeitenmetaphorik demnach geworden sein mag, für Sarah Kirsch bewahrt sie deswegen ihre Gültigkeit, weil sie mit Ambivalenzen spielt.
Der Winter, so erklärte die Lyrikerin einmal auf eine Publikumsfrage hin,70 habe für sie eine doppelte Bedeutung: Es ist die Zeit, wo Schnee und Eis das natürliche Wachstum unterbrechen und die Kälte frieren macht. Der Winter ist die Zeit der Einsamkeit und Dunkelheit. Man hält sich vornehmlich im Hause auf und wartet auf die ersten Sonnenstrahlen und das erste Grün des Frühlings. In diesem Sinne ist ,Winter‘ zu einem Kürzel für bedrückende, harte und entfremdete gesellschaftliche Zustände geworden.
Zugleich aber, so Sarah Kirsch weiter, ist die kalte Jahreszeit auch Zeit der Besinnung, des Nachdenkens und produktiven Alleinseins. Ist der Sommer Inbegriff des Erlebens und der neuen Wahrnehmungen, so kommt man im Winter zur Ruhe und hat Zeit, die Vielfalt der Eindrücke zu verarbeiten. Weite, scheinbar unberührte Schneelandschaften, klare Luft, beschauliche Winterabende (womöglich am ,Herd‘ oder am offenen Kamin) vermitteln eine Stimmung wohliger Melancholie, wo sich Sehnsucht und Geborgenheit in der Schwebe halten.
Diese zweite Bedeutung läßt sich für den Städter nur selten realisieren. Die Gedichte Sarah Kirschs, in denen sich beide Aspekte teils durchdringen, teils voneinander getrennt erscheinen, deuten darauf hin, wie stark die Lyrikerin zwischen Stadt und Land, unmittelbarer Naturanschauung und Reflexion gesellschaftlicher Phänomene pendelt.
Die Bildlichkeit läßt sich kaum auf eine kohärente Verweisungsstruktur festlegen. Während z.B. das Gedicht mit dem Titel „Winter“ (L, S. 72/73) die kalte Jahreszeit mit durchweg positiven Affekten besetzt, setzen andere Gedichte den Akzent genau umgekehrt. Werden dort Einsamkeit und Melancholie beschrieben als Möglichkeiten der Selbst- und Umwelterfahrung, als Basis, von der aus Gegenwart und Geschichte überschaubar sind, so schlägt dieselbe Grundstimmung etwa in „Breughel-Bild“ (L, S. 21) in Hoffnungslosigkeit um.
Insbesondere wo politische Implikationen offenkundig werden, hält sich Sarah Kirsch an den landläufigen Assoziationsrahmen der Wintermotive. Insgesamt aber fehlt ihren Gedichten die große politische Geste. Gedichte wie etwa das „Hirtenlied“ (L, S. 17) bleiben Ausnahmen, die im Kontext späterer Gedichte eher unbeholfen und falsch pathetisch wirken.
Charakteristisch für die Autorin sind demgegenüber Gedichte, die sich einer zu gradlinigen Deutung verweigern. In ihnen schwankt die Bedeutung eines Wortes oder Bildkomplexes zwischen entgegengesetzten Polen bzw. ist mehrfach überdeterminiert. Die Janusgesichtigkeit der Wintermotive verdeutlicht, daß fast jedes Naturbild Sarah Kirschs verschiedene Wurzeln hat. Diese können, wie in vielen Wintergedichten, innerhalb eines ,realistischen‘ Darstellungsfeldes verbleiben und nur einer graduellen Verschiebung unterliegen. Sie können aber auch – wie z.B. in „Die Luft riecht schon nach Schnee“ – einem Sphärenwechsel entspringen, einer Verflechtung naturalistischer und surrealer Bildkomponenten.
Diese letzte Möglichkeit erst entspricht im strengen Sinne dem, was die Psychoanalyse Mischbildung genannt hat. Franz Fühmann hat im Hinblick auf die Dichtung Sarah Kirschs die Formel dafür geliefert. Den Widersprüchen des Lebens sich zu stellen, so schreibt er, heißt bei Sarah Kirsch, „das Leben des Widerspruchs immer wieder erneuern“.71

Die entfesselte Subjektivität

Es zeigt sich: Rückhaltlose Subjektivität kann zum Maß werden für das, was wir (ungenau, glaube ich) ,objektive Wirklichkeit‘ nennen – allerdings nur dann, wenn das Subjekt nicht auf leere Selbstbespiegelung angewiesen ist sondern aktiven Umgang mit gesellschaftlichen Prozessen hat. Das Subjekt treibt sich selbst heraus, wenn es dazu beitragen kann, aus den gegebenen Verhältnissen das Äußerste herauszuholen. Es wird in sich zurückgetrieben, wenn es auf entfremdete destruktive Strukturen, auf unüberwindliche Tabus in entscheidenden Bereichen stößt.72

Es ist verblüffend, in welchem Maße sich diese allgemeine Erkenntnis Christa Wolfs für die Lyrik Sarah Kirschs realisieren läßt. Franz Fühmann hat in seinem Essay über die Zaubersprüche insbesondere auf den Mut zu einem Ich-Ausdruck hingewiesen, der bis an die Grenzen des guten Geschmacks zu gehen scheint:73 Etliche Gedichte nicht nur dieses Bandes beginnen mit der Nennung der 1. Person Singular, eines, bezeichnenderweise das Schlußgedicht der Zaubersprüche, erhebt das Ich sogar zum Titel.
Wenn Fühmann in diesem Zusammenhang von „rigorosester Subjektsetzung“ spricht, so ist dem hinzuzufügen, daß die Setzung des Subjekts innerhalb eines sozialen Feldes erfolgt. Die Bildung der Ich-Identität geht in den Gedichten Sarah Kirschs immer über die Entdeckung anderer Menschen, der Umwelt und der Traditionen, an die sich das Ich unweigerlich gekettet weiß. Die Subjektivität ist konstitutiv auf Objektivität verwiesen. Sigrid Damm weist dieses Grundschema im sukzessiven Aufbau des Zauberspruch-Bandes nach: 

Viele Gedichte des zweiten Teils bekennen sich zu einer ganz subjektiven Sicht, immer wieder bricht die Klage um das Verlassensein durch und bestimmt die Weltsicht, am stärksten in den beiden Moskau-Gedichten, in denen es zur Grundhaltung wird. Wie stark ,Ich-Gewinn und Weltgewinn‘ (Maurer) einander bedingen, ist spürbar, und nicht zufällig stehen die Gedichte (in denen eine Reise in die Sowjetunion festgehalten ist – S. V.) im Mittelteil: im folgenden, dem dritten Teil, löst sich die Erstarrung der ,Sieben Häute‘.74

Dieser radikal subjektive Impuls bleibt der Struktur des Einzelgedichts keineswegs äußerlich. Vielmehr betrifft er auch die einzelnen Bildelemente. So scheut sich die Lyrikerin nicht, ihr ,objektives‘ Wissen geringer zu achten als die Bildungen ihrer Phantasie. Die Grenzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit werden in ihren Gedichten fließend, und reale Wahrnehmung und Traumbild gehen in der Metaphorik eine Symbiose ein:

Das Phantastische in Sarah Kirschs Dichtung dient immer einem tieferen Erfassen der Wirklichkeit: In realistischen Versen erzählt sie phantastische Dinge, in phantastischen realistische.75

Die Naturbilder Sarah Kirschs zeigen eine eigentümliche Affinität zu der bunten Welt der Märchen und Mythen. Die Natur erscheint als Lebensraum vielschichtig schimmernder Gestalten: Empirische Gesetze verlieren ihre Gültigkeit, statt ihrer herrschen Hexen und geheimnisvolle Zauberwesen.
Inmitten der auf aufklärerische Traditionen zurückblickenden Kulturgesellschaft der DDR – die sich im übrigen in dieser Hinsicht nicht von der Bundesrepublik und anderen Industriestaaten unterscheidet – insistiert Sarah Kirsch auf den irrationalen bis antirationalen Momenten, die sich in der Naturempfindung allem Naturwissen zum Trotz bewahren. Einem sinnenfeindlichen, technologisch und zweckrational bestimmten Naturbegriff setzt sie eine sinnlich-erotische Naturpoesie entgegen. Während die moderne Naturwissenschaft von einer ,objektiven‘, sich dem Menschen gegenständlich präsentierenden Natur ausgeht, forciert die Lyrikerin deren subjektive, anthropomorphe und vorwissenschaftlich-entelechetische Seinsbestimmung.
Sie nähert sich darin dem Umfeld einer ,naturmagischen‘ Lyrik, ohne daß ihr allerdings der Bezug zur Lebenswirklichkeit, zur Präponderanz der gesellschaftlichen Probleme verloren geht. Gegenstand ihrer Gedichte ist weniger die Natur selbst als vielmehr eine spezifische – individuelle und gesellschaftliche – Erfahrung. Die Gedichte bewegen sich in den Zwischenräumen von Realitäts- und Lustprinzip, gesellschaftlicher bzw. persönlicher Enttäuschung und utopischer Erwartung. Die Naturbilder messen in diesem Zusammenhang die Zwischenwelten von Realität und Irrealität aus, sie sind sinnliche Medien der Phantasie. Was über die Struktur der poetischen ,Mischbildungen‘ gesagt worden ist, hat hier seinen funktionalen Ort: Unmittelbare Naturanschauung, „dingnahe Anschaulichkeit, nachprüfbar“,76 und autobiographische Faktizität gehören ebenso zum Radius der dargestellten Welt wie das erträumte, imaginierte und bildhaft antizipierte ,Andere‘.
Jegliche Naturmetaphorik hat einen mythischen Kern – die Kongruenz von Natürlichem und Sozialem ist ihrem Wesen nach vorrational. Und wie der Mythos, so steht auch die Metapher in grundsätzlicher Opposition zu aufklärerischen Intentionen, da sie mimetische Impulse an die Stelle begrifflicher Ratio setzt. Aufklärungskritik hat – wie die Aufklärung selbst – ein Janusgesicht: Birgt sie einerseits die Gefahr, dem „fortschreitenden Denken“ die mythische Unausweichlichkeit, die reaktionäre Vorstellungen der „Wiederkehr des Immergleichen“ entgegenzuhalten,77 so bewahrt sie andererseits die kollektive Erinnerung an den utopischen Gehalt der Archetypen, jener „tabuierten Urbilder der Freiheit“,78 die das aufgeklärte Denken zugunsten des Realitätsprinzips, das eines der Unterwerfung von Mensch und Natur ist, verwirft.
Sarah Kirschs Gedichte, die nach dem Wunsch der Autorin „Hexen, gäbe es sie, (…) als Fachliteratur nutzen“79 sollen, vergegenwärtigen diesen Zwiespalt. Das menschliche Subjekt tritt nicht als Antipode einer objektiven Natur auf, sondern diese ist ihm unmittelbares Lebenselement und als solches wesensgleich. Die Phantasie, von der Herbert Marcuse sagt, daß sie die „Verbindung zwischen den tiefsten Schichten des Unbewußten und den höchsten Hervorbringungen des Bewußtseins“80 herstellt, nivelliert die Unterschiede zwischen Mensch und Natur und spricht darin die „Sprache des Lustprinzips (…), die Sprache der Freiheit von Unterdrückung und Verdrängung, von ungehemmten Wünschen und Erfüllungen“:81

RAUBVOGEL

Raubvogel süß ist die Luft
So kreiste ich nie über Menschen und Bäumen
So stürz ich nicht noch einmal durch die Sonne
Und zieh was ich raubte ins Licht
Und flieg davon durch den Sommer!
(R, S. 74) 

Das ,bellum omnium contra omnes‘, wiewohl Strukturmerkmal bürgerlicher Konkurrenz, wird von der bürgerlichen Ideologie tabuisiert. Die bürgerliche Moral predigt Gemeinsamkeit und Solidarität aller mit allen. Das gilt um so mehr für die nachkapitalistische, sich selbst sozialistisch nennende Gesellschaft der DDR. Walter Ulbricht hat im Hinblick auf die DDR von der ,sozialistischen Menschengemeinschaft‘ gesprochen, die nur noch äußere Antagonisten kennt (das „kapitalistische Ausland“), immanent aber als große Familie erscheint. Zwar haben seine Nachfolger diese Vorstellung revidiert und geben das Fortleben gesellschaftlicher Widersprüche – allerdings nur nicht-antagonistischer – zu. In der innenpolitischen Praxis jedoch insistieren sie beharrlich auf dem Ideologem zwischenmenschlichen Gemeinsinns.
Unter solchen Voraussetzungen ist Sarah Kirschs Raubvogel-Gedicht eine Ungeheuerlichkeit. Im Medium der Naturmetapher wird hier Asozialität als höchstes Gut – Glück gepriesen. Der Raubvogel – er hat keinen spezifischen biologischen Namen, was ihn als allgemeinen Typus ausweist – lebt seinen ungebändigten animalischen Bedürfnissen. Er kennt keine Grenzen: Sein Element ist die Unendlichkeit („Luft“, „Sonne“, „Licht“, „Sommer“), und was er braucht, „raubt“ er sich einfach. Einsam, aber frei erhebt er sich über die beschränkte Welt der ,Menschen und Bäume‘ und fliegt ziellos „davon durch den Sommer“.
Die Metaphorik verschleiert nicht, daß es sich hier um das Wunschbild eines – immerhin an die Realität des Erdenlebens gefesselten – menschlichen Individuums handelt. Die Sprache bremst den anarchistischen Impuls: Im Bild der Einheit von Mensch und Natur werden universelle Freiheitsbestrebungen formuliert; dabei wird allerdings der prinzipiell abstrakte Zug solchen Freiheitswillens nicht verleugnet. Nicht nur bleiben die Bildelemente „Raubvogel“, „süße Luft“, „Sonne“, „Licht“, „Sommer“ allgemeine und signifikatorisch redundante Assoziationsreize (was formal durch die Alliterationen unterstrichen ist); auch artikulieren die Negationspartikel der zweiten und dritten Zeile eine Skepsis, die das Realitätsprinzip hinterrücks wieder hereinläßt – besonders das „nie“ der zweiten Zeile liest sich gleichermaßen als temporales ,nie zuvor‘ wie als Indikator von Irrealität im Sinne von ,niemals‘. Treffend beschreibt Roland H. Wiegenstein Sarah Kirsch als

eine sich in der Sprache disziplinierende, melancholische und trotzige Anarchistin, die für den Sozialismus optiert hat.82

Dennoch bleibt die Grenzauflösung hervorstechendes Merkmal der Naturbilder Sarah Kirschs. Was sich makrostrukturell in der Vielzahl von Reisebildern niederschlägt – seien sie frei imaginiert oder tatsächlichen Reiseerlebnissen entsprungen83 –, spiegelt sich, bezogen auf das einzelne Gedicht, in den bruchlosen Übergängen von einem in einen anderen Bereich. Genauso unmittelbar, wie in dem Raubvogel-Gedicht das menschliche Subjekt in die Natur eintaucht, fließen auch Natur und Technik ineinander über:

DER WELS EIN FISCH DER AM GRUND LEBT

Der Wels ein Fisch der am Grund lebt
hat einen gewölbten Rücken der Kopf ist stumpf
der Bauch flach er paßt sich dem Sand an
der von den Wellen des Wassers gewalzt ist
von dieser Gestalt wähn ich mein Flugzeug
das hoch über der Erde steht, aus seinem Fischbauch
ins Riesge gewachsen laden noch Flügel
stumpfwinklig in windzerblasene Wolken
unter mir Wälder Nadel- und Laubgehölz
leicht unterscheidbar von hier
der Herbst ist sichtbar dumpfes Braun bei den
Buchen Eichen und Lärchen, die Winterbäume
haben ihr Grünes zu zeigen, mehr noch
rufen die Straßen Flüsse und Städte mich an
schön liegt das Land die Seen wie Spiegel
Taschenspiegel Spiegelscherben
das ist meine Erde, da
werden Demonstrationen gemacht weiß
werden die Transparente getragen mit schwarzer Schrift
gegen Schlächterei Ungleichheit Dummheit
es schwimmen Kinder auf Gummischwänen es schlafen
immer noch Alte auf Bänken an Flüssen, Straßenfeger
holn jeden Morgen den Abfall zusamm
Erde die ich überflieg auf die Regen und Schnee fällt
nicht mehr so unschuldig wie eh wie der Schatten des Flugzeugs
ich höre Bach und Josephine Baker das ist ein Paar
(L, S. 5) 

Dieses Gedicht eröffnet den Band Landaufenthalt. Im Gegensatz zu den folgenden Lyrikbänden der Autorin dominiert hier die Zuversicht, daß die individuellen Glückbestrebungen ihrer Einlösung im zukünftigen Geschichtsprozeß entgegensehen. Dies findet seinen Niederschlag darin, daß utopische Vorstellungen in Bildern ausgedrückt werden, die der Sphäre des gesellschaftlich-technologischen Fortschritts entstammen. Moderne Verkehrsmittel, die Eisenbahn oder, in diesem Falle, das Flugzeug, fungieren als Medien der Aneignung von Welt und der grenzenlosen Entfaltung des Subjekts.
Vom Flugzeug aus breitet sich die Welt als bildliches Ganzes vor den Augen des lyrischen Subjekts aus. Die begrenzte individuelle Perspektive ist aufgegeben, und eine Totalität von Gegensätzen wird überschaubar und damit erkennbar. Dem abgehobenen Blick von außen zeigen sich die widersprüchlichen Einzelheiten als komplementäre Elemente des übergreifenden Ganzen. Dieses integriert Natur- und Stadtlandschaften, die Manifestationen verschiedener historischer Epochen und, um einen naturhaften Gegensatz zu nennen, Männer und Frauen:

Bach und Josephine Baker das ist ein Paar. 

Das Gedicht gibt ein Beispiel für den Anthropozentrismus in der Weltanschauung, der nicht nur propagierte Parteiparole der SED ist („Im Mittelpunkt steht der Mensch“), sondern im neuzeitlichen, wissenschaftlich-technischen Fortschrittsdenken tief verwurzelt ist. Sarah Kirsch zeichnet ein lyrisches Subjekt, das mit Hilfe der Technik („Flugzeug“) zum allsehenden und damit potentiell allmächtigen Herrscher über die Welt wird. In all ihren Ungleichzeitigkeiten und Widersprüchen ist ihm diese Objekt seiner Anschauung und seines Handelns: „Das ist meine Erde“. Der Anspruch auf Welt- bzw. Naturbeherrschung mittels Welt- bzw. Naturerkenntnis ist deutlich zu spüren. Dennoch scheint es mir eine Idee zu stark, wenn Adolf Endler hier „Töne der Neuen Sachlichkeit“ zu vernehmen glaubt.84
Denn ein Naturding, ein biologisches Wesen – „der Wels ein Fisch der am Grund lebt“ – wird zum sinnlichen Vorbild für das technische Werkzeug, das Flugzeug. Natur als Objekt und die subjektive Macht der Naturbeherrschung stehen in keinem polaren Verhältnis zueinander. In den Gedichten Sarah Kirschs verflüchtigen sich bereits frühzeitig auch die klaren Abgrenzungen, die rational-logisches Denken zu ziehen geneigt ist: die zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ursache und Wirkung und zwischen Wesen und Erscheinung. Was mit der Verquickung von Natur und Technik im Wels-Gedicht angelegt ist, verstärkt sich in den folgenden Gedichtsammlungen der Lyrikerin.
Diese tendieren in auffallender Weise zu poetischen Bildern aus dem Bereich des Märchenhaften und Phantastischen. Dieses Moment kündigt sich zwar in Landaufenthalt bereits an, steht aber hier noch zurück hinter eher deskriptiven Abbildern von Realität. Damit unterliegt das durchgängige Thema von Natur/Naturbeherrschung einem Wandel. Der Impuls zur umfassenden Aneignung von Welt ist zurückgedrängt. An seine Stelle tritt das Problem der Aneignung der gesellschaftlichen Beziehungen durch die menschlichen Individuen. Bertolt Brecht hat davon gesprochen, daß der Kapitalismus die weltgeschichtliche Frage menschlicher Naturaneignung weitgehend gelöst habe, und daß es im Sozialismus darauf ankäme, auch die Herrschaft über die sozialen Vorgänge zu erlangen. In vergleichbarer Weise treten in den späteren Gedichtbänden Sarah Kirschs die technisch lösbaren Probleme gesellschaftlicher Naturaneignung und die nicht allein technisch zu lösenden Probleme aus dem zwischenmenschlichen Bereich auseinander.
Die Beherrschung der ersten, ursprünglichen Natur geht nicht mehr Hand in Hand mit der der zweiten, der gesellschaftlichen Natur, wie noch überwiegend in den Gedichten aus Landaufenthalt.
Im Hinblick auf die Sozialbeziehungen büßt der auf dem Gebiet der Technik quasi omnipotente Mensch einiges an Macht ein. Wenn die Allmacht des Willens auch hier gelten soll, können die Errungenschaften des technologischen Fortschritts nicht maßgeblich sein. Dementsprechend verändert sich der Begriff der Naturbeherrschung in den beiden letzten Gedichtbänden Sarah Kirschs. Die utopische Vorstellung von der Beherrschung der zweiten Natur orientiert sich an archaischen, vorwissenschaftlichen Modellen. An die Stelle der Technik tritt die Magie, die Sigmund Freud zufolge in ,animistischen‘ Gesellschaftsformationen die Rolle der heutigen Technik gespielt hat,85 und den Platz eines omnipotenten menschlichen Subjekts nehmen omnipotente Wesen aus dem Zwischenreich von Mensch und Natur ein, von göttlicher Macht und menschlicher Verwundbarkeit:

RUF- UND FLUCHFORMEL

Eu Regen Schnee Gewitter Hagelschlangen
Steigt aus des Meeres bodenloser Brut
Und haltet euch in Lüften eng umfangen
Bis er auf meinem roten Sofa ruht.

Wenn er den Stab hebt, dürft ihr draußen toben
Je mehr je lieber, schließet mir das Haus
Und schlagt und dreht euch, ändert Unten, Oben
Der Hof sieht wie ein Jahrmarkt aus 

Dieweil wir uns in unserer Lieb erproben. (Z, S. 53) 

Hier gibt es keinen grundsätzlichen Gegensatz zwischen Mensch und Natur, Subjekt und Objekt. Das lyrische Subjekt bezieht sich auf Natur als anderes, ihm ähnlichen Subjekt. Die magische Formel („Eu…“) ist das Medium, über das die Kommunikation beider hergestellt wird. In den Märchen und Mythen sind letztlich diejenigen die Glücklichen, die die Sprache der Tiere verstehen: Dem Menschen, der ihre Sprache spricht, werden die Naturelemente zu Helfern, die den Erfolg seiner Unternehmungen sicherstellen. Indem er sich auf die Ebene der Natur begibt, selbst Naturwesen wird, erlangt er nicht nur die Herrschaft über die Natur, sondern auch über die Menschen. Kaum daß der Wunsch ausgesprochen ist, ist er auch schon Wirklichkeit. Das Wort besitzt unmittelbare Macht über die Sache, die Unterscheidung von Begriff und Gegenstand entfällt.86

Sarah Kirschs ,Ruf- und Fluchformeln‘ (Z, S. 49; Z, S. 52; Z, S. 53), Liebesgedichte allemal, greifen auf diese Tradition zurück und entlarven damit – gewollt oder ungewollt – die gesellschaftlichen Beziehungen, vor allem die zwischen Mann und Frau als Naturbeziehungen.87 Was sich zwischen den Liebenden abspielt, ist, vom Standpunkt des hexenhaften lyrischen Subjekts aus, den Naturvorgängen gleichartig. Dementsprechend ist die Darstellung der Naturgewalt in „Ruf und Fluchformel“ poetisches Abbild der imaginär vorweggenommenen erotischen und sexuellen Beziehung, die als Wunschziel genannt ist. Die poetische Technik gleicht der magischen der Höhlenmaler, die das Tier, das sie jagen wollen, zunächst im Bilde bannen, Wunsch und Wunscherfüllung damit identisch setzen.
Als Verbündete der Naturmacht wird das lyrische Subjekt selbst zur Naturmacht. Solche Naturhaftigkeit des Menschen hat zwei Aspekte, einen utopischen, der sich leicht mit einem ideologischen verbindet, und einen kritisch-realistischen.
Die utopische Dimension in den Gedichten Sarah Kirschs ist offensichtlich. Als belebte und subjektivierte, dem Menschen zugleich ähnliche und unähnliche ist Natur nicht nur Inbegriff allen Seins, sondern sie trägt auch die Potentialität allen Werdens in sich. In einer solchen Sphäre unbegrenzter Möglichkeiten gibt es keine Kluft zwischen Gedanken und Tat; vorgestelltes und wirkliches Glück sind ungeschieden. Aus sich selbst heraus verändert so gesehene Natur von einem zum anderen Augenblick ihr Aussehen – und damit ihre Wesensbestimmung:

EINÄUGIG

Wie Ölbäume schimmern die Weiden
Blaugrün und zitternd, die Pappeln
Ahmen Zypressen nach (dunkler
Dunkler! Vertieft eure Schatten!) Der Wind
Übt Fall und Flug seines Bruders Mistral
(R, S. 60) 

Unversehens verwandelt sich die heimatliche Landschaft in eine südliche Wunschlandschaft. Vertraute Wörter für eine vertraute Umgebung – „Weiden“, „Pappeln“, „Wind“ verblassen vor den klangvoll-exotischen Namen von „Ölbäumen“, „Zypressen“ und „Mistral“. Die Gegenüberstellung unterstreicht deren die Vorstellungskraft reizenden „Wallungswert“ (Gottfried Benn), ein Effekt, den die Subjektivierung der Naturelemente um ein weiteres verstärkt. Der Natur selbst scheint die Fähigkeit zur Metamorphose innezuwohnen. Das lyrische Subjekt hat seinen Platz innerhalb dieser Natur, es steht ihr nicht entgegen. Es kommuniziert mit den Naturphänomenen und greift damit unmittelbar in das Geschehen ein.
Dadurch entsteht eine eigentümlich ambivalente Dynamik. Wieder haben wir es mit einer ,Mischbildung‘ zu tun, die sowohl phantastische als auch abbildende Momente integriert. Einerseits kommt durch die Paranthese Leben in das Wahrnehmungsbild, andererseits schafft die dadurch erreichte Dramatisierung eine Distanz, die den fiktiven Charakter des Bildes bewußt hält. Harald Weinrich erfaßt daher nur eine Dimension dieses Gedichts, wenn er die Darstellung der doppelten, der „nord-südlichen“ Landschaft als grenzüberwindend beschreibt und daraus auf die politische Intention des Gedichts schließt.88 Denn zugleich eignet dem Bild der Spielcharakter einer Shakespeareschen Bühnenrealität – etwa der im Hamlet: Das lyrische Subjekt übernimmt die Rolle des Regisseurs, der seine Schauspieler zu genauerer Nachahmung anspornt.89
Sarah Kirsch versucht nicht, die Fiktion als Realität auszugeben. Daher gleitet das Utopische ihrer Bildgebung nicht ins verschleiernd Ideologische ab. In gleicher Weise sichert sie auch die Märchenmotive in ihren Gedichten ab: Allesamt sind sie mit einem kritischen Stachel versehen. Das Märchen wird umfunktioniert, so daß es einerseits seinen utopischen Gehalt bewahrt, andererseits aber die Nichtübereinstimmung von Utopie und Erfahrung hervorgehoben ist.
Der Raum des Märchens ist, wie der vieler Gedichte der Lyrikerin , eine subjektiv-tätige Natur, die Menschen gleichermaßen erfaßt wie Tiere, Pflanzen und anorganische Elemente.Das Märchen repräsentiert die Einheit von Mensch und Natur, die als Grundlage jeder poetischen Naturmetaphorik anzunehmen ist. Sein Ort ist, wie Ernst Bloch ausgeführt hat, ein „bunteres oder leichteres Anderswo“,
90 der Inbegriff utopischer Hoffnung. Im Märchen herrschen klare, eindeutige Verhältnisse; der Märchenheld „wird vorgestellt als einer, der die Wirklichkeit nach seinen eigenen Vorstellungen, nach einem Entwurf ordnet“;91 mit Mut, Klugheit und Glück besteht er zu guter Letzt alle Gefahren und kann das Unmögliche möglich machen. Gute Naturwesen helfen ihm, und keine dunkle Macht der Welt, kein Riese oder Drache, kein Teufel und keine böse Königin sind am Ende dem tapferen Schneiderlein, dem dummen Bauernhans oder dem schönen Schneewittchen gewachsen.

Auch im Märchen ist Leid, doch es wendet sich, und zwar auf immer.92

Nicht so in den Gedichten Sarah Kirschs. Hier scheint das Märchen selbst verwunschen. Noch sind seine Grundelemente und -konstellationen erkennbar: die Naturidentität, das Streben nach Glück, der Auszug, die wiederholten Proben, die Krisen. Märchengestalten werden in den Gedichten lebendig: die sieben verzauberten Brüder („Schneelied“ – L, S. 19), Löweneckerchen („Märchen im Schrank“ – Z, S. 14), Dornröschen („Schneeröschen“ – Z, S. 64), Schneeweißchen und Rosenrot („Schneeweißer und Rosenrot“ – R, S. 11), der Schneekönig („Im Glashaus des Schneekönigs“ – R, S. 67). Zwar gibt es auch in diesen Gedichten gute Feen und Naturmagie, doch immer wieder bricht, um im Bild zu bleiben, der Winter in die helle Märchenwelt ein. Nicht wenige Gedichte verknüpfen die Wintermotive mit den Fragmenten des Märchens. Dem Wunsch nach Erlösung wird nicht stattgegeben. Die ,Rufformel‘ hat ihre Zauberkraft verloren, ihr muß die ,Fluchformel‘ folgen. Der ,einäugige‘ Blick ist auch ein bornierter Blick, er verkennt die realen Dimensionen. Die obligate Erlösung der Brüder aus dem Rabenkleid, des Geliebten aus der Tiergestalt mißlingt. Die Utopie, die Entfesselung der Subjektivität, wird derart erahnbar, doch sie findet im Gedicht nicht ungebrochen statt.
Wenn im Märchen allemal ,die schon vorhandenen revolutionären Elemente über die Stränge fabeln,93 so setzt hier die gesellschaftliche Erfahrung der ausschweifenden Phantasie ihre Grenzen. Die aussichtslose Situation schlägt nicht um; sie dauert. Denn – und das ist der realistische Zug in den Bildern der Lyrikerin – es gibt keine Gefahren von außen, die bestanden sein wollen. Der Kampf spielt sich im Innerer der Menschen selbst und zwischen ihnen ab. Kein böser Zauberer hat die Brüder in Bann geschlagen, sie selbst haben sich aus Geldgier verwandelt und ihre Schwester vergessen („Schneelied“). Kein Dämon wirft Hindernisse in den Weg, es sind die eigenen Haare, die vor die Schlittschuhe fallen und das Fortkommen erschweren („Schneeweißer und Rosenrot“). Die Rettung „Schneeröschens“ scheitert weniger an der Schneehecke als an der Haltung des „Prinzen“.94
Die bildhafte Utopie, durch Märchenmotive und phantastische Grenzverschiebung sinnlich evoziert, wird damit zugleich kritisch gegen die realgesellschaftliche Wirklichkeit gewendet. In der poetischen Naturnähe wird reale Naturferne, in der mythischen Einheit von Begriff und Gegenstand die wirkliche Kluft zwischen ihnen offenbar. In Opposition zur rationalen Logik des Wissens decouvriert die scheinbar irrationale Bildlogik die sozialen Unstimmigkeiten.

Die gefesselte Subjektivität
Die Gedichte Sarah Kirschs zeichnen sich durch üppigen Bilderreichtum und phantastische Überzeichnung des Anschauungsbildes zum Wunschbild aus. Natur dient jedoch nicht nur als Arsenal für Metaphernbildung; nicht selten wird auch eine Naturanschauung scheinbar zum Gegenstand und Thema eines Gedichts. Neben Gedichten, in denen sich ein Natursubjekt ausspricht, stehen solche, die Natur – gleichsam objektiv – als Landschaftswahrnehmung präsentieren.
Den Landschaftsbildern eignet dieselbe utopische, Raum und Zeit übersteigende Dimension wie den märchenhaften Naturimaginationen. Auffällig ist, daß derartige Gedichte offenbar Ausnahmesituationen entspringen: Nicht wenige gehen zurück auf ,Landaufenthalte‘, ,Ausflüge‘ und Reisen. Dabei betont die Lyrikerin, daß sie – „als Großstadtbewohner“ – „ziemlich lange kein richtiges Verhältnis zur Natur gehabt“ hat, und daß es „ganz lange gedauert (hat), bis so ein paar Naturgedichte überhaupt bei mir aufgetaucht sind“.95 Entsprechend zeigt sie sich fasziniert von der Ruhe und Idyllik dörflicher Gebiete. Aber das Staunen über „so viel Natur“ (L, S. 32) wird gebremst durch ein schlechtes Gewissen, mit dem sich die rationale Einsicht gegen eine Verallgemeinerung der idyllischen Empfindung wehrt. So heißt es z.B. in „Im Sommer“ (R, S. 51)‘:

Wenn man hier keine Zeitung hält
Ist die Welt in Ordnung.

Oder, direkter noch, in „Landaufenthalt“ (L, S. 32/33):

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa(…) ich rette mich
auf den künstlichen Schlackeweg und werde wohl bald
in meine Betonstadt zurückgehen hier ist man nicht auf der Welt
der Frühling in seiner maßlosen verstopft
Augen und Ohren mit Gras die Zeitungen sind leer
eh sie hier ankommen der Wald hat all seine Blätter und weiß
nichts vom Feuer
(L, S. 33)

Der Konflikt ist offenkundig: „hier ist man nicht auf der Welt“ – aber dieser Ort Nirgendwo wird zur U-topie, zur Welt, in der sich das lyrische Subjekt heimisch fühlt. Ländliche Naturnähe ist Fluchtpunkt, bietet „das Tränklein Vergessen“, „bis dann / Nach Tagen das Leben im praktischen Hochhaus“ (R, S. 22) wieder beginnt.
Nur am Rande erinnern die Gedichte an die politische und gesellschaftliche Realität, wenn z.B. von einem „Minengürtel Einzelheiten“ (R, S. 21) die Rede ist, oder wenn durch die syntaktische Einschränkung ein Realitäts-Choc die Idylle zerstört:

EIN BAUER

Ein Bauer mit schleifendem Bein
Ging über das Kohlfeld, schwenkte den Hut
Als wäre er fröhlich.
(R, S. 47) 

Derartige Beobachtungen bleiben jedoch realistische Einsprengsel in einem poetischen Weltganzen, in dem schöne Natur- und Lebensfülle vorherrschen. Sigrid Damm weist auf die „relativ schmale Realbasis“ hin, auf der sich die Gedichte Sarah Kirschs in Rückenwind bewegen: 

Sie (die Lyrikerin – S. V.) verläßt kaum die Ebene der geschilderten Erlebnisse, der Unmittelbarkeit. Verarbeitungen fremder geschichtlicher Erfahrungen, etwa einen Milchmann Schäuffele, eine Lilja, wie wir sie aus Landaufenthalt kennen, suchen wir vergeblich.96

Was auf den ersten Blick wie ein Rückzug ins Private aussieht, erweist bei näherer Betrachtung seine umfassenden poetologischen Ausmaße. Die Begründung, mit der sich Sarah Kirsch selbst von dem Vorwurf der Idyllisierung freispricht, erfaßt nur einen Aspekt der gesamten Problematik:

Andererseits meine ich, daß ich trotzdem keine Idyllen schreibe, weil von der Gefährdung und dem Zufälligen eines solchen Zustandes, der schnell verändert sein kann, auch immer wieder die Rede ist.97

Wenngleich dem grundsätzlich zuzustimmen ist, verkennt, die Autorin damit doch den spezifischen Charakter ihrer eigenen Gedichte. Sie schreibt keine Idyllen, nicht allein, weil sie das Augenblickshafte der Naturschönheiten hervorhebt, sondern weil ihre Gedichte ihrer Struktur nach keine Abbilder äußerer Wirklichkeit sind und sein wollen. Die dogmatische Literaturkritik der DDR in den sechziger Jahren hat dieses Bestimmungsmoment Kirschscher Gedichte sehr wohl erkannt und dementsprechend der Lyrikerin extremen Subjektivismus und einen gravierenden Mangel an historischer Bestimmtheit und gesellschaftlicher Bedeutsamkeit in ihren Gedichten vorgeworfen.98
Eine Ehrenrettung der Lyrikerin, wie sie etwa Sigrid Damm versucht, indem sie der ,schmalen Realbasis‘ der Gedichte „Lebenswahrheit und Authentizität“ und eine mögliche „Aufnahmefähigkeit (…) für geschichtliche, gegenwärtige und zukünftige Dimension (sic!) des ,ganzen‘ Menschen“99 konzediert, geht am Entscheidenden vorbei. Die Gedichte Sarah Kirschs sind Provokationen für eine Literaturauffassung, die der Literatur die Intention unterstellt, gesellschaftliche Totalität umfassend widerzuspiegeln. Erkenntnistheoretisch gründet diese Forderung nach ,realistischer Gestaltung‘, von der sich die Literaturkritik der DDR noch immer nicht völlig gelöst hat, auf einem zweigliedrigen Erkenntnismodell, demzufolge eine direkte wechselseitige Abhängigkeit zwischen der ökonomisch-sozialen Basis und dem kulturellen Überbau besteht. Solcher Schematisierung aber verweigern sich die Gedichte Sarah Kirschs radikal. Im Hinblick auf die Landschaftsdarstellung der Autorin wird dies evident: In autonomer – wenn auch nicht autarker – Freiheit verwandelt die schöpferische Phantasie die Reallandschaft in eine metaphorische Wunschlandschaft und umgekehrt.
Einzig Adolf Endler, selbst Lyriker, erkennt die Absurdität der Spiegelgefechte, die sich die Literaturkritik der DDR im Hinblick auf Sarah Kirschs Schreibweise geleistet hat. Endler sieht im Erscheinen der Zaubersprüche eine „erste strenge Prüfung der Lyrik-Kritik“ in der DDR.100 Er unterstreicht, daß die Frage nach dem großen gesellschaftlichen Gegenstand in den Gedichten der Lyrikerin schlichtweg danebenzielt, und mockiert sich über einen ratlosen Rezensenten, der in verzweifelter Einsicht schließlich fragt, 

ob einige… schwache, bedeutungsarme… Gedichte des Bandes vielleicht „nur von der literarischen Qualität her erklärt werden können“.101

In seiner Antwort auf solche geballte Dummheit unternimmt es Endler, das unpassende Interpretationsschema aus dem Weg zu räumen, und hebt stattdessen die Modernität Sarah Kirschs, ihre Nähe zu Lyrikern wie Raffael Alberti, Erich Arendt oder Anna Achmatova hervor. Insbesondere verweist er auf den seiner Meinung nach „zukunftsreichen, doch keineswegs leicht zu beherrschenden Gedichttyp“ des „tagebuchartigen Briefgedichts“, „wie ihn sich Sarah Kirsch in Landaufenthalt erarbeitet, erlistet, erspielt hat“ und wie er „auch für die Zaubersprüche noch von gravierender Bedeutung“ ‘ist.102 Dem bleibt nur hinzuzufügen, daß die Lyrikerin in ihren folgenden Gedichtbänden diesem für sie charakteristischen Gedichttyp treu geblieben ist.
So wie der Gegenstand der Gedichte vornehmlich ein privater, ja intimer ist – kaum ein Gedicht Sarah Kirschs, das sich nicht in letzter Konsequenz als Liebesgedicht ansprechen läßt –, so ist auch der angesprochene Adressat erst in zweiter Linie die literarische Öffentlichkeit. Zuallererst wenden sich die Gedichte an den jeweiligen Geliebten. Sie sprechen ihn unmittelbar an, wollen ihn betören und bezaubern, angreifen und kritisieren, wollen ihn in seiner Meinung umstimmen und herbeilocken. Damit lesen sich die Gedichte wie konzentrierteste Briefe: Sie fingieren keine zweite, poetisch gestaltete Realität, sondern sie sind Momente der ersten Lebenswirklichkeit selbst.
Die Gedichte sind Hilfsmittel beim alltäglichen persönlichen Kampf um ein glückliches Leben. Wenn sie Mängel aussprechen – den Mangel an Liebe und zwischenmenschlicher Wärme etwa –, so geht es ihnen nicht um Darstellung, Ausmalung oder Verbildlichung der realen Mangelsituation. Vielmehr formulieren sie das Defizit gerade in seinem Gegenteil, für das das Bild einer schönen, nicht-begrenzten und universellen Naturfülle steht. Auch dies ist magische Technik: Die Polarität von Wunsch und Wirklichkeit wird herausgestellt, das Wunschziel um so plastischer ausgemalt, um den Antrieb zum ,Auszug ins Glück‘ zu verstärken. So zielt alles in den Gedichten auf Veränderung der erfahrenen zwischenmenschlichen Beziehungen ab. Dem Wunsch nach Liebe und menschlicher Wärme, gleichsam dem Ausdrucksimpuls der Gedichte, ist das Naturbild als Ausdrucksmedium beigesellt. Liebe und Natur bilden auf diese Weise eine nahezu symbiotische Einheit; noch die Darstellung einer realen Landschaftswahrnehmung partizipiert an dem utopischen Charakter, der der geglückten Liebesbeziehung innewohnt:

DER WALD

Motorsägen heulen.
Wo Schatten war, Himmel.
Tag- und Nachtgestirn. Die zärtlichen Moose
Perlgras Schlafmohn und Thymian
Fragen warum denn
Immer nur mein Fuß?
(R, S. 44) 

Sarah Kirsch hat die zentrale Bedeutung des Liebesmotivs für ihre Gedichte unterstrichen;103 sie hat auch das oben zitierte Gedicht selbst zu deuten versucht:

Das ist (ein) Umwelt- und Liebesgedicht, alles unter einem Gesichtspunkt, der, glaube ich, wirklich eine Rolle spielt.104

Natur und Liebe gehören zusammen, allerdings nicht ohne weiteres als ineinander sich spiegelnde, wie man das für dieses Gedicht annehmen kann. Hier entspricht der Zerstörung der Natur – 

Das war in Mecklenburg. Da wurde ein sehr schöner Wald geholzt. Den ganzen Tag heulten die Motorsägen, und es war schrecklich zu hören.105

– die zerstörte, die zerbrochene Liebe:

,Die zärtlichen Moose, Perlgras, Schlafmohn und
Thymian fragen
(…)( …): Warum gehst du hier
immer alleine lang?
106

In vielen Gedichten entsteht eine Spannung im Gegensatz dazu gerade durch die Inkongruenz zwischen einer ,schönen‘ Natur und einer glücklosen bzw. fernen Liebe:

ENDE MAI

In ganz Europa ist jetzt das Gras da überall
Grünen die Linden, manchenorts Nuß und Wacholder. Winde
Jagen viel Wolken fetzenweis über die Klingen
per Faltengebirge. Durch erfundene Drähte
Über und unter der Erde geben die Menschen sich Nachricht.

Du schick die leichteste
Aller Tauben windförmig sie bringt
Ungeöffnete tagschnelle Briefe. Schatten
Unter den Augen; mein wüster Herzschlag.

Unfroh seh ich des Laubs grüne Farbe verneine
Bäume Büsche und niedere Pflanzen: ich will
Die Blätter abflattern sehen und bald. Wenn mein Leib
Meine nicht berechenbare Seele sich aus den Stäben
Der Längen- und Breitengrade endlich befreit hat.
(R, S. 41) 

Die Naturharmonie wird bedeutungslos angesichts der Trennung der Liebenden. Kaum ein Gedicht, so ist gesagt worden, das nicht ein Liebesgedicht wäre; kaum ein Gedicht bei Sarah Kirsch aber auch, das vom Standpunkt der erfüllten Liebe spricht. Fast immer reden die Gedichte aus der Perspektive der Liebeserwartung und -hoffnung, oder aber sie thematisieren eine enttäuschte Liebe, eine zerbrochene und gewesene.
Die Gedichte sprechen die Sprache des Mangels, der unbefriedigten Sehnsucht. Verlangen nach Liebesglück, aber aktuelle Einsamkeit und Traurigkeit sind die dominanten Stimmungen, die hier eingefangen sind. Das empirische Subjekt trennt sich in entscheidenden Punkten von der poetisch phantasierten, frei ausschweifenden Subjektivität: Während sich diese zum Raubvogel- und Hexen-Dasein erhebt und damit Macht gewinnt über Natur und Menschen, ist jenes im realen Zeitenlauf gefangen und der Unwirtlichkeit der sozialen Realität ausgesetzt.
Die Verknüpfung von Natur- und Liebesmotiven findet ihre Begründung in ebensolcher Interferenz von empirischer und imaginierter Subjektiviät innerhalb eines Gedichts. Wenn die Autorin von dem einen, wesentlichen Gesichtspunkt spricht, unter dem Natur und Liebe in „Der Wald“ zusammentreffen, so läßt sich diese Einheit für die meisten anderen ihrer Gedichte in ähnlicher Form nachweisen. Was die Vorstellung einer schönen Natur mit der der glücklichen Liebe eint, ist das utopische Potential, das ihnen gleichermaßen innewohnt.
Unter diesem Aspekt ,verteidigt‘ Ernst Bloch das gleichwohl als ideologische Täuschung ,durchschaute‘ Happy-End, kraft dessen in Hollywood-Schinken und Kitschromanen das Gute über das Böse siegt und das Aschenbrödel seinen Prinzen bekommt:

Der Betrug stellt das gute Ende dar, als sei es in einem unveränderten Heute der Gesellschaft erreichbar oder gar schon das Heute selbst. Doch indem Erkenntnis den faulen Optimismus zuschanden macht, macht sie nicht auch die dringende Hoffnung aufs gute Ende zuschanden. Denn diese Hoffnung ist zu schwer zerstörbar im menschlichen Glückstrieb begründet, und zu deutlich war sie allemal ein Motor der Geschichte. Sie war es als Erwartung und Aufreizung eines positiv sichtbaren Ziels, um das zu kämpfen wichtig ist und das in die öde fortlaufende Zeit ein Vorwärts schickt.107

Mit dem Zustandekommen einer Liebe ist ein wesentliches Kriterium des Happy-Ends erfüllt. Bezeichnenderweise enden ,gut ausgehende‘ Geschichten meistens mit einer Verlobung oder Heirat, so als gäbe es kein Nachher des Ehealltags. Wiewohl nun die Gedichte Sarah Kirschs nicht eben in kitschige Verklärung der Liebesbeziehungen abgleiten, so haben sie doch teil an dieser tief verwurzelten und bis in die Anfänge abendländischer Literatur zurückzuverfolgenden Vorstellung, die Liebe und Glück identisch setzt.
In einer Gesellschaft, die den Warentausch zur Grundlage der Sozialbeziehungen macht – und dieses Stadium ist im real existierenden Sozialismus keineswegs überwunden –, in der also die zwischenmenschlichen Umgangsformen einen entfremdeten und verdinglichten Charakter annehmen, wird die individuelle Liebesbeziehung mehr denn je zur Projektionsbasis aller Glücksbestrebungen. In ihr nämlich scheint das Gesetz der Ware außer Kraft gesetzt; die Zweierbeziehung wird zu einem emotionalen Freiraum, der sich als Alternative zu den öffentlichen gesellschaftlichen Beziehungen präsentiert und in dem erlaubt ist, was in anderen Bereichen des Lebens tabuisiert bleibt.
Wo immer bei Sarah Kirsch eine aktuelle, realisierte Liebe dargestellt ist, zeigt sie sich in der ganzen Widersprüchlichkeit und mit allen Charakteristika anderer gesellschaftlicher Verhältnisse belastet. Als realisierte ist die Liebe Miniaturmodell der Sozialbeziehungen: Hier reproduzieren sich Fremdheit und zwischenmenschliche Kälte, Machtkämpfe und Niederlagen.
Ganz anders hingegen sieht die erträumte, durch äußere oder innere Umstände – seien es politische Grenzen, sei es die Untreue des Geliebten – verhinderte Liebe aus. Sie erscheint als Inbegriff allen Glücks, nicht nur des privaten. Als imaginierte wird die Liebe zur utopischen Kategorie und überschneidet sich darin mit Natur. Was ein uraltes literarisches Phänomen ist, die Verknüpfung von Natur- und Liebesgedicht,108 mag verwurzelt sein in einer fundamentalen psychischen Voraussetzung, auf die Marina Moeller-Gambaroff hinweist.109 Die Psychologin geht aus von dem Utopie-Begriff Ernst Blochs, der sich in seinem Begriff der ,Heimat‘ konzentriert; Bloch beschließt sein Prinzip Hoffnung mit dem Ausblick:

Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.110

Marina Moeller-Gambaroff überträgt dieses Modell in den psychischen Bereich:

Das psychische Urbild von Heimat dürfte die ,primäre Liebe‘ sein, wie Balint (…) den Zustand harmonischer Durchdringung von Individuum und Umwelt genannt hat. Die primäre Liebe ist die ursprünglichste – noch vornarzistische – Form von: Beziehung. Sie ist ungestörte Harmonie, fließender Ausgleich. Sie kennt keine scharfen, trennenden Grenzen. Sie ist der am meisten ersehnte Zustand, gleichzeitig der regressivste. Eben darin besteht seine Gefahr.111

Hier kehren die charakteristischen Merkmale der Naturbilder Sarah Kirschs – Grenzauflösung, Regression des Ichs in das Universum, Harmonie – wieder. Die geglückte Liebe – nach dem Modell ihres Vorbilds – ist Natur. Dies mag die entscheidende Voraussetzung sein für die erotische Spannung, die von diesen Gedichten ausgeht; denn ohne platt-direkt zu sein, verbergen sie an keiner Stelle, daß ,Liebe‘ vor allem anderen körperliche, sexuelle Liebe meint.112

Da die erträumte Liebe kein Erfahrungskorrelat hat – es ist betont worden, daß die verwirklichte Liebe sich in wesentlichen Punkten von ihr trennt –, wird das Bild einer schönen Natur zu ihrer sinnlichen Stellvertreterin, zum Modellbild eines (noch?) nicht Realisierten. Natur bleibt dementsprechend immer nur Medium einer Aussage, die auf die Darstellung und den Ausdruck des Liebeswunsches abzielt – selbst dort, wo sich ihr Bild an dem der realen Landschaft entzündet.

Da lebendige dialektische Erfahrung diese (entfremdete – S. V.) Realität nicht aushalten könnte, drängt sich ihr bedrückender Teil in die Phantasie; hier erscheint er auf Grund der libidinösen Triebstruktur dieser Phantasie nicht als Alpdruck. (…) In ihrer unaufgehobenen Form, als bloß triebökonomisches Gleichgewicht gegenüber unerträglichen entfremdeten Verhältnissen ist die Phantasie selber bloß ein Ausdruck dieser Entfremdung. Ihre Inhalte sind deshalb verkehrtes Bewußtsein. Der Form ihrer Produktion nach ist diese Phantasie jedoch unbewußte praktische Kritik in den entfremdeten Verhältnissen.113

Ganz unmittelbar und praktisch versuchen die Gedichte Sarah Kirschs, die Entfremdungen zwischen den Geschlechtern und darüberhinaus zwischen den Menschen überhaupt anzugehen, ohne daß sie sie deshalb analytisch korrekt abbilden. Natur liefert die Sprache, die Wunsch und Wirklichkeit kurzschließt, die Enttäuschung und Trauer zum Ausdruck bringt und zugleich bereits über sie hinaustreibt. Sigrid Lamm hat daher den Gedichten eine „lebensbewältigende“ Funktion zugesprochen.114 Man kann dies auch poetologisch zu fassen versuchen: Volker Braun hat in seinem Aufsatz über ,Poesie und Politik‘ zwei „Literaturen“ unterschieden, „die eine unterschiedliche Haltung zur Welt artikulieren, die von Opfern und die von Kämpfern“.115 Brecht und Majakovski stehen ihm für diese, Pound und Eliot für jene. Sarah Kirsch wäre dazwischen anzusiedeln.

Die negative Subjektivität
Bedingt durch Aktualität und wachsende Stärke der neuen Frauenbewegung haben sich verschiedentlich Wissenschaftler(-innen) um die Problematik einer ,weiblichen Ästhetik‘ bemüht.
116 Die Konzentration auf die Fragestellung dieser Arbeit verbietet es, dem damit aufgerissenen Fragekomplex angemessen begegnen zu wollen. Gleichwohl wäre es unverzeihlich, wollte die Arbeit das im gegenwärtigen Bewußtsein so brisante Thema einfach ignorieren und das Werk einer Lyrikerin über denselben Leisten schlagen wie das ihrer – immerhin auch in dieser Untersuchung überrepräsentierten – Kollegen. Denn wenn gelten soll, daß sich in der Literatur eine spezifische gesellschaftliche Erfahrung nicht nur inhaltlich, sondern auch formal niederschlägt, wenn also nicht von inhaltsleerer Form und formunabhängigem Gedankenmaterial ausgegangen werden soll, so ist evident, daß sich die besondere Erfahrung einer Frau auch in der Gestalt ihrer künstlerischen Hervorbringungen manifestiert.
Kernpunkt dieses Kapitels ist daher die These daß die Gedichte Sarah Kirschs – bewußt oder unbewußt, das wird noch zu erörtern sein – Elemente einer ,weiblichen Schreibweise‘ enthalten.
117 Verschiedentlich haben Rezensenten und Interpreten darauf aufmerksam gemacht, daß es sich hier um ein Beispiel für ,Frauenlyrik‘ handelt. So rücken etwa Roman Ritter oder Sigrid Damm das Moment der lyrischen Ansprache an den Partner in die Nähe der Gedichte Else Lasker-Schülers oder Ingeborg Bachmanns;118

Adolf Endler verweist auf die Verwandtschaft mit der russischen Lyrikerin Anna Achmatova, die Sarah Kirsch auch ins Deutsche gebracht hat,119 und sieht in der „Härte“ und „Unverhülltheit“, mit der diese um den Geliebten ringt, ein jahrtausendealtes „Kennzeichen bedeutender Frauenlyrik“:

Die Vorstellung von Frauenlyrik als einer zarten, verhüllten, sanften basiert im wesentlichen auf dem Angebot der zweit- und drittrangigen Vertreterinnen des Fachs. „Ich bin sehr sanft nenn / mich Kamille…“ begann das Schlußgedicht Sarah Kirschs in Landaufenthalt – wie gut, daß es nicht als Programm ihrer weiteren Bemühungen wirksam geblieben ist.120

Auch im negativen Sinne taucht das Stichwort ,Frauenlyrik‘ auf; so bemängelt etwa Sabine Brandt den naiv-püppchenhaften Tonfall mancher Gedichte aus Landaufenthalt.121 Seit dem Erscheinen der Zaubersprüche jedoch ist sich die Kritik in dieser Hinsicht einig:

Es sind zutiefst weibliche Statements, Äußerungen einer Frau, die sich nicht stärker stellt, als sie tatsächlich ist, einer Frau, die sich zu ihren Schwächen und Halbheiten bekennt, zu ihren Leiden, die gesellschaftliche Leiden sind.122

Frauen, die ihre Erfahrungen öffentlich artikulieren, bewegen sich zunächst und zuerst innerhalb einer männlichen Domäne. Sie sind verwiesen auf Traditionen, die sie nicht ohne weiteres als die eigenen wiedererkennen können. Der ,öffentliche‘ Bereich, sowohl als „Prinzip der Vermittlung von Politik und Moral“ (Kant),123 als aufgeklärte Publizität,wie auch als „industrialisierte Produktionsöffentlichkeit“ (Negt/Kluge), bleibt nach wie vor männlich beherrscht. Es läßt sich nicht wegdiskutieren, daß eine Frau, selbst wo sie ,emanzipiert‘ und männlichen Kollegen gleichgestellt erscheint, andere Erfahrungen macht als eben diese. Ein Mann kann davon ausgehen, daß er in seiner Leistung anerkannt wird. Eine Frau aber muß sich die Anerkennung permanent neu erkämpfen. Der Mann darf nicht enttäuschen, aber die Frau muß sich erst einmal beweisen – was bedeutet, sie muß sich der männlichen Norm anpassen, gleichsam die Hosenrolle spielen.
Selbst wenn die alten Geschlechterrollen durchlässiger werden – auch das betrifft nur eine relativ kleine soziale Schicht, läßt sich jedoch für diese an den literarischen Tendenzen in der Bundesrepublik ablesen124 –, so sind doch die sexistischen Denk- und Verhaltensmuster so stark im Bewußtsein der Betroffenen – Männer und Frauen – verankert, daß sich die jahrtausendealten Modelle nicht kraft rationaler Einsicht in Wohlgefallen auflösen. Noch der gutwilligste Mann bezieht einen Teil seines Selbstbewußtseins aus ihnen, und auch militante Feministinnen bleiben empfänglich für die Komplimente eines Don Juan – auch wenn sie es sich nicht eingestehen und äußerlich mit Abwehr reagieren.
Aber das negative Abziehbild des patriarchalischen Bewußtseins ist noch lange kein authentischer Ausdruck der verschütteten weiblichen Traditionen. Begriffspaare wie Geist/Natur, Intellekt/Affekt, Herrschaft/Gewaltlosigkeit, Sexualität/Erotik, Aktivität/Passivität u.a.m. lassen sich nicht einfach aus der männlich determinierten Wertehierachie übernehmen und mit negativen Vorzeichen versehen, wenn die Ausdrucksformen des Weiblichen in Frage stehen.125 Denn damit sind die alten Denkschemata festgeschrieben, so als gäbe es nur diese Alternativen. Einmal mehr hat dann die Frau keine andere Wahl als die zwischen Beruf und Mutterschaft; noch immer muß sie sich solchem Denken zufolge entscheiden, ob sie ,Frau‘ sein will oder tätiges gesellschaftliches Subjekt – als ob es für Männer je eine vergleichbare Alternative gegeben hätte!
Im Rahmen dieser Überlegungen sind die ,weiblichen‘ Spezifika im Werk Sarah Kirschs zu reflektieren. Immer noch bleibt die Frage, welche Momente sich denn in letzter Konsequenz als ,authentisch weiblich‘ festhalten lassen. Aufbauend auf den vorangegangenen Kapiteln läßt sich heuristisch eine offenkundig ,weibliche‘ Konstitutionsschicht der Gedichte von einer subtilere Form frauenspezifischer Präsentation unterscheiden.
Wenn Sarah Kirsch, obwohl sie nach eigenen Worten ursprünglich keine unmittelbare Beziehung zur Natur gehabt hat, dennoch ihre Bildlichkeit fast ausschließlich aus dem Naturbereich bezieht, so scheint dies ein Indiz für die tradierte Affinität von weiblichem und natürlichem Prinzip: Der Ausschluß der Frau aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit hat entscheidend zu einem Frauenbild beigetragen, das die Frau in die Nähe von Natur rückt.
Die Vorstellung einer ,Mutter Natur‘ – Inbegriff universeller Fruchtbarkeit und Lebenskraft – stammt noch aus matriarchalischen Gesellschaftsformationen;126 aber der Mythos, der die Frau der Natur gleichsetzt, erfährt im Geschichtsprozeß einen Funktionswandel. Aus der lebensspendenden Natur wird Natur als zu unterwerfende. Das Schicksal der Frauen liest sich analog zu dem der Natur. In dem Maße, wie sich geschichtlicher Fortschritt als Fortschritt der Naturbeherrschung erweist, verdoppelt sich der Naturbegriff in gleicher Weise wie der der Frau. Dem gesellschaftlichen Verhalten zur Natur als einem zu bearbeitenden Rohstoff korrespondiert das Bild einer sinnlich zu erlebenden Natur, voller Geheimnisse und „Vorbilder, die noch kein Mensch gedeutet hat, während die der geschriebenen ihre Erfüllung und Auslegung längst erhalten haben“ (Schelling). Während die reale Frau an die Peripherie des gesellschaftlichen Lebens gedrängt wird, erstrahlt das Bild der Frau heller denn je: Sie ist Rätselbild des ersehnten Glücks, ,Ewig-Weibliches‘, das ,uns hinan zieht‘ (Goethe), ,Verkörperung der biologischen Funktion‘ (Bloch), Symbol für Schönheit, Sinnlichkeit, Harmonie, Frieden (Marcuse) und Freiheit (Delacroix). Die imaginierende Frau bahnt sich erst zaghaft den Weg in die Literaturgeschichte; die imaginierte hingegen beherrscht die Literatur des Abendlandes: als Antigone und Beatrice als Phädra und Helena, als Gretchen und Grusche, als Penthesilea und Lulu.127
Noch die Egalitätstheorien des zwanzigsten Jahrhunderts sprechen die Sprache der Männerherrschaft. Im Kapitalismus wird Natur ohne Rest zum Rohstoff der Verwertung. Ziel ist die vollständige Integration der Natur in den kapitalistischen Produktionsprozeß – ein Gedanke, der bei Hegel seine philosophische Begründung findet: das Telos der Geschichte sei die Aufhebung der Natur durch den Geist. Ebenso ergeht es nach dem Willen der Theoretiker der ,Gleichberechtigung‘ der Frau: Restlos soll sie sich dem Mann und seinen Normen angleichen; der Anspruch auf Emanzipation verkümmert unter diesem Gesichtspunkt zu abstrakter Äquivalenz nach dem Gesetz des Warentauschs.128
Das Bündnis von Frau und Natur gründet in der biologischen Aufgabe der Frau als Gebärerin; es liefert zugleich die Legitimationsbasis für ihre Unterdrückung. Aus dieser begrifflich-historischen Verkettung von Natur- und Frauenschicksal resultiert 

eine Analogie, die in vielen Frauengesprächen wiederkehrt, nämlich die Gedankenverbindung von ,Frau kaputtmachen‘ und ,Natur kaputtmachen‘. Zwischen den Geschlechtern geht es nicht mehr darum, was du mir, was ich dir angetan habe. Leidensrollen sind vertauschbar. Die Frau spricht gar nicht mehr ausschließlich in eigener Sache. Sie steht als Teil des Kosmos gegen den kosmoszerstörenden Mann.129

Entspricht also – diesem Gedanken gemäß – die utopische Naturfülle in den Gedichten Sarah Kirschs der Utopie einer entfalteten Weiblichkeit? Manche der Gedichte, in denen es um die Analogie der zerstörten Liebe und der zerstörten Natur geht, ebenso solche, die dem weiblichen Subjekt die uneingeschränkte Freiheit des ,Raubvogels‘ zusprechen, scheinen darauf hinzudeuten.
Solche Argumentation greift jedoch zu kurz. Hier handelt es sich nicht um spezifisch ,weibliche‘ Prinzipien der Ästhetik. Sarah Kirsch knüpft zunächst lediglich an eine naturlyrische Tradition an, die – wer wollte das bestreiten – vor allem von Männern entwickelt worden ist. Die einfache Gleichung Frauenlyrik = Naturlyrik geht nicht auf; sie rekurrierte auf ein Geniedenken, demzufolge das Stück Poesie nichts wäre als der objektivierte Ausdruck eines Inneren, und unterschlüge damit den historisch bedingten Produktionsprozeß, dem auch das künstlerische Werk verpflichtet ist.
Allerdings verweist die besondere Form des Naturbildes darauf, daß die Lyrikerin auf der Suche nach adäquaten ,weiblichen‘ Ausdrucksmitteln ist. Das binäre Denken schlägt gewöhnlich die rationalen, logischen und wissenschaftlich-erkennenden Momente des menschlichen Bewußtseins dem männlichen, die sinnlichen, emotionalen und romantisch-schwärmenden dem weiblichen Prinzip zu. Das männliche Tun und Erfassen, so heißt es, basiert auf Überlegung und systematischem Wissen, das weibliche hingegen ist spontan und intuitiv. Der Mann handelt bewußt, die Frau instinktiv. So lassen sich die irrationalen, sprunghaften und märchenhaften Elemente der Gedichte Sarah Kirschs offenbar bruchlos auf die ,weibliche‘ Konstitution des poetischen Bewußtseins zurückführen – wie ja Schriftstellerinnen häufig eine Vorliebe für Märchen und Kinderbücher haben.
Auch daß es literarische Traditionslinien gibt, in deren Geschichte sich die Lyrikerin einreiht, ist kein Gegenargument, auch wenn es Männer waren, die als Exponenten dieser Traditionen hervorgetreten sind. Denn gerade diejenige Epoche, die für Sarah Kirsch als Vorbild gelten kann, die Romantik mit ihren antirationalen und unsystematisch aufblitzenden Impulsen, mit ihrem Interesse für Märchen und Volksliedgut, ist auch die erste Strömung in der Literaturgeschichte, zu der Frauen – Bettina von Arnim, Caroline Schlegel-Schelling, Karoline von Günderode – Entscheidendes beigetragen haben. Hier fällt erstmalig das Stichwort einer ,weiblichen Kultur‘:

Daß Creuzers Werk Die Mythologie und Symbolik der Alten (1810) sich mit mutterrechtlichen Gesellschaftsstrukturen befaßte (und Bachofen beeinflußte), scheint kein Zufall. Die Auseinandersetzung mit weiblichen Kulturformen und die romantische Wiederentdeckung antiker Frauengestalten (z.B. durch„Friedrich Schlegel) hat das romantische Frauenbild mitgeformt. ,Weibliche Kultur‘ war dabei (wie Schlegels Roman Lucinde zeigt) nicht nur an die Frauen als Trägerinnen gebunden, sondern bestimmte die gesamte stark effeminierte Bewegung!130

Von daher läßt sich der Rückgriff Sarah Kirschs auf eine stark mit romantischen Elementen durchsetzte Schreibweise als Hinweis auf eine weibliche Ahnenreihe verstehen, zumal die Autorin ausdrücklich eine solche anspricht: „Der Droste würde ich gern Wasser reichen“ (Z, S. 42) und:

Dieser Abend, Bettina, es ist
Alles beim alten. Immer
Sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben
Denen des Herzens und jenen
Des Staats. Und noch
Erschrickt unser Herz
Wenn auf der anderen Seite des Hauses
Ein Wagen zu hören ist.
(R, S. 27) 

Ebenso wie in der literarhistorischen Wahlverwandtschaft ließe sich in dem Rekurs der Lyrikerin auf Märchenphantasien, Naturmagie und Hexenmythologie ein authentisch weiblicher Impuls erkennen. Denn dies ist die Sphäre, in die die aus der Geschichte verbannten Frauen gedrängt worden sind. In der Umfunktionierung des Exils zum Drehpunkt der Welt ist aus dem Schimpfwort „Hexe“ ein Ehrenname für den neuen Feminismus geworden. Angesichts dessen fragt Silvia Bovenschen:

Steht das Hexenbild als Desiderat angesichts der unrealisierten weiblichen Potentiale? Sind die Hexen für den Feminismus das, was Spartacus, die aufständischen Bauern, die französischen Revolutionäre für die sozialistischen Bewegungen sind?131977, S. 259

Unter diesem Aspekt deckt sich das Hexenbild in den Gedichten Sarah Kirschs mit dem der neuen Frauenbewegung. Auch hier gilt die Hexe als Bild der befreiten, der entfesselten Subjektivität. Zugleich aber tritt in den Gedichten der andere, der negative Aspekt des Hexenbildes vollständig in den Hintergrund. Silvia Bovenschen nennt die Hexe das „Subjekt der Naturaneignung und Objekt der Naturbeherrschung“.132 In den Versen Sarah Kirschs bleibt nur der erste Gesichtspunkt, der mythische, maßgeblich. Der zweite dagegen, der durch den Mythos legitimierte historische, gelangt nicht an die Oberfläche der Gerüchte. Die Klage über Ausbeutung und Unterdrückung der Frauen erscheint – wenn überhaupt – bestenfalls implizit durch die Assoziationen, die im Bild der Hexe gegenwärtig zusammentreffen.
Wenngleich Sarah Kirsch also durchaus weibliche Traditionen aufgreift, verweigert sie sich doch dem Krieg der Geschlechter. Bisweilen scheint es sogar, als richteten sich ihre Aggressionen gegen das eigene Geschlecht. So berichtet etwa das Gedicht „Probe“ (Z, S. 15) von einem erbitterten Kampf zweier Frauen um einen Mann:

PROBE

So, sagte der Alte mit den geflochtenen Augenbrauen
Wer von euch beiden als erste trockene Hände hat
Soll ihn bekommen! Und tauchte unsere Hände alsbald
In den glasklaren Fluß ein, zu gleicher Zeit. Sie hielt
Die ihren gespreizt in die Sonne und waren kleiner als m
eine.
Ich schrie: Ich will ihn nicht! Ich schrie und schleuderte
Die Hände von unten nach oben, daß die Gelenke knackten
Die Tropfen flohen und heiß warn die Finger. Er bog sich vor Lachen.

Solcher Töne eingedenk fragt Adolf Endler, ob Sarah Kirsch etwa eine Denunziantin ihrer Geschlechtsgenossinnen sei.133 Fast mag es bisweilen so scheinen; da weiß etwa der ,Stern‘ – reißerisch aufgemacht und mit Liebesanekdötchen angereichert – über die Autorin zu berichten: 

Die Feministinnen in der Bundesrepublik haben Sarah Kirsch nach ihrem Umzug nach Westberlin vereinnahmen wollen. Sie hat das abgelehnt. „Ich hab die Männer viel zu gern, um gegen sie anzutreten“, sagt sie. „Wenn es schiefgeht, ist die Schuld nicht einseitig.“ Sie hat sich im Westen Versammlungen von Feministinnen angesehen und meint: „Da schlägt das Pendel zu weit nach der anderen Seite aus. Männer und Frauen sollten nicht gegeneinander arbeiten. Gegeneinander kann man nichts ausrichten.“ Und sie fügt hinzu: „Weiberkunst finde ich entsetzlich.“ In ihrer Wohnung im Park der Villa Massimo steht ein Buch mit dem Titel Texte zum Anfassen – Frauenlesebuch aus dem Münchner Frauenbuchverlag, das man ihr geschickt hat. Auf den Umschlag hat sie mit großen Lettern ein einziges Wort geschrieben: ,Quatsch‘134

Unnötig zu betonen, daß der Text von einem Mann stammt. Der Stil ist verleumderisch; dennoch möchte ich voraussetzen, daß die Geschichte stimmt, daß die Autorin sich wirklich so oder in ähnlicher Weise geäußert hat. Denn tatsächlich fallen in ihren Gedichten ja niemals ,männerfeindliche‘ Bemerkungen, wohingegen des öfteren eine Konkurrenzsituation gegenüber anderen Frauen dargestellt ist.135 Allerdings folgt daraus keineswegs, daß es sich bei den Gedichten Sarah Kirschs nicht um Frauenliteratur handelt.
„Weiberkunst“ – das heißt zunächst erst einmal: Kitschromane, bestenfalls Courths-Mahler und Marlitt, also literarisch Zweit- und Drittrangiges. So schrieb Virginia Woolf 1918 mit bösartiger Treffsicherheit: 

… die Frauen, die für Männer gehalten werden wollten, bei dem was sie schrieben, waren nichts Außergewöhnliches ,und wenn sie jetzt Platz gemacht haben für Frauen‘ die für Frauen gehalten werden möchten – die Veränderung ist kaum von Vorteil.136

Die Situation hat sich seitdem geändert, aber doch nicht grundlegend. Frauen werden als Künstlerinnen anerkannt, sofern sie den männlichen ästhetischen Normen Genüge tun – andere, ,weibliche‘ konnten sich aufgrund der Absenz von Frauen in der Literaturgeschichte nicht herausbilden. Und schlechte Literatur wird nicht dadurch geadelt, daß sie von Frauen stammt. Mit den ästhetischen Maßstäben verhält es sich ähnlich wie mit dem historisch gewachsenen Frauenbild: Es gibt keine Zeugnisse einer authentisch weiblichen Kultur, genauso wie das Selbstbildnis der Frauen verwiesen ist auf das von Männern gezeichnete Vor-Bild. Wenn heute Frauen ihre Verbundenheit mit der Natur betonen, die rationale bzw. wissenschaftliche Erkenntnis zugunsten der Intuition und die Medizin zugunsten der Kräuterheilkunde verwerfen, so ist das ebenso kurzschlüssig, wie wenn Frauenliteratur nunmehr die Resultate der literarischen Entwicklung kurzerhand ignoriert.
Die Problematik ist weitaus komplexer. Was eine ,weibliche Ästhetik‘ wäre, läßt sich nur fassen als das, was aktuelle Literatur von Frauen nicht sein kann. Weibliche Ästhetik ist nicht der induktive Begriff, der sich aus einer Vielfalt empirischer, von Frauen stammender Zeugnisse ergibt. Denn diese Zeugnisse tragen allemal noch den Stempel der patriarchalischen Unterdrückung. Eben darin erweisen sie sich als ,weiblich‘ determiniert. Für die Lyrik Sarah Kirschs heißt das, daß das spezifisch und strukturbedingt ,Feminine‘ ihrer Gedichte dort aufzusuchen ist, wo es der Autorin selbst nicht unbedingt bewußt ist und wo es über die oberflächlich feminin anmutenden Elemente wie Naturnähe und Romantizismus hinausgeht.
Was diese Gedichte fundamental von denen eines jeden männlichen Lyrikers unterscheidet, ist die Struktur der literarischen Subjektivität. Denn diese bestimmt sich als eine ,negative‘, d.h. als eine, die ihr Maß an einem anderen hat. Zwar sind alle Gedichte Sarah Kirschs ,rigoroseste Subjektsetzungen‘ (Fühmann). In ihnen bringt sich ein Ich in schonungsloser Offenheit zur Darstellung. Hier werden nahezu unzensiert Machtwünsche ausgesprochen, aber auch Enttäuschungen und Niederlagen eingestanden. Erweist sich nicht hier das lyrische Subjekt eher als ein männlich-starkes, als selbstbewußtes und widerstandsfähiges, kurz: als „der schöne Vogel Phönix“, der unbesiegbar der Asche entsteigt,137 aber kaum als eines, das sich in die weibliche Objekt- und Opferrolle drängen läßt? Und ist nicht in den Gedichten mehr Aggressivität und Rebellion, als daß sie Vorboten sein könnten des ,Versprechens des Friedens und des Endes der Gewalt‘, das für Herbert Marcuse die Frau verkörpert.138
Gerade indem Sarah Kirsch wiederholt und forciert „Ich“ sagt, spricht sie implizit auch von der weiblichen Ichlosigkeit.139 Ein selbstverständliches Ich, das männliche, hat es nicht nötig, sich vordergründig zu exponieren, denn niemand zweifelt an seiner Existenz. Die Frau aber muß laut und deutlich von sich selbst sprechen, damit sie als selbständige Subjektivität wahrgenommen und anerkannt wird. Sie muß die männlichen Maßstäbe an sich selbst anlegen, um sich ihrer bewußt zu werden.
Was weibliche Subjektivität ist, mißt sich allemal an der deutlicheren des Mannes. Weibliche Subjektivität vermochte sich historisch nicht zu entfalten – ihr Begriff bleibt dementsprechend determiniert als dem männlicher Subjektivität polar entgegengesetzt. Die Definitionen des Weiblichen bewegen sich folgerichtig im Rahmen negativer Kategorien: Das ,andere Geschlecht‘ hat Simone de Beauvoir die Frau genannt – das Andere, gesehen aus der Perspektive des Mannes. Und Luce Irigaray denkt diesen Gedanken im Rahmen der Psychoanalyse und Sexualwissenschaft weiter: Die Frau, so schreibt sie, erscheint als ein „Nicht-Geschlecht“ „oder als ein männliches Geschlecht, das sich umgestülpt hat, um sich selbst zu affizieren.“140 Die Frau kennt keine ihr eigentümliche Sichtweise; sie erlebt sie lediglich als unterschieden von der des Mannes, kann ihre Erfahrung indes nicht positiv bestimmen. Ihr fehlt die Sprache, sich ,authentisch‘ zu artikulieren; auch vor sich selbst bleibt sie das ,Andere‘, das Nicht-Ich.
Verschiedentlich sprechen die Gedichte Sarah Kirschs von dieser fatalen Erfahrung. So schreibt die Lyrikerin in „ilia cordata“ (R, S. 8):

Langsam nach Jahren geh ich
Vom Sein des Hunds in das der Katze
Ich will davon nicht reden nur so viel:
Ich wollte für ihn was verzeichnen
Ein poetisches Bild: das ging mir
Plötzlich wie Honig ein: die Linden
Fingen zu blühen an und ich hatte gesehn
Daß die Bäume Ähnlichkeit haben mit Mädchen
Blondhaarigen, die Strähnen rötlich
Leichthin gelockt. Die großen Mädchen
Man sieht in die
Halbkurz geschnittenen Locken von unten. Ne Spur
Von Ohrringen, baumelnd, Kugeln
Hochverschlossene Knospen inmitten
Sich verschleudernder spreizender Blüten – ich dachte bloß
Nun seh ich schon Mädchen? Doch mich
Betraf das nicht, ich sah seine Augen.

Die Wahrnehmungen, die hier versinnlicht und bildlich repräsentiert werden, sind nicht, wie es zunächst scheint die des weiblichen Subjekts, sondern die des männlichen Partners. Als einziges äußeres ,Objekt‘ steht dieser jenem gegenüber, und alles, was äußeres Phänomen scheint, ist es nur für ihn; für das weibliche Ich hingegen bleibt lediglich die spiegelbildlich gebrochene Erscheinung. Die Frau ist in ihrem eigenen Bewußtsein und in dem der gesellschaftlichen Öffentlichkeit – aus sich selbst heraus nichts, denn sie hat als einzigen Bürgen der Objektivität den männlichen Partner. Alles, was sie darstellt, vermittelt sich über den Mann, den sie ,hat‘ – sei es als Geliebten oder als beruflich Untergebenen. Daraus erklärt sich die zentrale Rolle, die Liebe, Familie, Beziehungen usw. im Denken von Frauen spielen. Es fällt mir kein Lyriker ein, der fast ausschließlich Liebesgedichte geschrieben hätte; immer gibt es da noch die großen ,Themen‘, die ,Sache‘, um die die Gedanken des Mannes kreisen. Hingegen widmet sich ein überwiegender Teil der Frauen, die sich ihren Platz in der Literaturgeschichte gesichert haben, dem einzigen großen Thema der Liebe. Einige davon – man denke etwa an Simone de Beauvoir, an Else Lasker-Schüler, an Anais Nin – sind mehr über ihre Geliebten als über ihre Werke zu Weltruhm gelangt.
Für die Gedichte Sarah Kirschs, speziell auch für ihre Naturbildlichkeit, wirkt diese Erfahrung konstitutiv. Das lyrische Subjekt identifiziert sich allemal über den angesprochenen Partner, über den Geliebten:

DIE ÜBERSCHWEMMUNG

Schwarze Spiegel Doppel-Landschaften Spielkartenschönheit
Die Wolke grüßt ihren Zwilling, der Himmel ein Kreis.
Ein Stamm, zwei Kronen jeder Baum.

Dein Leib bin ich, du lächelst dir zu. (R, S. 63)

Das Naturbild, die Spiegelung der Naturelemente im Wasser wird hier zur allegorischen Darstellung des partnerschaftlichen Ideals. Die in sich gedoppelte Einheit des Bildes, die optische Vision repräsentiert dem lyrischen Ich das Wunschbild, die Utopie von der vollkommenen Liebesharmonie. Aber die poetische Sprache ist verräterisch; wo das Subjekt von dem erträumten Glück sprechen will, spricht es implizit zugleich von dem patriarchalisch bestimmten Maß dieses Glücks. Spricht die Utopie der Liebe von der gleichberechtigten Partnerschaft zweier Liebender, so das Abbild der wirklichen und verwirklichten Liebesbeziehung von der Herrschaft des Mannes. Denn der Schlußvers trüge – bei spiegelbildlicher Umkehrung – eine andere Dimension in sich: Gesetzt, die letzte Zeile lautete: „Mein Leib bist du, ich lächle mir zu“, so wäre offensichtlich, daß das Ich narzistisch und hermetisch durch sich selbst determiniert wäre. Sarah Kirsch aber wählt die umgekehrte Sprachform; auf diese Weise redet ein Ich, das sich selbst aus der Beziehung zum Partner herleitet, nicht umgekehrt die Beziehung aus seinem Selbst. Die ,negative‘, über einen anderen vermittelte Beziehung zu sich selbst aber ist charakteristisch für die Struktur der weiblichen Subjektivität, die sich eben dadurch von der männlichen unterscheidet.
Was solchermaßen als die ,weibliche Schreibweise‘ bei Sarah Kirsch erscheint, d.h. vor allem als Ausdruck und Darstellung einer ,weiblichen‘, einer ,negativen‘ Subjektivität, läßt sich keineswegs als „weibliche Ästhetik“ postulieren. Weibliche Ästhetik hieße Aufhebung der männlichen, nicht einfache Negation derselben. Eine solche hätte sich geschichtlich zu entwickeln, sie läßt sich nicht setzen. Die ,weibliche Schreibweise‘ hingegen arbeitet mit Mitteln und Techniken einer noch patriarchalisch determinierten Ästhetik; sie nutzt diese, um der Selbst- und Subjektwerdung der Frau zu ihrer Darstellung, ihrem artikulierten Ausdruck zu verhelfen.

Ja: Ökonomisch und juristisch sind wir den Männern gleichgestellt, durch gleiche Ausbildungschancen und die Freiheit, über Schwangerschaft und Geburt selbst zu entscheiden, weitgehend unabhängig, nicht mehr durch Standes- und Klassenschranken von dem Mann unserer Wahl getrennt; und nun erfahren wir (wenn es wirklich Liebe ist, was wir meinen, nicht Besitz und Dienstleistung auf Gegenseitigkeit), bis zu welchem Grad die Geschichte der Klassengesellschaft, das Patriarchat, ihre Objekte deformiert hat und welche Zeiträume das Subjektwerden des Menschen. – von Mann und Frau – erfordern wird.141

Silvia Volckmann, aus Silvia Volckmann: Zeit der Kirschen? Das Naturbild in der deutschen Gegenwartslyrik: Jürgen Becker, Sarah Kirsch, Wolf Biermann, Hans Magnus Enzensberger, Verlag Anton Hain Meisenheim, 1982

 

Andrea Marggraf: Ein Besuch bei Sarah Kirsch

 

 

Versprengte Engel – Wolfgang Hilbig und Sarah Kirsch ein Briefwechsel
Lesung in der Quichotte-Buchhandlung in Tübingen am 8.12.2023 mit Wilhelm Bartsch und Nancy Hünger sowie Marit Heuß im Studio Gezett in Berlin.
Begrüßung: Wolfgang Zwierzynski, Buchhandlung Quichotte
Einleitung: Katrin Hanisch, Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft e.V. 

 

Zum 60. Geburtstag der Autorin:

Jens Jessen: Versteckte Aggressivität
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.4.1995

Zum 65. Geburtstag der Autorin:

Jürgen P. Wallmann: Verspielte Vi­sion
Rheinische Post, 14.4.2000

Heinz Ludwig Arnold: Ein paar Abgründe überwinden
Frankfurter Rundschau, 15.4.2000

Peter Mohr: Meine schönsten Akwareller sint weck
General-Anzeiger, Bonn, 15./16.4.2000

Jürgen Israel: Das Herz hat einen Riss
Unsere Kirche, 16.4.2000

Horst H. Lehmann: Bibliophile Werkausgabe auf Büttenpapier
Neues Deutschland, 17.4.2000

Hans Joachim Schädlich: Sarah. Ein Geburtstagsgruß
Neue Rundschau, Heft 3, 2000

Zum 70. Geburtstag der Autorin:

Marion Poschmann/ Iris Radisch: Man muss demütig und einfach sein. Gespräch
Die Zeit, 14.4.2005

Michael Braun: Landschaften mit Endzeit-Boten
Basler Zeitung, 15.4.2005
Unter dem Titel Idyllische Apokalypse
Stuttgarter Zeitung, 15.4.2005

Helmut Böttiger: Hier ist das Versmaß elegisch
Badische Zeitung, 16.4.2005

Michael Braun: Die Schmerzzeitlose
Der Tagesspiegel, 16.4.2005

Johann Holzner: Das Leben verlängern
Die Furche, 14.4.2005

Christian Eger: Unter dem Flug des Bussards
Mitteldeutsche Zeitung, 16.4.2005

Alexander Kluy: Den Himmel vergleichen
Frankfurter Rundschau, 16.4.2005

Dorothea von Törne: Schütteln und weiterleben
Literarische Welt, 16.4.2005

Gunnar Decker: Fisch, der am Grund lebt
Neues Deutschland, 16./17.4.2005

Samuel Moser: Verse vom Rand der Welt
Neue Zürcher Zeitung, 16./17.4.2005

Hans-Herbert Räkel: Ein Elefant muss über die Alpen
Süddeutsche Zeitung, 16./17.4.2005

Sabine Rohlf: Läuse bei Mäusen in der Umgebung von Halle
Berliner Zeitung, 16./17.4.2005

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Andrea Marggraf: „Bevor ich stürze, bin ich weiter“
Deutschlandradio Kultur, 13.4.2010

Erich Malezke: Natürliche Distanz zur Außenwelt
SHZ, 15.4.2010

Jürgen Verdofsky: Remmidemmi in Tielenhemmi
Frankfurter Rundschau, 15.4.2010

Wilfried F. Schoeller: Hier bin ich gern und immerdar
Der Tagesspiegel, 15.4.2010

Sarah Kirsch zum 75. Geburtstag
Thüringer Allgemeine, 16.4.2010

Rebekka Haubold: Sarah Kirsch feiert 75. Geburtstag
Radio für Kopfhörer, 16.4.2010

Gunnar Decker: Pirol unter Krähen
Neues Deutschland, 16.4.2010

Brita Janssen: Sarah Kirsch zum 75. Geburtstag
BZ, 16.4.2010

Peter Mohr: Meine Naivität war mein Glück
literaturkritik.de, Mai 2010

Michael Braun: „Alles ist auffindbar in meinen Spuren“
Konrad Adenauer Stiftung, April 2010

 

 

Zum 5. Todestag der Autorin:

Heidelore Kneffel: 1997 bei Sarah Kirsch in Tielenhemme
nnz, 5.5.2018

 

 

Zum 10. Todestag der Autorin:

Karin Kisker: Zum zehnten Todestag der Dichterin Sarah Kirsch
Neue Nordhäuser Zeitung, 5.5.2023

 

Wulf Kirsten: Rede auf Sarah Kirsch zur Verleihung der Ehrengabe der Heine-Gesellschaft 1992.

 

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Die Sarahkirsch“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Kirsch, das“.vv

 

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