Sascha Anderson: Da ist …

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Sascha Anderson: Da ist …

Anderson-Da ist …

VIII

Georg L., der Freund, wird eines Tages der Flügel müde sein.
aaaaaaaaaaDann wird es
ihm gehen wie mir. Ach, ach, hätte ich doch
aaaaaaaaaaden Kindern die Kunst nicht gelebt.
Ich weiß schon, es bringt nichts, eine Geschichte wie
aaaaadie
aaaaaaaaaazu erzählen [von
Wolfgang H.]. Sie handelt von einem Fisch [einem Hering],
aaaaaaaaaaeinem toten. Tot wie
der Thüringer, der ihn kaufte eines Tages an einem Platz
aaaaaaaaaanamens Kollwitz, [tot,
alle drei]. So oder so schlägt sich das Ich durch die Zeit.

Wenn es abstürzt [das Ich], stürzen alle Kritiker ab, die
aaaaaaaaaades Lebens [Was heißt das
schon Schicksalsgemeinschaft.] und die der Kunst. „So wird offenbar
der Fortschritt der Sprache durch die Vernunft und der Vernunft
aaaaaaaaaadurch die
Sprache, kaum daß sie einige Schritte getan und in ihr schon Stücke
aaaaaaaaaader Kunst […]
existieren.“ Wer jetzt von Entfremdung,
aaaaaaaaaaEntfremdung z.B. zwischen Autor
und Text, spricht, weiß nichts, nichts von der Wirklichkeit.

 

 

 

„DA IST …

[die] dreiunddreißig [neuen] Gedichte [S. Andersons] über Kunst oder Leben“ entziehen sich jedwedem Blick in den affirmativen, vom Begehren angehauchten Spiegel. Vom Nicht-Sein und nicht von der Verallgemeinerung zurück auf die Bedeutungsträger zielend, vertrauen die 439 Verse [1. inklusive Leerzeilen, 2. ihrerseits quellenkundig und 3. offensichtlich „objet sonore“] der gesprochenen, autobiografisch gebrochenen Stimme mehr als jedem laut-malerisch schriftgestützten Anspruch. „Die Kunst ist zu einer vom Bild maskierten Metapher verkommen und reproduziert sich kapitalträchtig als Garantiebescheinigung in den Schubladen des Lebens“, sagt Anderson; dann beginnt „Da ist …“, dann öffnet es uns den void-gesättigten, zuspruchslosen Raum – den der Ent-täuschung –, dann schließt es ab mit einer Öffentlichkeit der Kunst, die ohne ihre okkupative Inszenierung nichts wäre, als das, was jemand nicht für sie bezahlt, um schließlich, wie jede gute Kunst, vor uns zu liegen als traurig radikales Angebot einer aus der Chronologie gefetzten Partiture trouvé. (C. T.)

Gutleut Verlag, Ankündigung

 

Sascha Anderson: Literatur ohne Freunde?

– Von der Kunst des Verrats zur Kunst über den Verrat. –

Wie viele andere Poeten aus der DDR erlebte Sascha Anderson die „Wende“ sowohl sozial als auch künstlerisch als radikalen Einschnitt in seiner Biographie. Zu den Umstellungen angesichts eines neuen politischen und ökonomischen Systems kam aber für den 1953 in Weimar geborenen Dichter und Kunstproduzenten ein weiterer Umbruch hinzu, als er kurz danach als Stasi-Informant enttarnt wurde. Mit den erhitzten Debatten und erschütternden Erkenntnissen über sein geheimes Doppelleben als Stasi-IM in den Nachwendejahren 1991/92 brach seine Karriere als Dichter zusammen – viele würden sagen zu Recht. Der Verrat an den Freunden war zwangsläufig zu einem „Verrat an der Kunst“1 geraten – eine Einschätzung, die für viele heute noch gilt. Während andere Dichter in den Wendejahren ihre Leserschaft oder Verlagshäuser, manchmal sogar beides verloren, waren für Anderson noch härtere Zeiten angebrochen. Unter den DDR-Autoren nimmt er deswegen einen gesonderten Platz ein, der ein besonderes Licht auf die moralische Dimension der 1989er-Revolution zu werfen vermag. Im Gegensatz zu anderen hätte Anderson gern als Poet weitergearbeitet, aber als Ergebnis der Stasi-Enthüllungen kamen ihm nicht nur sein Land und Lesepublikum, sondern auch sein ganzes künstlerisches Milieu, samt seinen engsten Freunden, abhanden. Anderson verschwand mehr oder weniger als persona non grata aus der deutschen Öffentlichkeit: er schrieb sporadisch weiter, machte immer neue Anlaufversuche, aber die Resonanz auf seine künstlerischen Arbeiten blieb nach 1991 höchst gespalten. Im Folgenden wird zu untersuchen sein, inwiefern sein Leben und Werk von dem doppelten Einschnitt geprägt sind. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, inwieweit man am Beispiel Anderson die wechselhafte Beziehung zwischen Ästhetik und Politik, Ästhetik und Moral in den letzten dreißig Jahren anschaulich machen kann.
Der doppelte Umbruch macht eine Aufteilung seiner Vita in drei Etappen nötig: die Vorwendeetappe, die Übergangsphase nach der Wende, aber vor der Stasi-Enttarnung und die Phase nach den Enthüllungen. Es erscheint mir wichtig, die zweite, kurzlebige Phase hinzuzufügen, da man vor allem an ihr ersehen kann, wie Produktion und Rezeption von Andersons Werk verlaufen wären, wenn es zu den Stasi-Enthüllungen nicht gekommen wäre. Damit wird meines Erachtens leichter kenntlich, welche Auswirkungen die Berührung mit der Staatssicherheit auf Ruf und Leben eines Autors haben konnte.

Ästhetik und Politik vor 1989: Der Untergrund-Poet und die geheime Kunst des Verrats
Besuchte man Anfang der 1980er-Jahre Ost-Berlin, kam man schwer um den rührigen Nachwuchsdichter Sascha Anderson aus Dresden herum. Wie viele Autoren seiner Generation, die aus dem offiziellen Kulturleben der DDR ausgeschlossen waren, fristete er sein Dasein in der Illegalität und Semi-Illegalität der zweiten Hinterhöfe, Selbstverlage, Eigendruckereien und illegalen Lesungen im politisch-literarischen Untergrund des Berliner Stadtteils Prenzlauer Berg. Die kulturpolitische Eiszeit, mit der die DDR auf die Liberalisierungstendenzen in Polen und anderswo im Ostblock reagierte, machte alle nicht genehmigte Kunst zu einem Politikum, denn mit ihren diversen Aktivitäten betrieben die Künstler im Prenzlauer Berg und auch andernorts das, was die Staatssicherheit „politisch-ideologische Diversion“ und „politische Untergrundtätigkeit“ nannte. Obwohl der Prenzlauer Berg, wie Gerrit-Jan Berendse bemerkt,2DDR-Literatur. Berlin 1999, S. 30 alles andere als homogen war und auch mehrere Generationen umfasste, beäugte der Staat diese Aussteiger alle gleichermaßen mit wachsendem Misstrauen.
Anderson war zweifellos ein wichtiger Akteur in der illegalen Kulturlandschaft der DDR Anfang der 1980er-Jahre – manche nannten ihn den Spiritus rector. Er ragte vor allem durch die Vielfalt und Intensität seiner Aktivitäten hervor, die oft von Kollaborationen mit Malerfreunden, Fotographen und auch Musikern getragen waren. Von vielen als ,neuer Biermann‘ begrüßt, fand Anderson rasch Anschluss unter den eher ästhetisch ausgerichteten und sprachspielerisch interessierten Dichtern des Untergrunds. Er gehörte zum Kreis der experimentellen, bisweilen dadaistisch beeinflussten Dichter wie Bert Papenfuß, Andreas Koziol und Stefan Döring sowie der abstrakten Maler Ralf Kerbach, A.R. Penck und Cornelia Schleime. Seine ersten sieben bis acht Publikationen gehören in diese Phase, wobei alle bis auf eine in westdeutschen Verlagen erschienen sind. Es war seine produktivste Phase, bevor er 1986 in den Westen ging, und, wie zu sehen sein wird, auch die für die Stasi interessanteste Periode seines Schaffens.
Im Gegensatz zu anderen Schriftstellern wie etwa Lutz Rathenow, dem die politische Aussage und Wirkung seiner Lyrik wichtiger war als die ästhetische Form, verstanden sich Anderson und seine Freunde als eine Art Elite unter den Nachwuchsdichtern. Sie legten Wert darauf, moderne bzw. postmoderne Alternativen zum herrschenden Dogma des Sozialistischen Realismus zu liefern. Ob in der Tradition der europäischen Avantgarde, des Dadaismus, der Wiener Gruppe, der Lautpoesie oder der l’art pour l’art, sie erteilten infolge ihrer Vorliebe für postmoderne Theoretiker wie Michel Foucault, Jacques Derrida und andere dem literarischen Mainstream eine klare Absage.3 Politische Inhalte wollten sie partout nicht auf herkömmliche realistische oder transparente Weise vermitteln. Sie machten aus der Notwendigkeit, gesellschaftliche und politische Botschaften zu verschlüsseln, um Zensur und Verfolgung zu entgehen, dezidiert eine Tugend wie auch ein Programm, für das Peter Böthig den Begriff der „Poesie des Unterschieds“4Jahren. Berlin 1997, S. 60ff. prägte. In diesem Sinne begriffen sich Schriftsteller wie Anderson als eine Art ästhetisierte engagierte Literatur oder, um mit einem Begriff von Willi Huntemann zu sprechen, als „Engagement zweiter Ordnung“.5Engagements nach der Wende“. In: Willi Huntemann; Malgorzata Klentak-Zabłocka; Fabian Lampart; Thomas Schmidt (Hg.): Engagierte Literatur in Wendezeiten. Würzburg 2003, S. 33–48, hier S. 42
Andersons erste Buchpublikationen im Westen wurden von Kritikern einstimmig lobend rezipiert. Besonders der Band Jeder Satellit hat einen Killersatelliten, der 1982 bei Rotbuch erschien und im Osten zum Kultbuch avancierte, wurde als Durchbruch gefeiert. Anderson wurde als „Rimbaud-Typ“ bezeichnet, als „ein einzelner, der sich vehement lossagt von den Bindungen an das Kollektiv“, und seine Gedichte wurden als „Versuch einer Befreiung“ gewertet.6 Man fand Gefallen an seiner frischen, harten, verschlüsselten Sprache, vor allem aber an der existentiellen Thematik seiner Gedichte, den düsteren Fragestellungen von Tod, Entwurzelung und Gefängnis sowie der vollständig desillusionierten Sicht auf die Welt.
Dass sich hier Politik und Poesie in unterschiedlicher Weise vermischten und befruchteten, machte den Reiz von Andersons Lyrik aus, wie auch derjenigen diverser anderer Talente des Prenzlauer Bergs wie Uwe Kolbe, Bert Papenfuß oder der zwanzig Autoren des Bandes Berührung ist nur eine Randerscheinung (1985), mit dem die Generation im Westen debütierte. Es herrschte dort vor allem ein anderer, radikalerer Ton im Umgang mit dem maroden Staat, den Anderson etwa im Gedichtzyklus „eNDe“ oder im Anschneiden des Tabuthemas der Entfremdung locker verhöhnte:

Und so spalt’ ich mich, ihr Lieben
und bin immerfort der Eine
ich weiss dass die selben wiederkehren
nur um andere zu sein
.
7

Zerrissenheit und Gespaltenheit sind durchgängige Themen in den ersten Werken, so etwa in dem Gedicht „ich bau mir meine mauer selbst durch den leib, / die eine hälfte fault sofort / die andere mit der zeit“8 oder in dem später als Schlüsseltext ausgelegten Gedicht, „ich bin mary westmacott“:

ich bin mary westmacott
&; ausserdem dass
ich unter dem namen s. anderson
worte für den rosenkranz
der generationen
jage in die doppelherzalben
daraus die söhne
das orakel des achten januar lesen
[…]
aber das ist natürlich nicht alles
denn ich bin mary westmacott
& verlor die angst
[…]
& auch das ist noch nicht alles
[…]
& auch das ist noch nicht alles
denn mary westmacott & das drahtverhau sind
lüge ich starb als die zeit von jetzt zu
jetzt ging unter der bahnhofsuhr
.9

Dieser sprachkritische Ansatz stieß im Westen besonders auf Resonanz, da er nicht nur das Dilemma einer restriktiven Kulturpolitik, sondern auch die radikale Vereinzelung eines am Rande einer autoritären Gesellschaft lebenden Dichters haarscharf wiederzugeben schien. Andersons Leistung schien eher in der Erprobung einer schonungslosen und expressiven Metaphorik zu liegen, die „förmlich unter dem Ansturm der Phantasiebilder [barst]“,10 als im Experimentieren mit der poetischen Form.
Andersons enorme Produktivität erhöhte seine Attraktivität für die Staatssicherheit, die den Druck auf ihn verstärkte, als Inoffizieller Mitarbeiter für sie zu arbeiten. Die Stasi glaubte, wie Anderson meinte, mit ihm einen „dicken und treuen Fisch an der Angel“ zu haben, der den „Schwarm“ der Intellektuellen hinter sich her in „flache Gewässer“ ziehen würde.11 Obwohl die Anwerbungsversuche bereits auf die Jahre 1973 bis 1975 zurückgingen und Anderson offiziell ab 1975 als Informant in den Akten geführt wurde, kam es erst Ende 1980, nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, zu einer kontinuierlichen Zusammenarbeit mit dem MfS.12
Seit bekannt ist, wie untrennbar Andersons Aufstieg als Poet mit seiner geheimen Karriere als Spitzel verbunden war, hat sich in der Rezeption seiner Texte der Schwerpunkt in Richtung einer autobiographischen Lesart verlagert. Damals, so Gabriele Dietze, Lektorin des Rotbuchverlags, anlässlich der Neuauflage des ersten Anderson-Bandes im Druckhaus Galrev 1998, „dachte man unangestrengte ,postmoderne‘ Dissidenz zu erkennen, heute glaubt man Verrat und Selbstverrat herauszuhören“.13 In der Tat lassen sich nun viele Gedichte als sich qualvoll abgerungene, verschlüsselte Beichten eines Doppellebens lesen. Besonders das bekenntnisartige Gedicht „ich bin mary westmacott“ bietet reichlich Gelegenheit, an einer solchen Lesart zu feilen. Mary Westmacott war das Pseudonym der englischen Krimiautorin Agatha Christie, unter dem sie die sechs Romane schrieb, die als ihre besten gelten. In Andersons Gedicht kommen meines Erachtens der Verweis auf die „doppelherzalben“ und derjenige auf die Identität als endlosen Prozess des Entschlüsselns einem regelrechten Bekenntnis am nächsten.
Auch in anderen Gedichten blitzen Augenblicke oder Situationen auf, die nachträglich auf Andersons Stasi-Verstrickung hinzudeuten scheinen:

eine tages wurde ich geboren
auf einem stern den mein vater gerade monika nannte
[…]
ich lernte dass der zufall zwei polizisten sind
die sich auf dem Schnittpunkt von raum und zeit begegnen14

Auch das Bild des ,Fremdgehens‘ der „monologe“ suggeriert, dass der Verrat, welcher Art auch immer, mit einem fundamentalen existentiellen Dilemma verbunden ist, auf das seit 1989 verschiedene Kritiker und Literaturwissenschaftler aufmerksam gemacht haben:

die monologe gehen fremd
über einen bahnhof
zwischen woher und wohin
15

Das Thema des Verrats, das zuvor vorwiegend in Beziehung zur Liebesthematik rezipiert wurde – denn auch seine Liebeslyrik wurde sehr wohlwollend aufgenommen16 – erwies sich bei genauerer Lektüre als Leitmotiv seines ganzen Werks, wie in dem „mary westmacott“-Gedicht zu sehen ist:

& verlor die angst
meinen körper mit deiner hand
zu berühren & den roman bis zum blutigen
ende im drahtverhau
zu treiben was auch bitte sehr
nur eine metapher ist die ich verrate
17

Wie sehr Anderson in den Geheimdienst verstrickt war, zeigt allein der Umfang seines elf Bände umfassenden Stasidossiers, in dem hunderte von Treffberichten über diverse Personen aus seinem Umfeld, hauptsächlich aus den Jahren 1980 bis 1986, archiviert sind. In diesen Bänden berichtete er, nach dem Resümee von Holger Kulick, wie ein fleißiger „Dorfpolizist“18 eifrig, kontinuierlich und lückenlos über alle ihm wichtig erscheinenden Vorkommnisse: nicht genehmigte Aktivitäten im Untergrund, unangemeldete Lesungen, halblegale Druckprojekte, Westveröffentlichungen, die geplante, aber nicht realisierte Gründung eines unabhängigen Schriftstellerverbands und allerlei kollektive Aktionen wie die Lesewoche Zersammlung und die Konzept-Ausstellung Wort & Werk.19 Dass die Loyalität gegenüber der Stasi einen Spagat von ihm erforderte, der ihn innerlich immer mehr spaltete, ist seiner Akte nicht anzumerken. Mit der Widersprüchlichkeit seiner Tätigkeit, dass er einerseits bestrebt war, sich und seine Freunde im künstlerischen Untergrund zu profilieren, während er andererseits instruiert wurde, allzu politische Aktivitäten einschließlich seiner eigenen zu unterbinden, glaubte er anfangs zumindest leben zu können. Jahrelang gelang es ihm, die Stasi mit wertvollen Informationen zu beliefern, wobei er versuchte, den Untergrund auf eine ästhetische Linie einzuschwören und seine Zeitgenossen von allen offenkundig politischen oder provokativen Aktionen abzuhalten.20 Obwohl keine expliziten Richtlinien, was die ästhetische Richtung der Literatur sein sollte, in den Stasi-Akten zu finden sind, wird Anderson vermutlich angewiesen worden sein, sogenannte „Differenzierungsmaßnahmen“ zu betreiben, wie er in seiner Autobiographie erklärt:

[D]ie Staatssicherheit [begann] auf Veranlassung des Politbüros ein Jahr später die imaginäre Familie […] auseinander zu dividieren.21

In der Tat schienen Anderson und sein Ko-Informant Rainer Schedlinski die Szene spalten zu wollen. Ihre subtilen Zersetzungsmaßnahmen liefen darauf hinaus, dass sie die systemkritischeren Dichter diffamierten – sie etwa als paranoid und ihre Dichtung als dürftig abkanzelten22 – und isolierten, um dabei eine perfide „Kunst des feinen Unterschieds“23 zu praktizieren. Andersons Loyalität galt ohne Zweifel seinen engen Vertrauten in der Szene, seiner eigenen künstlerischen Karriere und dem Staatssicherheitsdienst gewiss auch. Er beschreibt die Situation folgendermaßen, dass er sich, in Umkehrung eines romantischen Mythos, wie ein „Schatten [vorkam], der seinen Schlemihl verkauft hatte.24 Nach seiner Enttarnung hielt er an dem Glauben fest, dass er mit der Hilfe der Stasi enorm viel für seine Generation geleistet habe, und weigerte sich, eine negative Bilanz zu ziehen bzw. sein Leben als „Defizit“25 anzusehen.
Bei Andersons nahezu pathologischen Selbstinszenierungsspielen, in denen er die Identitäten so oft wechselte wie Kleidungsstücke, ist es schwer zu eruieren, welche Auswirkungen sein Doppelleben auf sein eigenes Schaffen hatte. Die Zusammenarbeit mit der Stasi gab ihm Rückendeckung für die eigenen wagemutigen Projekte, da er durch Rücksprache mit seinem Offizier herausbekam, wo die Grenzen des Sagbaren und Druckbaren gerade lagen. In dem Klima des Misstrauens und angesichts einer unberechenbaren, spättotalitären Kulturpolitik konnte das kleine Wissen, das er bei seinen geheimen Treffen mit der ,Firma‘ erwarb, immer einen kleinen Wissensvorsprung bedeuten. Auf die Dauer war der Spagat jedoch nicht auszuhalten, was dazu führte, dass Anderson 1986 einen Ausreiseantrag stellte und genehmigt bekam. Die Spannung, an der er letztlich scheiterte, nahm er bereits 1982, nach der Ausreise des ersten seiner Freunde, Ralf Kerbach, in einem Gedicht vorweg:

ich bin kein artist ich mache kein spagat
ich hänge mit meinem weißen hals im heißen draht
ich bin kein artist also bleibe ich hier
auch wenn mir dabei noch das herz gefriert
26

In seinen Akten findet sich ein erstaunlich emotionsgeladenes und ehrliches Statement, in dem er 1986 bittet, in den Westen gehen zu dürfen:

ich habe versucht meine literarische arbeit und meine arbeit für das MfS konsequent bis zur schizophrenie zu trennen. Das war für mich die einzige möglichkeit beides gut zu machen, aus verschiedenen gründen wohne ich jetzt in berlin, habe starke persönlichkeitsprobleme und lebe getrennt von ralf kerbach, der in west-berlin lebt (vorher dresden)27

Zum Abschied bietet er an, im Westen weiterhin für die Stasi tätig zu sein, obwohl unklar ist, ob dies ein ehrlich gemeintes Angebot war angesichts des Eingeständnisses, dass es ihm immer schwerer fiel, „in der ddr mein literarisch-gesellschaftliches denken und meine arbeit für das MfS ohne schaden meiner physis und psyche zu erfüllen“.28
Den Akten ist es nicht zu entnehmen, ob Anderson im Westen weiter für die Stasi arbeitete, denn diese Unterlagen sind tatsächlich verschwunden, aber in seiner Autobiographie erwähnt er vereinzelte Verabredungen, etwa mit seinen Führungsoffizieren Reuter und Heimann in Budapest im August 1989, bei denen sie „keine Informationen mehr [wollten und] Selbstgespräche [führten]“.29 Wenige Monate später, im November 1989, als die Grenze geöffnet wurde, traf er sich ein letztes Mal auf einem Parkplatz mit den Offizieren, wo ihm versichert wurde, „sie seien dabei, ihre Archive zu vernichten und sich sicher, daß es keine Regierung gäbe, die ohne sie auskäme“.30
Brunnen, randvoll (1988), Andersons letzter Band vor 1989, entstanden nach Beendigung seiner Spitzeltätigkeit und seiner Ausreise, nimmt einen besonderen Platz in seinem Werk ein. Er versammelt fünf Erzählungen über seine Erfahrungen im Gefängnis Ende der 1970er-Jahre. Er scheint Zeugnis von einem höchst individuellen Trauma abzulegen und zugleich „Metapher der Zukunftslosigkeit“31 einer Generation zu sein, wie Elke Erb nach seiner Enttarnung als Spitzel befand. Vor der Enttarnung waren Rezensenten sich einig, dass Anderson mit seiner „kräftigen Scheiß-dinix“32https://www.planetlyrik.de/sascha-anderson-brunnen-randvoll/2010/05/, eingesehen am 2.9.2013 Sprache ein mehr als adäquates Mittel für die Gefängnisthematik gefunden hätte. Man zeigte sich von der schieren Wucht dieser traumatisierten Sprache betroffen und wertete die Gefängnismetapher als ,,maßstabsgetreue[s] Modell für eine totalitär regierte Gesellschaft“.33 Die verschlüsselten Gedichte, die, wie Peter Böthig damals glaubte, von Tod und Leben berichten, seien „ihrer zwingenden Bezüge zur repräsentierten Welt und zum Sprechenden entkleidet“:

Im Prozeß der Verwandlung der Dinge zu Zeichen, der Worte zu Hülsen, der Gesten zu Echos von Gesten: wo alles Metapher sein kann und das Gehörtwerden vom goodwill des Gegenübers abhängt, […] versuchen die Gedichte einen poetisch lebbaren Raum des Miteinanders von Menschen zu errichten.34

Nach 1989: Ein kurzes Zwischenspiel und schlechte Zeiten für dunkle Lyrik
Mit diesem „goodwill des Gegenübers“ war es aber im Falle Andersons nach 1991 endgültig vorbei. Herrschten anfangs noch Zweifel, ob Anderson von Wolf Biermann in seiner Büchner-Preis-Rede vom 19. Oktober 1991 zu Recht als „Sascha Arschloch“ denunziert worden sei, so stellte sich sehr rasch heraus, dass seine Stasi-Tätigkeit von zahlreichen Opfern mühelos belegt werden konnte, da sie alle Duplikate von Berichten eines „David Menzer“ oder „Fritz Müller“ in ihren Akten vorfanden. Anderson wies alle Vorwürfe zurück, in der Hoffnung, das Ausmaß seiner Spitzeltätigkeit so lange herunterspielen zu können, bis sein vollständiges Dossier, das verschollen war, auftauchte.
Bis dahin hatte er seit der Wende beim Druckhaus Galrev gearbeitet, das er und sein Freund Schedlinski gegründet hatten, und 1991 den Gedichtband und Essay Jewish Jetset herausgebracht. Die Rezeption dieses Bands war gemischt, obwohl man zu dieser Zeit noch nichts von seiner Stasi-Verstrickung ahnte. Daran ist ersichtlich, wie sehr sich die Zeiten auch ohne die Stasi-Erkenntnisse für die Produktion von Kunst geändert hatten. Evident ist auch, wie schwer es Dichtern des Untergrunds fiel, sich nach 1989 umzuorientieren. Die wenigsten konnten fortfahren wie bisher. Einige Kritiker, wie etwa Uwe Hübner, sprachen von einer ,,glückliche[n] Symbiose von Grafik und Lyrik“, denn der Band enthielt Zeichnungen von A.R. Penck, die „vom höchsten Niveau“ seien.35 Christa Fenzl weigerte sich, in Anderson nur einen „Speichellecker der Mächtigen“36 zu sehen und zeigte sich fasziniert von bestimmten Gedichtzeilen, wie etwa „ICH SEHE ETWAS, WAS DU NICHT SIEHST“,37 „auf meiner netzhaut / haben die segel sich gedreht“38 oder „nicht jonas spricht aus des fischs, sondern jener aus jonas bauch“,39 die sie als Zeugnis ,,seine[r] schmerzliche[n] Erfahrungen seit der Mauerzeit“40 wertete. Harald Hartung dagegen war weit weniger von Andersons Band angetan und wies unmissverständlich darauf hin, dass die Zeiten vorüber seien, in denen man solche Dichtung als besonders subversiv hätte empfinden können. Heutzutage befrage man die Texte „nicht mehr nach verschlüsselten Subversionen“, habe nicht mehr „ihr Schreibrisiko abzuschätzen und Moral und literarische Qualität miteinander zu verrechnen“.41
In der Tat scheint der Band viele alte Themen, wie seine Haftzeit oder die Verrohung durch Verhöre und Gefängnis, aufzugreifen und hat viel Ähnlichkeit mit den Texten in Brunnen, randvoll. Einige Gedichte scheinen auf seine Erfahrungen mit der Stasi anzuspielen, mal zynisch („immer mehr bilder / zeigen immer mehr fische, die noch nichts sagen“)42 und mal bitter („die götter bleiben die gleichen und auch die Schweine blieben unter sich“).43 Vor allem sehen sich das Ich und sein Malerfreund als „die ewig Umgetriebenen“,44 als Missverstandene und Ausgestoßene:

WIE WIR VON STERN ZU STERN im großen und ganzen ein fall fröstelnd machender Unverfrorenheit, dem die götter hinterherlachen, der ist noch nicht allzuweit45

Nach den Stasi-Enthüllungen: Schuldabwehr und ein Leben im literarischen Abseits
Anderson fand sich nach seinem immer unglaubwürdigeren Leugnen in Debatten und Talkshowsendungen, bei denen er Journalisten und Zeitzeugen bis an die Grenzen ihrer Geduld führte, verfemt und ausgeschlossen wieder. Von den meisten Freunden verlassen und aus der Galrev-Verlagsleitung ausgeschieden,46 zog er aus Berlin weg und siedelte nach Frankfurt am Main über. Er arbeitete unter Pseudonym bei verschiedenen Verlagen und heiratete später die Malerin und Schriftstellerin Alissa Walser, die dritte Tochter Martin Walsers. 1994 erschien der Gedichtband Rosa indica vulgaris, 1997 Herbstzerreissen. Der Herausgeber Thomas Kling schien die Vorbehalte der Kritik vorwegnehmen zu wollen, indem er anlässlich der Publikation des letzteren darauf hinwies, dass „die düstergestimmte Grundmelodie, die sein viriles Pathos trägt, stets unüberhörbar“47 sei, man dabei aber an deutsche Vorbilder wie Klopstock und Hölderlin zu denken habe. Er warnte vor allem davor, die Gedichte als hermetisch zu verstehen. Ein kurzer Blick in Herbstzerreissen bestätigt den Eindruck, dass Anderson sich immer noch als ein zu Unrecht Verfemter sieht:

Ausgebootet und zum Austrocknen ins Tal gehangen.48

2002 antwortete Anderson seinen Kritikern nicht mit einer Beichte, sondern mit der Veröffentlichung einer Autobiographie bei DuMont, einem der größten deutschen Verlagshäuser. Das Werk trägt den schlichten Titel Sascha Anderson. In diesem Text redet Anderson jedoch keinen Klartext, obwohl sein nahezu vollständiges Stasidossier in Form einer Beiakte inzwischen aufgetaucht war. Stattdessen findet man alle typischen stilistischen Eigenarten in überspitzter Form wieder: die pathetische Verdunkelung, die klassischen Referenzen und die Ästhetisierung des Lebens. Anderson schreibt so, als ob es sich nicht um eine Autobiographie handle, die ein hohes Maß an Authentizität und Wahrheit erfordert, sondern eher um eine fiktionale Prosaform. Hier wird nicht mehr, wie etwa bei der historischen Avantgarde, die Kunst in das Leben zurückgeführt, sondern umgekehrt, das Leben durch die Kunst überhöht, ja aus dem Leben in die Kunst geflüchtet. Nun stehen zahlreiche ,Fiktionen des Selbst‘49 und Formen der ,Selbsterfindung‘50 im Vordergrund, die für die Gattung der Autobiographie sehr wohl konstitutiv sind, hier aber in ihrem Ausmaß das Genre förmlich zu sprengen drohen.
Anderson nähert sich der Stasigeschichte mit verschiedenen Strategien an. Einerseits wird seine Abwehrhaltung nach den Stasi-Anschuldigungen Anfang der 1990er-Jahre kurz angesprochen, indem er sie als eine instinktive, kindliche Reaktion auf Unangenehmes rechtfertigt:

Ich wußte: Das eine ist die Kindheit. Aber dies ist die totale Kindheit. Die sinnlose Totale auf eine Kindheit, zu der ich „Nein“ sagen müßte, wie ich mich zu Adolf Endler „Nein“ sagen hörte. Ich fühle mich verlassen von mir, wie von meinem Vater, der nicht an meiner Mutter, sondern an mir gescheitert war, weil seine Feigheit ihn hinderte, sich in mir zu sehen, wie ich mich nicht dazu überwinden konnte, mich in ihm zu sehen. Schuldig. Der Schuldleib, der sich abends im Bett krümmt, bis Leib und Schuld erschöpft in die Dämmerung abzwitschern.51

Andererseits wird seine Schuld mythisch überhöht und entweder, wie im obigen Zitat, als ödipaler Stoff oder als fatale Verstrickung und Verführung geschildert. Dies ergibt sich aus zwei metaphorischen Textverweisen, einerseits auf die deutsche Romantik, andererseits auf die Faustlegende. Eine Schlüsselfigur in seinen Erinnerungen bildet der Dichter Novalis, der für Anderson offenbar Vorbildfunktion hat.52 Da Fremdheit und Zerrissenheit für Anderson seit der unglücklichen Kindheit dominante Lebensmuster sind, erscheint eine Suche nach Authentizität als fruchtlos. Dies wiederum soll ihn letztlich für die Stasi anfällig gemacht haben:

aaaaaaaaaaIch wußte nicht, was, aber ich wußte, wie ein Nicht-Ich war. Ein Mensch, der eine Sprache spricht, von der nichts bleibt als die Erfahrung. Die Erfahrung des Anderen, übersetzt in ein eigenes Sprechen, das Sprechen an sich, von dem nichts bleibt als das Nicht-Ich des Anderen. Eine Art der Vernichtung. Das Gefühl der Fremdheit hat natürlich andere Worte als diese, und zur Not
aaaaaaaaaaSagt Es Ja
.53

Auch seine andere Strategie, die Stasi-Verwicklung in eine klassische Tragödie umzumünzen, wirkt angestrengt. Dem jungen „sozialistischen Künstler“ diente selbstverständlich Mephisto als Vorbild, denn „Mephisto sei die Urgestalt des Faust und das Glück auf der Seite dessen, der die Gebärden seiner Rolle beherrscht“.54 Seine persönliche Urszene mit der Stasi wird durch eine Urszene der deutschen Dichtung, eine „Gretchenszene“55 vermittelt. Er beschreibt seine erste Begegnung mit einem Offizier des MfS, der „Faust“ heißt (eigentlich Leutnant Graupner) und den er in Umkehrung der Rollen „Mephisto“ tauft. Allerdings, und darauf hat Cooke hingewiesen, wird dadurch das klassische Szenario zerstört, denn Anderson scheint beide Rollen spielen zu wollen, Mephisto und Faust.56 Indem er den Mythos auf den Kopf stellt und aus dem Zuträger einen Mephisto und einen Faust zugleich macht, scheint er an einem Opfermythos zu feilen, der die Machtverhältnisse zwischen Offizier und Informant verwischt. Dennoch ist die Wahl des Faustmythos treffend, denn die Autobiographie verdeutlicht allemal, wie sehr Anderson sein Schreiben für die Staatssicherheit als Loyalitätsbeweis und folglich auch als eine Art von Engagement betrachtet.
Welche Motive der Verlag auch immer verfolgte, die Publikation kann inzwischen als misslungener Versuch einer Rehabilitierung Andersons gedeutet werden. Die Ästhetik der Verdunkelung und Verschlüsselung, die den Reiz seiner Gefängnisgedichte ausmacht, verfehlt in seiner Autobiographie ihr Ziel, denn die abgedroschenen Anspielungen auf pathetische Vater-Sohn-Konflikte und alte Kindheitsmuster von Schuldabwehr wirken nur irritierend und manieriert. Spätestens seit den Stasi-Enthüllungen wird augenscheinlich, wie sehr Andersons künstlerische Produktion als nahezu autistische und selbstreferentielle Selbstinszenierung zu betrachten ist, aus der er nicht auszubrechen vermag. Sie bedarf somit keiner Leser, die sich darin wiederfinden, keines Publikums, das ihr zuhört:

Ich bin mir selbst genug, wenn ich im Schrottplatz dessen wühle, was ich in meinem Gedächtnis angehäuft habe.57

Da es „keinen Sinn [macht], etwas zu erklären“,58 ist er stattdessen aufs Deklamieren angewiesen, und auf die Dauer wird dies für den Leser zur Zumutung. Zu guter Letzt macht Anderson aus Leben und Stasi-Tätigkeit eine Art Gesamtkunstwerk. Sein ,Spätwerk‘ bestätigt diese Wendung hin zur kompletten Verwischung der Grenzen zwischen Kunst und Leben. So scheint es nur folgerichtig, dass sein nächstes Werk nach einer stark fiktionalisierten Autobiographie eine stark autobiographische Fiktion war. In der 2006 erschienenen und inzwischen vergriffenen Novelle Totenhaus greift er das Thema der Spionage und des Verrats direkt auf, und scheint damit zu sich selber zurückgefunden zu haben. Interessant ist dabei die viel positivere Rezeption dieses Werks, vor allem deswegen, weil der Ansatz, den Verrat in Literatur umzusetzen, als ernsthafter Versuch gewertet wurde, die Vergangenheit aufzuarbeiten.59 Andere, wie Jörg Magenau, sind dagegen skeptischer, dass Anderson sich auf diese Art vom Makel des Verrats befreien könne. In diesem Roman bleibe Anderson seinem bisherigen dichterischen Ton treu, und seine Erklärungsmuster für den Verrat wirkten wie Ausflüchte. Magenau hat sicherlich recht, wenn er beklagt, dass das „Geheimnisvolle“ an der Erzählung „erzählerisches Kalkül einer Avantgarde von vorgestern“ sei.60 Es hat den Anschein, als habe sich mit der Rezeption dieses letzten Werks der Kreis geschlossen, die moralischen Urteile nachgelassen und man sei zu einem eher textzentrierten Ansatz zurückgekehrt, d.h. gewillt, Andersons Werke für sich sprechen zu lassen, auch wenn man ihrer unzeitgemäßen Ästhetik kritisch bis ablehnend gegenüber steht. Einige ehemalige Freunde, sogar Verratene wie Ralf Kerbach, teilen inzwischen diese Meinung.61 Der gegenwärtige Stand der Kritik ist, dass versucht wird, die Moral von der Poesie zu trennen und Andersons Lyrik und Essays unabhängig von seiner persönlichen Lebensführung zu betrachten. Dennoch ist die Geschichte seines Verrats nicht völlig in Vergessenheit geraten, weder in der Öffentlichkeit noch bei seinen Altersgenossen. So wurde Anderson zum Beispiel nicht zur Teilnahme an der retrospektiven Wanderausstellung poesie des untergrunds eingeladen, die 2009 von Ingeborg Quaas, Uwe Warnke und Thomas Günther organisiert wurde. Seine zerstörerische Rolle im Prenzlauer Berg, die Zersetzungsmaßnahmen, die er im Auftrag der Stasi durchgeführt hat und nicht zuletzt der ganz persönliche Verrat können nicht vergessen, seine Schuld nicht getilgt werden. Rund um die Publikation von Totenhaus veröffentlichte Anderson – durch die Bekanntschaft mit Alissa Walser ermutigt, wieder Lyrik zu schreiben – drei weitere Gedichtbände, die weitgehend von der Kritik unbeachtet geblieben sind: Acht Gedichte des Ichs, das an ihr vorüberging (2004), mit Zeichnungen von Alissa Walser, Crime Sites – nach Heraklit. Gedichte 1998–2005 (2006) und zuletzt DA IST … 33 Gedichte über Kunst oder Leben (2008).
So sehr sich Anderson von seiner Stasi-Verstrickung durch Schweigen und Verdrängen zu entfernen sucht, so sehr wird er durch seine Leser von der Vergangenheit eingeholt. Natürlich müssten seine Werke für sich sprechen und man sollte dabei ästhetische und nicht nur moralische Kategorien heranziehen. Diese Position ist aber nur bedingt richtig, denn ohne eine Klärung seiner Sprecherposition, ohne die Maske auch nur für einen Augenblick gelüftet zu sehen, scheint auch der Wille, Andersons Texte nur nach poetischen Prinzipien zu beurteilen, nicht vorhanden zu sein. Denn sich auf eine ästhetische Erfahrung mit einem lyrischen Ich einzulassen, wenn man nicht weiß, mit wem man spricht und wohin die Reise geht, ist für den/die Leser offenbar zu unheimlich. Fenzl hat gewiss recht, wenn sie behauptet, es gehe eine Faszination von diesen Gedichten aus, wenn man sie etwa als Symptom einer zerrissenen Psyche oder eines krankhaften Ichs betrachtet.62 Wenn sich aber das lyrische Ich derart versteckt und windet oder stets auf der Flucht ist, wird jedwede Diagnose schwer; Empathie für das Leiden des Ichs kann sich nicht einstellen. Da, wie wir wissen, das Ich sich partout nicht für pathologisch, sondern stattdessen für ein Wendeopfer hält, das zu Unrecht verfolgt und gejagt wird, wird es schwer, sich mit ihm auf die Reise zu begeben und die beachtliche Herausforderung, seine Texte zu entziffern, anzunehmen. Andersons Stasi-Verstrickung bleibt sein wunder Punkt und ist somit in allen seinen Texten gespenstisch präsent, etwa als der schmerzhafte, schattenhafte Ausdruck und Eindruck eines Gewissens, das immer wieder unterdrückt wird. Die Stasi-Affäre ist, um mit Fredric Jameson zu sprechen, das verdrängte „politische Unbewußte“63 seiner Autobiographie wie seines Gesamtwerks. So gesehen sind Andersons Stasi-Akten teilweise eine viel aufschlussreichere, vielleicht die bessere Autobiographie, als die Autobiographie selbst; sie enthalten auf jeden Fall eine andere, weniger egozentrische und monomanische Lebensbeschreibung. Solange sein Schaffen seine Stasi-Verstrickung missachtet und die Wahrheit verdrängt, wird das dichterische Werk Andersons von seinem Leben überschattet bleiben. Solange er „mit seiner Rolle als geächteter Außenseiter [kokettiert]“, wird er wohl dazu verurteilt sein, „allenfalls durch seine Geschichte, aber nicht durch seine Kunst“ Interesse zu wecken.64 Laut Magenau liegt das Problem in der fatalen Kontinuität von Leben und Werk, von Vergangenheit und Gegenwart, bei der es keine neuen Perspektiven und keinen Erkenntnisgewinn gebe. Und dies schrecke Leser ab:

Seine Tragik besteht darin, dass er damit nicht mehr aufhören kann. Sollte er sich anderen Gegenständen zuwenden und eine andere Sprache finden, dann wird es heißen, er laufe vor sich selbst davon. Bleibt er aber dabei, dann wirken seine Texte – und das trifft auf Prosa und Lyrik gleichermaßen zu – wie merkwürdig verquaste Protokolle eines verquälten, autistischen Bewusstseins.65

Man könnte hinzufügen: Solange sich sein Werk mit seinem Leben nicht wirklich beschäftigt, wird man es immer wieder darauf reduzieren wollen. Der Leser wird ständig auf diesen Brocken ,Verrat‘ stoßen, der zwischen ihm und dem Text emporragt wie ein ungelöstes Rätsel, auf das Andersons Texte nur trotzige und unbefriedigende Antworten geben.

Alison Lewis, aus Mirjam Meuser, Janine Ludwig (Hrsg.): Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland Band II, fwpf, 2014

 

SASCHA ANDERSON

Über meinen Tod hinaus

Im Leinenanzug ich voraus dem Mädchen
(Tarnname Barfuss), das seine Lackschuhe schont,
zum Hof hinaus ich keuchend in den Strohbunker
voraus der Unschuld durchs Gestrüpp der Institutionen
die mir Halt geben und leise kommt Leben
in die Lügenhaut. Versteckspiel mit der Memme,
die stramme Waden hat und sagt: Ich sei die MACHT
Und längst mit meinem Über-mir fertig das Kind
der Angst am Gitter der Schlittenhund im Eise
Der Führungsoffizier lacht und streichelt
das Rudeltier in mir immerdar wachsend
wachsam unverwechsel unabwaschbar

Peter Wawerzinek

 

 

Fakten und Vermutungen zum AutorInstagramKLGIMDb +
Gegner + U. K. + E. E. + noch einmalFörräderiAnatomie
Porträtgalerie: Autorenarchiv Susanne Schleyer +
Dirk Skibas Autorenporträts + Robert-Havemann-Gesellschaft +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDA +
deutsche FOTOTHEK

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der S.anderson“.

 

Sascha Anderson antwortet auf die Standartfragen von faustkultur.

1 Antwort : Sascha Anderson: Da ist …”

  1. Anke Schäning sagt:

    Hallo,….mein Name ist Anke Schäning. Ich weiss, dass 2 oder 3 Gedichte damals in einer Lyrikausgabe namens ” Verwendung” von Andreas Schäning aus Stralsund erschienen sind. Ich recherchiere im Sinne meiner Person und unserer gemeinsamen Tochter.
    Ich möchte seine Gedichte nochmal sehen, seine Ausgabe hat Andreas damals einem Theatermenschen überlassen. Danke

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00