Sascha Anderson: totenreklame. eine reise

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Sascha Anderson: totenreklame. eine reise

Anderson/Kerbach-totenreklame. eine reise

EINE HARZREISE

gut gesoffen im weissen hirsch
am markt von wernigerode
gebettet in bulgarische tanzmusik
durchraste ich acht tode

floh nackt und leicht und pass pardon
für ungestellte fragen
erfand ich salomon nochmal
und feierte meinen magen

am nächsten morgen im zugigen klo
kotzte ich pfefferminz pur
unter die harzbahn auf die gleise
in die deutsche natur

was treibt mich immer wieder fort
aus mir und an die grenzen
das denken ist ein schwarzes loch
in meinen existenzen

so behalt ich das thema und dieses den leib
am orte dem provinziellen
komposthaufen für das glück
das idiomaterielle

saatgut für den grossen vergleich
wer ist der schönste im grab
wer hat nach dieser nabelschnur
den endlich sichersten sarg

in eiche ulme stahlbeton
als asche in die vier winde
ein abdruck deiner 3. Zähne
in einer verschimmelten rinde

ein fingerabdruck in der kartei
der kaffeesatz in der tasse
das bleibt ach ach ich geh komm mit
wenn ich uns jetzt verlasse

zwischen den dörfern elend und sorge
vergällts mir die dichterei ganz
die wirklichen grenzen bewirken nur
einen hängenden schwanz

erhebend ist die deutsche geschichte
so ineinandergekrallt
die grenze ein erleuchtendes zeichen
für den fliehenden wald

die da paarweise im sperrgebiet hocken
sich belauern beschützen bewahren
den heiligen familien winken
die sonntags harzquerbahn fahren

Was ist der Mensch? ein dudelsack
für den dialektischen marsch
der mit dem kopf nur wackeln kann
und brüllen mit dem arsch

die gleise fliehen südwärts den harz
da flieh ich mit ganz vorn
in nordhausen gibts einen guten schnaps
nordhäuser doppelkorn

 

 

 

Die DDR. Ein Wintermärchen

– Sascha Andersons 7000-Kilometer-Reise durch sein enges Land. –

I.
Sascha Andersons totenreklame ist zuallererst eine Reise durch Gedichte und Zitate, ein Entwurf der großen Form, traurig, melancholisch, aber doch weit ausholend, Atem schöpfend im Rhythmus von Prosasätzen. Dazu gehören, so will es der Autor, die Zeichnungen seines Freundes Ralf Kerbach. Vielleicht liegt es an der Druckqualität, vielleicht an mir selbst: Die Zusammengehörigkeit von Texten und Zeichnungen erscheint zwar plausibel, doch durchaus nicht zwingend. Die Texte sind nicht ergänzungsbedürftig, und da wo ich sie nicht verstehe, helfen mir die Zeichnungen nicht weiter. Das ist kein Fehler, denn Bücher, in denen man nur zu schnell alles versteht, gibt es genug.

II.
Sascha Anderson ist 1953 in Weimar geboren, kein Arbeitersohn, eher ein Aussteiger aus feiner Familie. Er ist – jedenfalls in der DDR – ein Schriftsteller ohne Bücher. Seine ersten Gedichte gelangten als Lieder für Punkgruppen und als graphische Texte an eine begrenzte Öffentlichkeit; so galten sie als „Kunst“ und nicht als genehmigungspflichtige Literatur. Dann geschah im Frühjahr 1982 etwas Seltsames: Andersons erstes Gedichtbuch Jeder Satellit hat einen Killersatelliten erscheint bei Rotbuch in West-Berlin, das Büro für Urheberrechte der DDR gab nachträglich dazu seinen Segen und kassierte Devisen. So wurde der Dissident Sascha Anderson dann doch ein Schriftsteller der DDR, ohne Mitglied des Schriftstellerverbandes zu sein. Er lebt seitdem in Berlin (Ost), kürzlich nahm Dorothea von Törne drei seiner Gedichte in die Anthologie Vogelbühne (Ost-Berlin, Verlag der Nation) auf, aber auch Andersons zweites Buch muß in Berlin (West) erscheinen, wo jetzt sein Freund Ralf Kerbach wohnt. „ich bin kein artist also bleib ich hier / und wenn mir dabei noch das herz erfriert“ – zwei Zeilen aus einem Lied seines ersten Buches. Anderson ist diesen Zeilen treu geblieben, hat weder sein Land, noch seine Wut, noch seine Trauer aufgegeben.

III.
totenreklame ist auch ein realistisches Buch, eine Textfolge über eine Reise ins Innere der DDR. Es beginnt mit dem Satz: „sören naumann aus dresden hat uns im juli und mich noch mal im dezember 1982 mehr als 7000 kilometer durch die ddr gefahren“. Es endet mit der Anmerkung, daß Kerbach seit September 1982 in Berlin (West) lebt. Anderson hat also den zweiten Teil der Reise ohne den Zeichner gemacht.
„die ddr ist ein kleines land, und wenn du dir nichts weiter als deiner grenzen bewußt werden willst, so löse in berlin eine fahrkarte für 30 mark“. „Grenze“ und „Ferne“ sind häufig Vokabeln in diesem Band, aber Anderson reist „spiralförmig“, er bohrt sich in sein Land hinein, aber er hält sich den Kopf frei. Über das gute Geschäft mit Ferngläsern macht er sich lustig; die Kneipe am Rande der F 96, der längsten Fernstraße der DDR, ironisiert er als „raststätte für onanisten / für märchenaussteiger“. „niemand der fliehen will“, heißt es in einem anderen Gedicht, „flieht durch die märchen / die sein haus zerstören und die adresse / seiner briefe“.
Die Märchen dieses Buches sind deutsche Märchen, sie erzählen von deutschen Mythen, vom Harz und vom Schnaps, vom Kyffhäuser, Widukind und dem Kahlbutz, der nicht verwesen kann, von Ribbentrops Putzfrau, von erleuchteten Grenzen und gerodeten Wäldern. Und liest man „spiralförmig“ wie Anderson reist, dann gelangt, man über die Märchen zu unverkennbaren Heine-Strophen und findet am Anfang in einem der Reisebilder die Zeile „ich nenn meinen weg winter“. Auch auf die Gefahr hin, daß die Anspielung gar keine sein sollte: Die kritischen Reisebilder aus deutscher Provinz stehen in der Tradition von Heines Deutschland. Ein Wintermärchen:

Das ist ja meine Heimatluft!
Die glühende Wange empfand es!
Und dieser Landstraßenkot, er ist
Der Dreck meines Vaterlandes!

Der Holperreim stammt von Heine, und er holpert mit Absicht.

IV.
die winde wehen von osten her
in den harz von bitterfeld
die burgen lauern im gegenlicht
wir loben die weite welt

Auch Sascha Anderson stolpert mit Absicht von Bitterfeld in die weite Welt. Sein Weg heißt Winter, nicht Bitterfeld; er sucht „die farben der dinge“ im Hirn, fährt 7000 Kilometer durch den Straßenkot seiner deutschen Heimat und ihrer Geschichte, hat die Nase am gerodeten Boden von Gernrode bis Sickerode und das Ohr am Mund der sozialistischen Touristenführer. Und was er sieht, riecht und hört entspricht sehr häufig Heines Sinnenreizen im Caput XXVI des Wintermärchens. Was er sah, wollte Heine nicht verraten, aber es roch schauderhaft und war vermutlich braun. Heine nannte das die deutsche Zukunft. Anderson nennt es Heimat; er geht ganz nah ran an diese Heimat, aber er dreht das Fernglas um, und wir sehen durch seine Röhre ein fernes enges Land, fremd, aber sehr deutsch. Darumherum Zäune, die von Westen aussehen wie von Osten, daher auch Andersons geringe Neugier auf die Westansicht.

V.
Einmal träumt er die Heimat als Arche Noah, „verankert im tierischen atlantenbild europas“. Die Arche ist eine gefährdete Heimat; es geht ums Überleben. Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Gemeint ist das Überleben Europas, aber damit eben auch das der DDR.
Wer über dieses ferne enge Land mehr und andere Nachrichten haben will als er gelegentlich in den Reisefeuilletons westlicher Touristen lesen kann, der braucht dieses Buch und wird es in diesem Herbst vielleicht neben Günter Herburgers neuen (DDR-)Roman Die Augen der Kämpfer legen wollen.

Herbert Wiesner, Süddeutsche Zeitung, 2.9.1983

 

„sören naumann aus dresden hat uns (das meint Ralf Kerbach und Sascha Anderson) im juli und mich nochmal im dezember 1982 mehr als 7000 kilometer durch die ddr gefahren.“

Sascha Anderson in dem Buch totenreklame, eine reise

Gespräch mit Professor Ralf Kerbach

Fucking Good Art: Wir haben eine Geschichte gehört über eine Reise, bevor du nach West-Berlin gegangen bist.

Ralf Kerbach: Ihr meint die Reise mit Sascha Anderson. Das ist eine sehr spezielle Geschichte: Anderson war Schriftsteller und Dichter. Allerdings war er bei der Staatssicherheit und hat mich observiert. Es war eine wirklich dadaistische Situation: Er hat mich 1982 unter dem Vorwand aus der Stadt gelockt, dass wir mit dem Auto einen Ausflug an die Ostsee machen würden, weil hier ein Weltpioniertreffen stattfand. Man befürchtete, dass wir die Veranstaltung stören könnten, was die kommunistische Jugend nicht sehen sollte. Da haben die sich gesagt, den Kerbach müssen wir auf Reise schicken, und da habe ich mit Anderson das Buch Totenreklame gemacht.
Das Buch ist dann beim Rotbuchverlag erschienen, mit Gedichten von Anderson (1983). Und als die DDR zusammenbrach, stellte sich heraus, dass unser Freund Anderson ein Stasispitzel war.

Fucking Good Art: Und du hattest keine Ahnung davon?

Ralf Kerbach: Nein, überhaupt nicht.

Fucking Good Art: Und du hattest eine schöne Reise.

Ralf Kerbach: Ja, es war eine hochinteressante Reise mit wirklich guten Gesprächen. Wir sind in die Zusammenhänge der deutschen Geschichte eingedrungen, haben auch die ganzen Orte der Vergangenheit, besucht, auch die grauenhaften. Das ist einmalig in der Kunstgeschichte, und das Buch ist im letzten Jahr vom Leipziger Museum erworben worden. 2007 wird es vielleicht im Getty-Museum gezeigt, im Rahmen einer Ausstellung zum Thema „Kunst im kalten Krieg“.
Das Buch heißt so, weil wir den Staat DDR in Agonie erlebt haben. Die Leute reisten alle aus, sie waren schwer depressiv, sie hatten keine Freiheit, ihr könnt Euch das nicht vorstellen, das war ein System, aus dem du nicht raus durftest. Es war eine Art großes Lager.

Fucking Good Art: Dann war dein Freund dein Bewacher.

Ralf Kerbach: Genau. Als das herauskam, habe ich in Marseille gelebt, und ein französischer Maler sagte zu mir, ich solle ihn sofort erschießen, nach Berlin fahren und ihn umbringen. Er meinte, der hätte uns alle verraten. Wir haben dann in der FAZ einen großen Artikel darüber geschrieben, aber das ist längst vorbei. Aber die Kunst bleibt übrig, das ist doch gut. Jetzt interessiert sich eben Leipzig dafür; der Staat ist weg, der Spitzel ist weg, und die Kunst bleibt. So soll es sein.

Fucking Good Art: Hast du einmal mit Sascha Anderson danach gesprochen?

Ralf Kerbach: Nein. Weil wir alle sehr schockiert waren, haben wir zusammen mit A.R. Penck, für den das auch sehr schwer war, versucht, Anderson dazu zu bewegen, uns die Wahrheit zu erzählen. Wir wollten einfach seine Motivation wissen. Warum sitzt er nachts da und schreibt etwas über unsere Gespräche und gibt das der politischen Macht. Das ist ja hochgefährlich.
Doch er hat es uns nie gesagt. Deshalb haben alle mit ihm gebrochen. Ich denke er hatte dann einfach Angst. Er lebt ja jetzt in Frankfurt am Main mit der Walser, der Tochter des Schriftstellers Martin Walser. Er ist aus Dresden und dem ganzen Kreis weg.
(…)

Fucking Good Art: Vielleicht spürt man in solchen Zeiten, dass Kunst wichtig ist, weil man eine Botschaft oder einen Inhalt verschlüsseln kann.

Ralf Kerbach: Ganz genau, und das auf mehreren Ebenen. Im Denken sind das Schlüsselbotschaften, die sich darüber mitteilen, auch die Angst und die Probleme. Das ist alles darin enthalten.

Ralf Kerbach im Gespräch mit der Kunstzeitschrift Fucking Good Art, Heft 13, Mai 2006

 

Gedanken zur jüngsten DDR-Lyrik

– Uwe Kolbe, Sascha Anderson und Lutz Rathenow. –

Der Literaturwissenschaftler Hans Kaufmann zog 1981 die Bilanz über eine neue „veränderte Literaturlandschaft“ der DDR und verwies auf eine allgemein feststellbare Ernüchterung der Autoren, die er – da der Enthusiasmus der neuen Zeit endgültig vorbei sei – u.a. aus „einer Einstellung auf lange Zeiträume“ erklärt, „in denen schnelle und grundlegende Veränderungen der Lebensqualität nicht zu erwarten sind.“ Stellvertretend sei hier Volker Braun erwähnt, ein etablierter, ausschließlich von der DDR geprägter Autor, der das verwirrende, kaum mehr durchschaubare Verhältnis von Marxismus und realem Sozialismus wie folgt faßt:

Aber Marx wußte was er sagte, was weiß ich? 
… 
Die große 
Gewißheit der Klassiker und die langen 
Gesichter der Nachwelt.

Brauns literarisches Werk kann in seinen Entwicklungsphasen von politischem Messianismus, skeptischem Optimismus und Frustration generell als Spiegelbild der DDR-Gesellschaft gelten, und so nimmt es kaum wunder, daß es in den letzten Jahren Reibungsflächen für jene jüngste Autorengeneration bot, die als in den DDR-Staat „Hineingeboren[e]“) ihrer Desillusionierung am extremsten Ausdruck gibt. Von diesen, in den 50er Jahren geborenen Dichtern, für die die Stabilisierung des DDR-Staates bereits Historie ist, konzentriert sich der aggressivste, verletzlichste, manchmal bis zum Aussteigertum entschlossene Teil im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Zu nennen sind u.a. Namen wie Bert Papenfuß, Uwe Kolbe, Sascha Anderson, Lutz Rathenow, Rüdiger Rosenthal und Lothar Walsdorf.
Der Protest dieser, dem westlichen Leser weniger bekannten Dichter war so radikal, daß die DDR-Literaturkritik sich verunsichert ihrer annahm und in einer Reihe von in den Weimarer Beiträgen gedruckten Interviews die Standortposition der jungen „Wilden“ zu erkunden suchte, um ihnen von daher entgegenzuwirken. Was zu Tage kam, war beunruhigend. In einem von Joachim Nowotny geführten Gespräch mit Diskutanten des Instituts für Literatur Johannes R. Becher wurden ideologisch verpönte Kunstkonzeptionen artikuliert, die Literatur in der Defensivposition sehen: als „Lebenshilfe“ für die bedrängte Individualität, als „Gegenkraft zur Schulauffassung, … zur Ideologie“,  als „Opposition gegen kollektive Vereinnahmung“. In programmatischer Hinsicht profilierte sich die „neue Autorengeneration, am eindringlichsten in einem von der DDR-Germanistin Ursula Heukenkamp geführten Interview, das in Uwe Kolbes lakonischem Bonmot kulminierte:

Meine Generation hat die Hände im Schoß, was engagiertes (!) Handeln betrifft. Kein früher Braun heute.

Hier handelt es sich sicherlich um ein ernst zu nehmendes Symptom, ein Schreiben „aus Rissen“ heraus; andererseits ist die von Kolbe proklamierte politische Apathie dieses sensibelsten Teiles der neuen Autorengeneration jedoch wohl nur als provokante Überspitzung zu verstehen, denn sowohl Kolbes eigene Werke als auch die der anderen Prenzlauer Berg-Dichter weisen beides auf: privat-persönlich und gesellschaftspolitisch orientierte Gedichte. Daß die offizielle Kulturkritik die jungen Unbequemen nicht schlankweg als Dissidenten abstempeln wollte, geht aus der Tatsache hervor, daß man nach den Interviews in den Weimarer Beiträgen das Phänomen „Prenzlauer Berg“ weiterdiskutierte. So bemühte sich z.B. das Germanistenehepaar Ingrid und Klaus-Dieter Hähnel in einem einfühlenden Artikel um Verständnis für diese Jüngsten, was andererseits wiederum bei dem linientreueren Germanistenehepaar Mathilde und Rudolf Dau auf Unverständnis stieß, die den Prenzlauer Berg-Dichtern die offiziöse Poeten- und Singbewegung der FDJ als produktive Alternative entgegenhielten. Konzilianter verfuhr der Kritiker Heinz Plavius, dessen diagnostizierende „Positionsbestimmung“ der jüngsten Künstler nicht auf „Negation oder Feindseligkeit“ dem DDR-Staat gegenüber hinausläuft, sondern auf deren „Fremdheit“ in einer nicht von ihnen gemachten Wirklichkeit; problematisch sei es jedoch, diese Fremdheit in einer für bürgerliche Verhältnisse typischen „Literatur der Gegenwehr“ zu gestalten, die das Individuum von der offiziellen funktionalen Kunst, also dem „Organ geistig-praktischer Regulierung in den Händen der Gesellschaft“, wegorientiere.
Da sich die junge Autorengeneration am Prenzlauer Berg weiterprofiliert, scheint es mir, daß es sich hier um kein literarisch ephemeres oder isoliertes Phänomen handelt. Die vorliegende Arbeit versucht daher, sich gründlicher als bisher geschehen mit mehreren Stimmen der neuen Bewegung auseinanderzusetzen, ein gemeinsames Lebensgefühl zu beleuchten, aber auch Kontraste und unterschiedliche Prioritäten herauszuarbeiten. Ich konzentriere mich auf drei m.E. unter den Prenzlauer Berg-Dichtern herausragend talentierte und vielseitige Lyriker: Uwe Kolbe, Sascha Anderson und Lutz Rathenow. Alle drei leben, so wie es in der Prenzlauer Berg-Boheme Mode ist, in Hinterhöfen, schlagen sich beim Ausbleiben der Honorare als Gelegenheitsarbeiter durch und fühlen sich ausschließlich als Dichter.
Als die Hähnels 1981 bilanzierend resümierten, „Prenzlauer Berg“ sei „längst nicht mehr nur eine Wohngegend, sondern eine Haltung“, hatten sie bei aller Differenziertheit der Bewegung den gemeinsamen Grundtenor in den sich verändernden literarischen Realitäten vor Augen. Blickt man auf die programmatischen Äußerungen oder das poetische Werk dieser Jüngsten, so bemerkt man ein schlaglichtartiges Herausstellen von grandios-ideologischer „Zeitungswahrheit“ und von realsozialistischer, die Welt wieder geraderückender „Literaturwahrheit“ den altbekannten Dualismus also, den diese Dichter nicht zu retuschieren oder zu ignorieren gewillt sind. Kunstwahrheit fängt die Welt des Individuums mit ihren Rissen und Nöten ein und registriert die Reaktionen des Individuums auf die verschrumpften Ideale eines unverbrämten DDR-Alltags: vom ernüchterten Rückzug ins Privat-Reflektierende über spöttisch-verzweifeltes gesellschaftliches Anteilnehmen zur zuversichtlichen Ohnmacht. Paradigmatisch spiegelt sich diese Korrelation von persönlichem und öffentlichem Kreis in einem Gedicht Lutz Rathenows, „Nach David Samoilow“, das die Priorität der „Kunstwahrheit“ in einer Verzahnung der Aspekte „Lebenshilfe“, d.h. Kunst als „Stütze des Individuums“ und „Gegenwehr mit politischer Schlagkraft“ sieht:

Das Gedicht: Bescheiden
als obs ein knorriger Ast wär
Auf dem Weg, den ich geh
dients mir als Stütze
Und zum Erschrecken der Hunde
zum Taktschlag beim Laufen
Kahl ists, ohne Verzierung
schmucklos, (wen störts)
Es dient mir als Stütze
und zum Schlag ist es gut.

Für Uwe Kolbe ist Unbestechlichkeit der Maßstab der Kunstwahrheit: „Die Beschreibung des Lebens / schmeckt deutlich nach Literatur“ („All meinen Wahn bannt nur noch Poesie“), und Sascha Anderson zielt sarkastisch auf den Riß selbst, der sich zwischen schwarz-weiß verlogener Zeitungswahrheit und „grauer“ Literaturwahrheit auftut:

lettern schwarz auf weissem grund
solang die nationen ihre rolle spielen
(schwarz als reaktion auf weiss
weiss als reaktion auf schwarz)
vielleicht sollte man die wahrheiten
die durch die literatur verbreitet
werden grau auf grauem grund
drucken.

Da Kunst und Gesellschaft in der DDR generell mit dem Etikett sozialistisch humanistischen Anliegens belegt werden, muß eine solche, von den jungen Autoren proklamierte „Literaturwahrheit“ d.h. Oppositionskunst zwangsläufig – laut Heinz Plavius – den Charakter des „Anachronistischen“, also bürgerlicher Anrüchigkeit haben. Im heftigen Reagieren der jungen Autoren auf manipulierende Zwänge sieht der Literatursoziologe Günter Erbe dann auch im Rückgriff auf Walter Höllerer Affinitäten zu einer auf westlichem Boden entsprungenen Bewegung der Jugend in den 50er Jahren, aus der die antibürgerliche „Beat“-Lyrik hervorging, die sich in einem weitgespannten Stimmungsfeld von „todmüde“, „geschlagen“, „nach inwärts gerichtet“, aber auch „auf solche Art impulsiv“, also „cool“ und „hart“ bewegt. Und noch eine weitere „anachronistische“ Brücke läßt sich schlagen. Bei Kolbe, Anderson und Rathenow, aber auch bei anderen Prenzlauer Berg-Dichtern, finden sich erstaunliche Übereinstimmungen und Bezugnahmen zu einer anderen bürgerlichen, ebenfalls vorrangig von jugendlichen Dichtern getragenen Bewegung: zum deutschen Expressionismus. Hier wie dort werden kleinbürgerliche Enge und Allergien gegen autoritäre Abrichtungsversuche mit einer Vielfalt an extremem bildlichem Ausdruck gestaltet, wird mit einer Fülle von Todesmetaphern ein Zustand existentiell politischer Atemnot evoziert, in dem der realsozialistische Mief der Gegenwart dem kleinbürgerlich-spießigen des frühen 20. Jahrhunderts an erstickender Penetranz kaum nachsteht. Auch die frühexpressionistische Bewegung ließ sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Überschüssige Kraft der jungen Dichter, das Gefühl, in einer starr genormten Gesellschaft nichts mehr beisteuern zu können, sowie das seismographische Aufspüren militaristischer Bedrohungen führten zu Reaktionen von Resignation und Trauer, bissiger Aggression und immer wieder radikaler Provokation. Wie ihre expressionistischen Vorgänger, so begegnet auch die junge DDR-Generation hohlem Pathos vor „großen“ Ereignissen mit Hohnlachen und setzt bei begrenzteren Bereichen, wie die innere Welt, der Freundeskreis, Natur, Liebe, vorrangig aber „das kleine, enge Land“ an – ein Sujet, das nolens volens immer wieder in den gesellschaftlichen Sektor politischer Lyrik führen muß. Provozierend registriert Uwe Kolbe in dem Gedicht „Zweite, überschüssige Legitimation“ das „bürgerliche Gift“ der Ennui und der Verzweiflung im eigenen Sein, „verkostet Expressionismus“ und resümiert:

Es pulste Gift durchs Innre mir
die bürgerliche Dichtung, Trakl
Benn und Rilke, Whitman und Pessoa,
die stets genannten Schwierigen.

Rathenow identifiziert sich geradezu mit den früh verstorbenen Dichtern Georg Heym und Georg Büchner, die „zu leben gar nicht erst [ge]lernt“ haben. Nirgendwo jedoch sind die Affinitäten zwischen jungen DDR-Dichtern und Frühexpressionistischen stärker als in der Gestaltung tödlicher Langeweile in kleinbürgerlich-realsozialistischer Enge. Liest man Georg Heyms bekannte Tagebuchnotiz vom 6.7.1910:

Ach, es ist furchtbar. Schlimmer kann es auch 1820 nicht gewesen sein. Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts

dann klingt Uwe Kolbes Gedicht „und nichts geschieht“ wie ein die Mühen der realsozialistischen Ebenen parodierendes Echo. Kolbe sieht dann auch das Nicht-mehr-Existieren revolutionärer Gelegenheiten in seiner extremen Konsequenz und zieht für die Spätgeborenen das groteske Fazit:

sterben, leider, meist
an schnupfen
in einem großen bett

also
eines natürlichen todes

(„die schuldigen“)

wobei die bespöttelte verweichlichende Mittelmäßigkeit wohl nicht von ungefähr an Jakob van Hoddis’ vom Schnupfen geplagte Kleinbürger erinnert – („Die meisten Menschen haben einen Schnupfen“) – die ein visionäres „Weltende“ signalisieren. Mißtrauen gegenüber der Gegenwart und preußisch orientierter Tradition, Gefühle von Zuspätgekommensein und gehemmtem Tatendrang sowie der Gestus des Aufschreis stellen die jungen DDR-Rebellen in eine zunächst eigenartige, aber wenig verwunderliche rote Wahlverwandtschaft mit den expressionistischen Vorgängern des frühen 20. Jahrhunderts.

(…)

Der 1953 in Weimar geborene Anderson durchlief ähnliche biographische Stationen wie Kolbe. Seine avantgardistische Experimentierkunst, die spezifisch Originelles mit Einflüssen aus Expressionismus, Dadaismus, Beat-Lyrik und aus der Wortkunst Elke Erbs zusammenblendet, war den Kulturfunktionären bisher ein Dorn im Auge. Andersons Werke wurden beinahe ausschließlich in West-Berlin veröffentlicht: In schneller Reihenfolge erschienen im Rotbuch Verlag die Lyrikbände Jeder Satellit hat einen Killersatelliten (1982), totenreklame. eine reise (1983) und zusammen mit Michael Wildenhain sowie den Graphikern Cornelia Schleime und Ralf Kerbach der bis dato letzte Band Waldmaschine (1984).
Begreift sich Kolbe als „Hineingeborener“ und Rathenow in dem Gedicht „Zangengeburt“ als „Zuspätgeborener“, so radikalisiert Anderson diese Unsicherheit zum „Noch-nicht-Geborensein“, als „,totenreklame‘ atem / derer die noch tot sind.“ In seiner Nichtigkeit fühlt sich der lyrische Sprecher als kaum wahrnehmbare unbekannte Größe: als „buchstabe x das absolute zeichen meiner generation“ („das ist sicher ein traum“). Wie ein roter Faden ziehen sich die Themen von Zerrissenheit, Verzweiflung, Reproduktion und politischem Mißtrauen durch Andersons Werke und münden in dem Reisebuch totenreklame in ein Bekenntnis totaler Entwurzelung:

wenn ich nicht jedes verhältnis zur heimat verloren hätte… ich würde preisen die ruinen und türme, die kreuze und kreuzwege, namen und mengen, die der deutsche pflegt und frakturbeschriftet an jedem punkt von einhundert metern überm spiegel des meeres.

Dieses Gefühl von Entwurzelung bestimmt häufig den Grundgestus ganzer Gedichte und erklärt die auffällige Vielfalt von Todesmotiven, wie etwa in dem Gedicht „wer ich bin werden wir“, in dem die Bewußtseinshaltung des jungen Dichters sich als „Ohn-Macht“ herauskristallisiert, als Formel für langsames Absterben in einer Welt, in der man nichts mehr erwartet:

ich selbst wollte die formel meines sterbens
finden
und nannte meine erinnerungen
gelb
ich erwarte nichts
weisst du die dinge vergessen uns
schneller als wir denken
und ich weiss nicht wer es war

Andersons Grundbefinden von Zerrissenheit schlägt sich im poetischen Sprachstil einer „zerrissenen“ Syntax nieder, in der festzusammenhängende Wortgefüge nicht mehr eindeutig zu orten sind. Glaubt der Leser ein feststehendes Bezugssystem erkannt zu haben, so löst sich dieses durch die vielen Zeilenbrüche und durch die Möglichkeit eines vorwärts- und rückwärtsgleitenden Lesens in den Zeilen auch schon wieder auf und gerinnt kaleidoskopartig zu einer neuen Wortkonstellation. Das folgende Beispiel aus dem Gedicht „flucht“ illustriert diese Methode:

lass keinen ein durch dich gehen
die wunden zeitgestalten überleben
in schwarzem frack

lass keinen ein
durch dich gehen die wunden
zeitgestalten überleben in schwarzem frack

Die Mehrschichtigkeit dieser Art von Gedichtstruktur stellt Denkansprüche und meistens gelingt es dem Leser erst nach wiederholtem Lesen, die oft schwer nachzuvollziehenden Verschlüsselungen zu verstehen oder zu erfühlen. Im Erfühlen der Sinngehalte liegt aber gerade das Faszinierende der Andersonschen Sprachexperimente. Eingebunden in die Texte sind eine Fülle von expressiven Farbmetaphern und Schlüsselwörtern, die suggestiv immer wieder neue, sich relativierende Assoziationsketten im Bewußtseinsstrom des Lesers auslösen und ihn dadurch in einen Zustand von Benommenheit und „Ohnmacht“ im offenen Spielraum des poetischen Gefüges versetzen. In vielen Langgedichten tauchen einzelne Sinnbilder fugenhaft verschränkt gleich verschiedene Male auf, so daß sich dem Leser durch den Prozeß der Wiederholung der Gedanke des unaufhörlichen Ablaufs von Reproduktionen vermittelt. Tauchen mit geschichtlichen Assoziationen befrachtete Schlüsselwörter (wie „deutsches blond“, „edelgard“, „erika“, „blauäugig“ etc.) wiederholt auf, so löst die Reproduktion den Gedanken an fortdauernde, in deutschen Gepflogenheiten weiterlebende autoritäre Traditionen aus – ein Thema, das der Dichter in seiner im Band totenreklame beschriebenen Reise durch die DDR eingehend gestaltet, wo er auf Schritt und Tritt Spuren des preußischen Adlers entdeckt.
Hervorzuheben ist eine für den Autor nun schon obligatorisch gewordene numerierte Reihe von Gedichten, deren Titel „eNDe“ eine Anspielung auf die Initialen des Parteiorgans Neues Deutschland ist. In diesem Gedichttyp kollidiert offizieller Parteijargon mit spießigem Alltag, wird deutscher Militarismus banalisiert und somit schlaglichtartig radikalisiert; oder es werden „feste“ Weltanschauungen in ihrem „Wahn“ exponiert, wie in dem die Goethesche Folie parodierenden Gedicht „eNDe IV“: „östwestlicher die wahn“. Die Auflösung fester Kontexte in neue, oft absurde Sinngehalte erinnert an die dadaistischen Experimente Hans Arps, dessen Einfluß auch in der Lyrik Elke Erbs zu spüren ist. Es verwundert daher kaum, daß Anderson Erbs bekanntes Gedicht „der alte kaspar hauser“ in seinen Band totenreklame aufgenommen hat. Das Spiel mit sich relativierenden Sinngehalten kann folgende absurde Situation ergeben:

gedicht
aus dem tagebuch einer abgetrennten hand

während sappho die love poems
von karl marx alphabetisiert

nehme ich die hand aus der tasche

Welches Potential das Absurde für provozierende politische Attacken hat, kann man den folgenden Zeilen ablesen:

herzlichen glück wünsch edelgard soeben kamen sie
mit dem haussuchungsbefehl
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa& werden gehen edelga
rd wie sie kamen edelgard keinen ausweg wissen e
delgard als das wort tür durch die sie eintraten

In einem anderen Gedicht, „ich bin kein artist“, ist es die kühle Tristesse, die den Leser in ihren Bann zieht;

ich bin kein artist ich mach kein spagat
ich häng mit meinem weissen hals im heissen draht
ich bin kein artist also bleibe ich hier
auch wenn mir dabei noch das herz gefriert

Da das Ablehnen jeglicher ideologischer Akrobatik sehr leicht in den „heissen draht“ politischer Repressalien und Druckverbote führen kann, fühlt sich der künstlerisch Kaltgestellte nicht selten zerrissen und isoliert („ich bau mir meine mauer selber durch den leib“), wobei der Blick über die Mauer den Gedanken staatlicher, politischer und künstlerischer Entwurzelung – das Existieren mit „schwarzer gelber roter haut“ – nur noch verschärft. Trotzdem spürt man ein herausforderndes „nun gerade!“ („ich bin kein artist also bleibe ich hier“), das Andersons Lyrik jenes unverkennbare Kolorit von herber Kühle und harter Passivität gibt.
Die Analyse der Eigenbefindlichkeit in der Allgemeinbefindlichkeit der Gesellschaft hebt Andersons Gedichte in den Bereich sezierender politischer Lyrik. Am augenscheinlichsten für den Leser offenbart sich diese politische Stoßkraft der Gegenwehr in der Fülle der Antikriegsgedichte und in den Gedichten über einen spezifisch „deutschen“ Militarismus mit weitgefächerten autoritären Manifestationen. Diese das „Deutschsein“ provozierende Thematik – „das liegt in der familie“ („die deutsche frau klagt an“) – durchdringt einen Großteil seiner Lyrik. Mit kulturkritischem Skeptizismus und bewußt herausfordernd reduziert er dann auch die historische Gretchenfrage nach Kriegsbrandstiftungen als eine rein rhetorische Frage:

familienalbum das ist
mein mann die erinnerung
im schützengraben vater bruder sohn
fault ein pferd für die romantik
himmelblau auf einem blutmeer
wie heißt dies land 

Christine Cosentino, The German Review, Heft 3, Sommer 1985

Sascha Anderson

Einleitung
An sich ist es widersprüchlich, in eine Untersuchung, die das kommunikative Spannungsfeld in der DDR zum Ausgangspunkt seiner argumentativen Interpretationen von Literatur nimmt, einen Abschnitt zu einem Autor aufzunehmen, von dem – abgesehen von drei Texten in der Anthologie Vogelbühne1 – keine offiziellen Publikationen in dem bis 1990 existierenden ostdeutschen Staat erschienen sind. Zudem gab es in den nicht-offiziellen Zeitschriften keine literarische Kritik; bis 1984 wußten die „Zeitschriften-Macher und Autoren verschiedener Kreise“ des Prenzlauer Berg angeblich „kaum voneinander“.2n der jungen Literatur der achtziger Jahre“. In: Vogel oder Käfig sein. A.a.O. S. 367–389, hier S. 372f. (zuerst in: Ariadnefabrik 6/1988; auch in: Jan Faktor: Henry’s Jupitergestik in der Blutlache Nr. 3 und andere positive Texte aus Georgs Besudelungs- und Selbstbesudelungskabinett. Texte, Manifeste, Stücke und ein Bericht. Berlin 1991. S. 88–121). Das änderte sich allerdings 1986, als „fast alle jeweils aktuellen Zeitschriften“ in der Galerie EIGEN + ART in Leipzig zur Einsicht bereitlagen.3 Daß außerdem seit dem gleichen Jahr die Zeitschrift ARIADNEFABRIK „[d]en Prozeß der Eigenreflexion von Kunst und Literatur jenseits akademischer oder institutioneller Beschränktheiten voranzutreiben“ vorhatte, äußerte sich dann – neben der Durchbrechung der „Trennung des Poetischen vom Theoretischen (als ,Textsorten‘ o.ä)“4 – in der Aufnahme von Rezensionen, auch zu Texten von Lyrikern, die ebenfalls dem Prenzlauer Berg zugerechnet wurden.5 Da aber war Anderson bereits ,im Westen‘ und stand ihm, obwohl nicht nur Stasi-, sondern auch literarische Verbindungen erhalten blieben, eine ganz andere Öffentlichkeit zur Verfügung.
Ein erster Grund für seine ,Dennoch-Aufnahme‘ an dieser Stelle ist die Tatsache, daß Anderson als Organisator des Prenzlauer Berg, als derjenige, der einen Koordinationspunkt darstellte, von Freund und Feind bis heute anerkannt wird. Ohne ihn, so ist zu behaupten, hätte es den Prenzlauer Berg als ästhetisches Konstrukt auch in westlichen Augen wohl nicht, oder zumindest nicht so lange und nicht so beharrlich, gegeben. Dazu kommt, daß westliche Literaturwissenschaftler seine literarische Arbeit hoch geschätzt haben, obgleich jetzt alternative Lesarten seiner Texte auf ,Stasi-Informationen‘ vorgenommen werden.6 Die Gedichte dieses Autors provozieren geradezu ein nochmaliges Lesen in der argumentativen Auseinandersetzung mit früheren Überlegungen, um zu sehen, inwieweit sie als Literatur betrachtet wurden und inwiefern sie als solche – im Vergleich zu den Leistungen anderer – als innovativ gelten können.
Außerdem ist die rezeptionelle Leerstelle in der DDR, was die literarischen Texte von Anderson betrifft, eine gewollte, wurde doch auf anderer – geheimdienstlicher – Ebene sehr wohl mit ihm kommuniziert. Ausnahmen wie die Rezension von Ursula Heukenkamp zur Anthologie Vogelbühne, in der sie Anderson „zu den beachtlichen unter den nachwachsenden Autoren“ rechnet, 7 und die bereits angeführte Anmerkung in der Dissertation von Katrin Hagemann zwei Jahre später, in der diese eine Analyse von Andersons Texten für notwendig hält,8 geben an, daß seine Texte, wie die von anderen auch, von der institutionellen Kritik durchaus wahrgenommen und bewußt nicht öffentlich besprochen wurden.
Leonhard Lorek – selber in nicht-offiziellen Zeitschriften vertreten – meint rückblickend, daß Anderson als ,Manager‘ der Szene, nicht als Lyriker zur Galionsfigur des Prenzlauer Berg wurde:

Und es waren anfangs nicht seine Gedichte und mit Sicherheit nicht die Essays, die ihn nach vorn projizierten. […] Anderson war organisatorisch begabt und alles andere als ungeschickt im Umgang mit Literatur, Kunst, Geld und den Leuten, die solches repräsentierten. […] Er wußte sich und andere zu positionieren. Die in vieler Hinsicht naive Szene gehörte darum ihm, im Handumdrehen. Anderson und Schedlinski als Vordenker der Szene hinzustellen, ist zu weit gegriffen: für Szeneverhältnisse waren beide zu solide, zu üblich. Und sowohl als Dichter wie auch als Denker waren sie innerhalb der Prenzlberger Verhältnisse konservativ genug, selbst von der Stasi noch begriffen zu werden.9

Gegenüber dem letzten, maliziösen Satz räumt Jan Faktor, ebenfalls ein Lyriker ,vom Prenzlauer Berg‘, dessen persönliches Verhältnis zu Anderson nicht erst seit der ,Wende‘ als spannungsgeladen zu bezeichnen ist, immerhin ein:

Und er hat auch einige gute Gedichte geschrieben.10

Wohl liegt dabei jedoch die Betonung auf „einige“, denn:

Das Eigentliche, das künstlerisch relevant war und bleiben wird, mußte jeder für sich und unabhängig von den großen Organisatoren machen. Und diejenigen, die als Dichter ernst genommen wurden (und werden), waren keine Spitzel – und das ist auch kein Wunder.11

Die Rezeption vor der ,Wende‘
Die westliche Rezeption von vor der ,Wende‘ kommt generell zu einer entgegengesetzten Einschätzung von Sascha Andersons Lyrik. Für die folgende Darstellung beziehe ich mich intensiv auf die wissenschaftlichen Arbeiten von Christine Cosentino, weil sie die einzige ist, die Andersons Schaffen über Jahre verfolgt und interpretiert hat. Ihre Einschätzungen bieten deswegen eine geeignete Folie zur argumentativen Darlegung meiner Sicht auf Andersons Texte.
Günter Erbe sieht ihn 1984 als einen politischen Lyriker, der mit „Radikalität und sprachlicher Virtuosität das Gefühl der Verlorenheit und Hoffnungslosigkeit in der Welt des realen ,Sozialismus in poetische Bilder“ umsetze.12 Im Vergleich zu Kolbe nehme sich seine Lyrik auf dieser Ebene als eine „radikalisiert[e]“ aus. Erbe standen damals Andersons erste beide Bände zur Verfügung, Jeder Satellit hat einen Killersatelliten und totenreklame,13 seine Textbeispiele beziehen sich aber lediglich auf den ersten.
Aus semantisch-struktureller Perspektive charakterisiert Erbe die Gedichte als „wild, polemisch, experimentierend, vollgestopft mit Assoziationen“.14 In den Band Jeder Satellit hat einen Killersatelliten sind sechs Texte mit dem Titel „eNDe“ aufgenommen: ein klarer Hinweis auf die Parteizeitung Neues Deutschland. Erbe erwähnt diese Anspielung und zitiert „eNDe IV“ als Beispiel für Andersons „respektlose[n] Umgang“ mit der Sprache der Parteizeitung,15 ohne auf den Text weiter einzugehen. Auch Cosentino betrachtet diese Gedichte ein Jahr später als hervorhebenswert:

In diesem Gedichttyp kollidiert offizieller Parteijargon mit spießigem Alltag, wird deutscher Militarismus banalisiert und somit schlagartig radikalisiert; oder es werden ,feste‘ Weltanschauungen in ihrem ,Wahn‘ exponiert […].

Allgemeiner formuliert, gehe es Anderson hier um die „Auflösung fester Kontexte in neue, oft absurde Sinngehalte“.16 Zwei Jahre später geht Cosentino auf den Charakter dieser Gedichte ausführlicher ein und differenziert sie untereinander:

Drei davon sind sprachkritisches ,Blabla‘, in denen die Beziehungslosigkeit des lyrischen Sprechers zur ND-Ideologie mit Beziehungslosigkeit zur literarischen Tradition der Goethezeit verwoben wird.

Sie sieht darin eine Entlarvung des widerspruchslosen, reibungslosen offiziellen Umgangs mit dem ,klassischen Erbe‘,17 der in seinen „Notaten“ bereits 1968 von Volker Braun kritisiert wurde:

„Sie haben seine [Goethes, A. V.] Schwellen gebohnert – aber wagen sich nicht mehr darüber“.18

Wenn es dort allerdings heißt: „Während wir, auf den Wiesen der öffentlichen Landschaft, mit ihm unsre Späße treiben. Sie sind neue Aristokraten; wir sind seine alten Freunde“,19 schließt das meines Erachtens auf eine Nähe, die für die Texte von Anderson nicht mehr zutrifft. Das III. Kapitel zu Volker Braun zeigt, daß auch dessen Umgang mit Goethe sich gewandelt hat. Doch nimmt er den Goetheschen Prätext in der Aussage ernst, wo aus Andersons Texten zunächst nur noch eine geradezu blasiert wirkende, spöttische Indifferenz spricht:

eNDe IV20

östwestlicher die wahn
machs gut mit spekulatius
machs gut mit kohlenanzünder dem weissen
machs gut mit erika love again
machs gut schöne grosse blonde leere
rin machs gut ödipus oben
machs gut unten mitte spiegelverkehrt
eine nuance zu concafé machs gut
augenblick signiert machs gut eins
tv zwei
die macht sie fördert frauenliteratur unter dem aspekt
steigt laicht das bewusstsein ein frontstaat zu sein
machs gut im aquarium
sitzen immer die anderen machs gut
amnestie für die angebrochene
packung kekse marke favorit

Nach Cosentino „fungiert der West-östliche Divan, d.h. die in Form von ,Sammlung, Versammlung, Zyklus‘ angestrebte Brücke von Ost nach West paraphrasenhaft als ,östwestlicher die wahn‘, als verfremdete Bildquelle von Schimärenhaftem, wo Sinn und Wahn unentwirrbar miteinander verschlungen sind“.21 Nur, wenn Sinn und Unsinn nicht zu trennen sind, sind die ,Bilder‘ nicht nur untereinander austauschbar, sondern fehlt ebenso eine Notwendigkeit für gerade diese und nicht beliebig andere. Das macht die Textrezeption mühelos, es macht sie aber auch geradezu überflüssig, würde doch diese Lesart eine Gedichtaussage nahelegen, die das Suchen nach einem ,Sinn‘ im Lesen von Literatur für ,Sinn-los‘ hält. Die Analogie zum ND-Lesen bestünde in eben dieser Sinnlosigkeit des Geschriebenen. Bleibt jedoch noch die Frage, warum wohl aus Goethes „West-östlicher“ „östwestlicher“ geworden ist und ob nicht gewisse durchgehende bzw. wiederholt vorkommende Motive auf einen Zusammenhang hinlenken, der weiter führt als dieser vielleicht etwas sehr einfache.
Der Gedichttitel ist nicht nur als Anspielung auf das ND zu lesen, sondern auch als das Wort ,Ende‘. Die fast in jeder Zeile wiederholte Wendung „machs gut“ deutet als Abschiedsgruß ebenso auf ein Ende hin. Mit „östwestlicher“ scheint die Richtung des Gehens angegeben zu sein. Die ist Goethes Wendung zum – allerdings orientalischen – Osten als Sinnbild für Wiedergeburt entgegengestellt. Angesprochen als Zurückbleibende – als die, von denen Abschied genommen wird – sind: „schöne blonde leere / rin“ und „ödipus“. Daß es Zurückbleibende gibt, geht auch daraus hervor, daß „spekulatius“, „kohlenanzünder de[r] weisse[..]“ und „tv“ auf Häusliches schließen lassen, so daß das Verlassen eines Zuhauses thematisiert scheint. Dazu gehört dann ebenfalls die Lehrerin, gleichsam als die, die – den Sprecher – für das Aufbrechen gerüstet hat. Die Worte „schöne blonde leere“ enthüllen durch das Wortenjambement jedoch gleichzeitig den lediglich scheinbaren, in übertragener Bedeutung, goldgefärbten Charakter dessen, was zurückgelassen wird. Dasjenige, was die Unterrichtende überträgt, wird nicht als ,Lehre‘, sondern als „leere“ bezeichnet, und die Erkennung der Gehaltlosigkeit des offiziell Verlautbarten ist damit die einzige Vorbereitung auf das, was kommt – und vielleicht sogar eine der Ursachen für den Abschied.
Die Erwähnung des Ödipus ist in diesem Zusammenhang höchst widersprüchlich: verließ doch er die vermeintliche Heimat Korinth, um in der eigentlichen (Theben) anzukommen. Sein Entschluß zum Aufbruch brachte ihm aber genau das Schicksal, dem er sich entziehen wollte. Die Möglichkeit ist gegeben, daß „die wahn“ sich auf eben diese Vergeblichkeit des Fortgangs richtet. Die Verbindung der beiden Himmelsrichtungen, die für sich stehend auf die Spaltung ,Deutschlands‘ schließen lassen, in „östwestlicher“, der Name Erika in „erika love again“ und die Darstellung der Lehrerin als Inbegriff einer ,germanischen‘ Frau („schöne grosse blonde“) bringen eine Konnotation des ,Ödipus-Komplexes‘ hervor, einer zu starken ,Mutterbindung‘ im Sinne von Bindung an das, was für eine im Raster der deutschen Ost-WestPolarität sich abspielende Erziehung verantwortlich war: Staat. Auch diese „spiegelverkehrt[e]“ Sicht, die in allen Bereichen („oben / […] unten mitte“) begegnet, wird verabschiedet. Lediglich Kleinigkeiten können das Ich für einen „augenblick“ aufhalten: „eine nuance zu concafé“, bevor es sich zum endgültigen Absprung bereit zu machen scheint: „eins“ – ein Blick zurück: „tv“ – „zwei“.
Waren bis zu diesem Punkt anhand von semantischen ,Strängen‘ durchaus Sinnzusammenhänge ausmachbar, so kippt das Gedicht von nun an ins ,Wahn-Sinn-ige‘ um. „im aquarium sitzen“ welche, und es ist offen, ob die Tatsache, daß es da „immer die anderen“ betrifft, einen Glücksfall bedeutet oder ob das eher bedauernswert ist. Bei Berücksichtigung dessen, daß ein Aquarium Gefangenschaft ausdrückt, gehört der Weggehende eher zu den vergleichsweise ,Freien‘. Durch das Verlassen der Wohnung wird die „angebrochene / packung kekse / marke favorit“ nicht zu Ende gegessen: „amnestie“. Auf der einen Seite mutet die Übertragung menschlicher Maße auf die Dingwelt wie ein etwas alberner Witz an, andererseits läßt sich gerade dadurch der Akt des Weggehens förmlich als Folge einer politischen Amnestie lesen. Dafür wäre dann „eNDe“ wieder als Anspielung auf das ND, als Hinweis auf eine politisch-ideologische Lesart aufzufassen. Die Zeilen: „die macht sie fördert frauenliteratur unter dem aspekt / steigt laicht das bewusstsein ein frontstaat zu sein“, sprechen ebenfalls dafür.22 Hier wird eine Beziehung hergestellt zwischen dem Verb ,machen‘ („machs gut“) und dem Substantiv ,Macht‘ als Staatsgewalt. Die Relation zwischen einer fiktiven kulturpolitischen Maßnahme und der beschriebenen mentalen Auswirkung basiert auf keinerlei logischem Gedankengang. Zumindest diese Zeile kann daher als parodistischer Umgang mit der ND-Sprache gelesen werden.
Wenn auch ein eingehendes Lesen dieses Textes nicht zu einem eindeutig festlegbaren Gedichtinhalt führt, ist dennoch zu betonen, daß er aussagekräftiger ist, als Erbe und Cosentino vermuten lassen. Als ein „sprachkritisches Blabla“ ist er mit Sicherheit nicht zu bezeichnen. Gegenüber dieser Beschreibung scheint Cosentinos Einschätzung eines anderen „eNDe“-Gedichts (Nr. 1)23 – hier werde „die abgegriffene Slogansprache des ND und ihr propagandistischer Verweisungscharakter […] in trockener Bibliotheksmanier am Beispiel des Stichwortes ,goethe‘ und seinen mannigfachen Querverweisen (,goetheana‘, ,goethisch‘, ,goethehaus‘ etc.) parodiert“24 – fast einer Aufwertung des Gedichts gleichzukommen. Vermeintlich bietet der Text nämlich nicht mehr als die wortgetreue Wiedergabe einer Bibliothekskarteikarte zum Stichwort ,Goethe‘. Eine Verfremdung tritt allerdings auf durch das Wortenjambement von der vorletzten zur letzten Zeile: „goe / thisch“ und durch die Wiederholung von „goethisch / auch goethesch“ als „goe / thisch auch goethesch“, wozu außerdem zwei unterschiedliche Fundstellen angegeben werden („k 218“ und „k 217“). Zudem nehmen sich die Worte „der aber“ und „freundlich“ in der trocken-verweisenden Umgebung als leicht unpassend aus. ,Der aber freundlich‘ wäre als Hinweis auf Goethes Werk zu verstehen, das in dem Sinne einen Gegensatz zu der Art seiner Verwahrung wie zur Sprache des ND darstellt. Da derartige Anzeichen sich in dem kurzen Text freilich sonst nicht finden lassen, läßt sich diese Interpretation nicht weiter bestätigen.
Darauf, daß andere „eNDe“-Gedichte eine „spießige Öde des Alltags“ in einer der Titelerwartung entgegengesetzten Weise abhandeln („eNDe V“) oder „das bloße, unverputzte Gerüst der Ideologie karikieren“ („eNDe VI“25 und das zweite „eNDe“-Gedicht in totenreklame),26 weist Cosentino hin. Diese Texte entlarven meines Erachtens zwar die absolute Phantasielosigkeit solcher – gesprochenen – Sprache, die in der schonungslosen Darstellung ihrer Kargheit komisch wirkt, werden aber sonst durch eine semantische wie strukturelle Anspruchslosigkeit gekennzeichnet. Dem ist durch Techniken wie das bereits erwähnte Wortenjambement nicht einfach abzuhelfen, zumal das in der Häufigkeit, mit der es eingesetzt wird, manchmal zur Manier zu werden droht:

ich will mal sagen27/footnote]
natürlich gibt es menschen di
e anders denken mit diesen menschen
muss man geduldi

g arbeiten mit denen muss man
diskutieren und das wissen di
e vielleicht auch die stärksten argumente
sind auf unserer seite i

ch zum beispiel bin chef
der mili
täraka
demie

friedrich
engels der ddr
[.]

Die nüchtern-spröde Sprache der „eNDe“-Gedichte wird allerdings noch für eine vierte Art eingesetzt, die Cosentino nicht anführt und die sich mit dem Thema der NS-Zeit befaßt:[footnote]Anneli Hartmann unterteilt die „eNDe“-Gedichte nicht weiter, meint lediglich, daß m ihnen die Verhüllungsformen und der Kommentarstil des Neuen Deutschland demaskiert werden“ (Anneli Hartmann: „Schreiben in der Tradition…“ A.a.O. S. 22)

eNDe28

aber nie hat man gesehen dass hitler mal hier war
nur einmal kamen autos mit niedrigen nummern
1 und 2 und gardinen
und wir denken dass er es war
[.]

Wie in fast allen „eNDe“-Gedichten begegnet hier ein Ausschnitt aus einem Dialog, dessen Anlaß und Umrahmung in der Darstellung fehlen. Das hat auch zur Folge, daß nur ein lyrischer Sprecher aufgeführt wird und der Leser sozusagen als angeredete Person fungiert. In diesem kurzen Text kontrastiert die Schlichtheit der Sprache in wirkungsvoller Weise mit ihrem Inhalt. Die letzten drei Zeilen enttarnen mit ihren genauen Angaben die erste aufs intensivste als Ausrede, die allerdings faktisch der Wahrheit entspricht. Die Beobachtung der beiden beschriebenen Autos zeigt, wie sicher der Sprecher sich trotzdem ist, daß eines von beiden Hitlers gewesen sein muß. Die Gardinen und die nicht mit Sicherheit einzuordnenden Nummern sowie der Umstand, daß er die Person Hitler nicht leibhaftig gesehen hat, machen es ihm möglich, bei seiner anfänglichen Behauptung zu bleiben. In ähnlichem Ton berichtet „eNDe III.“29

der erste war koch in einem u-boot
der zweite zeigt seinen am stacheldraht
beim pissen durchschossenen mittelfinger
der dritte aus dem internierungslager
geflohen mit brauner schuhwichse im gesicht
und auf händen in einer negerkolonne
richtung deutschland geben hören sagen
[.]

Der Unterschied zum zuvor zitierten Text liegt vor allem darin, daß sich in „eNDe III“ mehr inhaltliche Leerstellen befinden, Stellen zu denen es keine Informationen gibt. So bleibt ungewiß, welches Substantiv nach „der erste […] der zweite […] der dritte“ zu setzen ist. Augenscheinlich handelt es sich um drei den Schrecken des Krieges entronnene Männer. Von den drei Verben am Ende des Gedichts ist vor allem „geben“ schwer in eine Relation zum Vorangehenden zu bringen. „hören“ und „sagen“ könnten als Angaben zum Text verstanden werden, der so gesehen als Sprechtext aufträte, der Gehörtes wiedergibt.
Es gibt in dem Band Jeder Satellit hat einen Killersatelliten noch einen Text, der mit den Worten „richtung deutschland / geben hören sagen“ endet: „zur genesung mein freund“.30 Dieser besteht aus drei Teilen, von denen der mittlere, eingerückt abgedruckte Text wiederum „eNDe“ betitelt ist und eine unerwartete Erweiterung zu „eNDe“ I–IV bietet:

[…]
da komm ich abends von der arbeit
du als mann aber die frau
leber gehirn & nierchen
abends ist nichts mehr

[…]

Dieser Teil ist weniger der zweite von drei gleichartigen Abschnitten, sondern eher eine Unterbrechung des Haupttextes. Der beschreibt eine Zeitspanne von „23 uhr“ bis „23.55 uhr“ in Form einer Art Befindlichkeitsbericht eines „wir“. Dieses Wir definiert sich aus der Kombination des Namens „papenfuß“ und der Berufsbezeichnung „dichter“ sowie dem wiederholten Beschreiben vom Umgang mit Sprache, der zwischen Schweigen und Sprechen, Verstehen und Nichtverstehen pendelt. Außertextuelle Wirklichkeit ist nur bedingt angesprochen: Abgesehen von der Namensnennung „papenfuß“ ist „wir haben alle einen antrag laufen“ als Bezug auf einen Ausreiseantrag aus der DDR gegeben. Bei der Zeile „wir haben alle wie der dichter / papenfuß sagt lebenslänglich“ ist bereits nicht mehr zu unterscheiden zwischen „lebenslänglich“ im Staat DDR (bei nicht genehmigter Ausreise) oder in der Sprache. Die Möglichkeit eines Abschieds ist jedenfalls lediglich innerhalb der Sprache gegeben:

haben wir uns schon verabschiedet
& wenn dann doch nur auf der
strecke zwischen letter & weissem
papier wo die explosion masturbiert
an die auch du glaubst
[.]

Zwar wird das Umgehen mit Sprache so als sinnliche Handlung beschrieben, auf ein Gegenüber scheint es nicht ausgerichtet zu sein. Dieser Egozentrik des ersten Abschnitts (abgesehen von der Masturbation auch zum Ausdruck gebracht in „denkblase“ statt Sprechblase) widerspricht der „eNDe“-Teil, wo demgegenüber allerdings die Sinnlichkeit fehlt:

komm ich abends von der arbeit
[…]
abends ist nichts mehr

Hier ist „eNde“ wirklich als Ende zu lesen: nach der Arbeit, wenn das eigentliche Leben anfangen sollte, ist die Energie verbraucht. An Körperlichkeit erinnernde Vokabeln beziehen sich statt auf Sexualität auf eine Befriedigung des Magens:

leber gehirn & nierchen.

In dem letzten Abschnitt des Gedichts verbindet das Gefühle betonende Wort „romantiker“ Sprache mit politischer Wirklichkeit:

wir sind nicht
die ersten & letzten
romantiker in der uniform rouge
darin auch rilke wiederholt
exerziert

Wenn danach von „liebe“ die Rede ist, geht es um eine Liebe „zur zeit“. Dahingestellt bleibt, ob eine augenblickliche oder eine Liebe zum Zeitablauf gemeint ist. Die Undurchsichtigkeit des „lebenslänglich“ des Gedichtanfangs setzt sich nun fort in einem anderen Bild der Abhängigkeit von äußeren Gewalten:

alle
benutzen uns & nicht wir sie & nicht

In bezug auf diese Zeile kann „das zehnfingrige lotto“ auf zwei bekannte Glücksspiele deuten (bei dem auch eine Gewalt, auf die kein Einfluß auszuüben ist, bestimmender Faktor ist). Das Wort „comicsparty“ stellt eine Verbindung zur „denkblase“ in der dritten Zeile her. „natürlich / handsigniert“ weist die Bilder der Comics als unikale Kunstprodukte aus, für die Verantwortung von seiten des Produzenten wohl übernommen wird. Die Schlußworte verbinden auch hier Sprache, Schweigen und Deutschland auf eine Weise, die für mehrere Interpretationen offen bleibt:

23.55 uhr
& für den letzten sechser
zeit schweigen von gestern
nicht zu reden
richtung deutschland
geben hören sagen

Gehört „zeit“ als Apposition zu „sechser“ (den Zeitraum der letzten fünf Minuten vor Mitternacht bezeichnend), oder ist für einen „sechser“ „zeit“ käuflich? Ist von „gestern“ „nicht zu reden“, oder geht „nicht zu reden“ „richtung deutschland“? Davon ausgehend, daß zu den drei Verben der Schlußzeile jeweils ein Akkusativobjekt gehört – dafür plädiert die Tatsache, daß die vorangehenden Teile in der Satzstruktur relativ traditionell strukturiert sind –, ist folgende Kombination möglich: ,richtung geben‘, ,deutschland hören‘ und ,deutschland sagen‘. ,richtung geben‘ gehört, im Sinne von etwas in eine bestimmte Richtung lenken, zum normalen Sprachgebrauch. Zwischen den beiden anderen Kombinationen gibt es einen gewissen logischen Zusammenhang: dasjenige, was man hört, wird übernommen und als eigene Meinung ausgesprochen. So gesehen wäre demnach die vorgeschlagene „richtung“ tatsächlich „deutschland“. Ein solcher Sinnzusammenhang ist für den gleichlautenden Schluß des vorigen Gedichts ebenfalls akzeptabel. In beiden Fällen scheint mit ,Deutschland‘ eine Denkeinheit angedeutet zu sein, die auf der einen Seite für die negative heutige Befindlichkeit, auf der anderen Seite jedoch für eine Veränderung zum Positiven (im letzten Gedicht als ,genesung‘) gleichfalls von Bedeutung ist. Die in der ersten Strophe des letzten Textes wenn nicht ausgiebig, dann doch unübersehbar thematisierte DDR-Realität wurde bereits mit den „eNDe“-Zeilen verallgemeinert, für die damit eine Ähnlichkeit zu „eNDe V“ aufzuweisen ist, während im Gedicht zuvor ,Deutschland‘ eher eine historische Entität darstellt.
Alle acht „eNDe“-Gedichte, so wurde deutlich, setzen sich in gewisser Hinsicht mit nicht-eigener Sprache auseinander. In den Nummern I, II und IV geht es in unterschiedlicher Weise um (den Umgang mit) Goethes Sprache,31 in den anderen Nummern wird jeweils eine mit der registrierenden Instanz nicht identische Person sprechend aufgeführt, die über (deutsche) Geschichte, sozialistische Ideologie oder Alltagsöde in einer solchen Weise berichtet, daß die Befangenheit des Sprechenden im Dargestellten ersichtlich wird. Durch die Spannung zwischen der Schlichtheit und Emotionslosigkeit der Sprache des Gedichts und dessen Inhalt wird vermittelt, wie das Beibehalten von mit Sprache verbundenen Denkmustern kreative Veränderung hemmt. In Anbetracht dessen bildet das zitierte „eNDe IV“ mit seiner komplexeren Struktur und Semantik eine Ausnahme. Außerdem ist in ihm der Goethe-Bezug zwar Ausgangspunkt des Gedichtablaufs, der hier im Unterschied zu den anderen „eNDe“-Texten jedoch einen Aufbruch darstellt. Es entsteht keine Trennung zwischen Berichtendem und Beobachtendem.
Das letzte „eNDe“-Gedicht in totenreklame32 bildet im Vergleich zu den anderen in fast jeder Hinsicht eine Ausnahme. Textanlaß ist ein Kilometerstein zwischen den beiden ostdeutschen, thüringischen Orten „geisleden und kreuzgebra“,33 dessen Anblick die Überlegungen des lyrischen Ich über eigenes Verhalten unterbricht: „warum bau ich da wieder ein stück mauer auf / warum mach ich das ohne mörtel“, so lauten die ersten Sätze des Gedichts. Der Text zuvor weist die Stelle, wo der Stein liegt, als den „platz des mordes“ (im Jahr 1612) eines „müllersohn[s]“ aus.34 Im Verlauf der Jahrhunderte ist das Wissen um diesen Mord und damit die eigentliche Bedeutung des Steins verlorengegangen, der so zum Kilometerstein werden konnte: „weil dieser stein zufällig am wege stand hat man ihn / auch angemalt“, obwohl er im eigentlichen Sinne keiner war. Die Erwähnung des „preussischen kalender“, nach dem es „kilometer 6,2 / zwischen geisleden und kreuzgebra“ sind, ist eine Anspielung auf das (letzte) Abtreten des Eichfelds an Preußen im Jahre 1815.
Die Gedichtdarstellung parallelisiert die Reflexion eigenen Reagierens im Aufstellen einer nicht-materiellen, geistigen ,Mauer‘ mit dem vorgefundenen Kilometerstein. Die Übereinstimmung liegt in der angebrachten ,Verzierung‘, die die ursprüngliche Bedeutung beider ,Steine‘ verdeckt. Von der „trockenmauer“ heißt es: „warum bepflanze ich die mit mauerpfeffer“, der Stein ist durch die Bemalung mit einem „schwarzen streifen“ erst als Kilometerstein zu erkennen. Eine „trockenmauer“, hier Metapher für eine Trennung zwischen Ich und Außenwelt, wurde außerdem aus eben solchen Steinen wie dem Kilometerstein errichtet.
Die Schlußzeile des Gedichts, „der stein ist der sogenannte tote mann“, verknüpft die Ermordung des „sohn[s] des jochmüllers“ mit dem Stein, der den traurigen Ort markieren sollte, und bezeichnet gleichzeitig das Ende dieses Signalwerts. Auf der einen Seite ist ein ,toter Mann‘ ein Begriff aus dem Bergbau und meint dort einen stillgelegten Schacht, der eventuell mit Abraum gefüllt ist. Ein solcher Schacht hat demnach seine ursprüngliche Bedeutung verloren. Andererseits heißt ,den toten Mann machen‘, gestorben sein, nicht mehr existieren. So gesehen ist der Titel des Gedichts als ,Ende‘, weniger als ,ND‘ zu lesen. Trotzdem gibt es einige Indizien für eine parallele Lesart als ,ND‘:
Die Großbuchstaben im Titel und die Nennung von „wieder ein stück mauer [Hervorhebung A. V.]“ direkt in der ersten Zeile lassen die andere Mauer der befestigten DDR-Grenze anklingen. Noch abgesehen davon, daß die beiden im Gedicht erwähnten Orte in einer Grenzgegend der DDR lagen, ruft die Zeile, daß „vor zwanzig jahren noch“ der Kilometerstein „weiss angestrichen“ wurde, den Zeitpunkt des Mauerbaus auf. Die Reise durch die DDR, die der Band totenreklame dokumentiert, wurde im Jahr 1982 unternommen.35 Zwanzig Jahre davor war 1962, ein Jahr nach dem Bau der Mauer. Im Unterschied zu diesem in mehrfacher Hinsicht befestigten Bau ist eine „trockenmauer“ allerdings leicht abzureißen. Die Verbindung zwischen Zeicheninhalt und politisch-ideologischem Hintergrund macht den Text auch zu einem ND-Gedicht.
Im Gegensatz zu den anderen „eNDe“-Texten bringt das Ich seine Überlegungen hier deutlich ein, ist der Ausgangspunkt des Gedichtablaufs gegeben und erfährt die Sprache keinerlei Verfremdung.
Der Band Jeder Satellit… enthält noch einen Text, der in gewisser Weise den „eNDe“-Gedichten zuzurechnen ist, auch wenn das „eNDe“ erst in der letzten Zeile und nicht im Titel erscheint: „Bllllllllllllll“:36

B  llllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
a sagt ade ade wieder werden wir nicht mit dem stachell
draht spielllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
en o madelllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
aine die rechenmaschine hab ich verkauft das flllllllllllllll
eisch rot collllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
oriert die stadt llllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
egt das andere sinnbillllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
d über den fllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
uss zeillllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
en lllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
alll lllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
en aufs bllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
att die horizontallllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
en die vertikallllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
en die fllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
ut lllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
iebe im datum die überschrift llllllllllllllllllllllllllllllllllll
lächellllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
nd ohr an ohr der mund ein infrarot im sternbillllllll
d skorpion so llllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
eicht lllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
asen wirs am morgen im eNDe ellllllllllllllllllllllllllllll

Abgesehen davon, daß die Vervielfachung des Buchstabens ,l‘ die Rezeption des Textes auch optisch erschwert, ist in diesem Text ein Sinnzusammenhang zwischen den erkennbaren semantischen Einheiten ebenfalls nicht durchgehend ausmachbar. Auf das „Bild des Stacheldrahtes, das man in der Typographie erkennt‘‘, weist Christine Cosentino zu Recht hin.37 Elemente wie „o madel[..] / aine“ und „das fl[..]eisch / rot col[..]oriert“ lassen eine Verbindung zum Neuen Deutschland nicht sofort aufkommen. Erst Worte wie: „zeil[..] / en f[..] / all[..] / en aufs bl[..] / att“ sind in Zusammenhang mit der SED-Parteizeitung zu lesen. Ironisch ist von „l[..] / iebe im datum“ und „die überschrift l[..] / ächel[..] / nd“ die Rede. „ohr an ohr“ kann als verspottende Verstellung des ,Seit an Seit‘ aus sozialistischen Kampfliedern gelten.38 Wenn „der mund“ als „ein infrarot im sternbil[..] / d skorpion“ bezeichnet wird, stellen sich damit einerseits Konnotationen ein von einem Rot der Lippen, das Wärme nicht zeigt, wie auch, daß Infrarot nicht sichtbar ist. Mit dem Bild des Skorpions kippt das sogar ins Gegenteil um, wenn an die Giftigkeit dieses Tieres gedacht wird. In den Zeitraum, für den der Skorpion das Sternbild ist (24.10.–22.11.), fällt der Jahrestag der Russischen Revolution (25./26.10.1917); insofern ist das auch als Hinweis auf Ideologisches aufzufassen. In der Schlußzeile, „so l[..] / eicht l[..] / asen wirs am morgen im eNDe […]“, bezieht sich „eNDe“ eindeutig auf das ,Zentralorgan‘ der SED. Den „glatte[n] ND-Wahrheiten“39 ist die vergleichsweise undurchsichtige Semantik des Gedichts gegenübergestellt. Ihnen entspricht außerdem das langgezogene „Bla“ der beiden ersten Zeilen.

Christine Cosentino unterscheidet 1988 für die Lyrik Andersons drei unterschiedliche Textarten, die ich hier kurz beschreiben und danach kommentieren will. Die „eNDe“-Gedichte nennt sie „unverkennbar Sascha Andersons Beitrag zum Politgedicht der 80er Jahre“.40 Für einen „Großteil seiner Gedichte“ schlägt sie den Begriff „,Kaleidoskopgedicht“‘ vor:

Anderson orientiert sein nicht mehr feststehendes zerbrochenes Weltbild spielerisch traumhaft an der expressiven Farblichkeit von ,Spiegel‘-ungen und Zeichen, die in immer wieder neue ,bunte‘ Zeichensplitter zerfallen. Das erinnert an die Struktur eines Kaleidoskops[.]41

Innerhalb dieses Typus wird folgende Unterteilung vorgenommen: das „Kaleidoskopgedicht mit intaktem Spiegel“ („mit aussagebetonten, verbundenen Spiegelungen“) steht dem „mit ,beschädigtem‘ Spiegel“ gegenüber (der nicht mehr intakte Bilder projiziert, die unverbunden ineinandergleiten).42 In einer dritten Untergruppierung des ,Kaleidoskopgedichts‘ sei „der Bedeutungsgehalt der Wörter zu weit voneinander entfernt, um in einen Konnex treten zu können“.43 Zu dieser gehören die beiden Texte, die als ,Konzetto‘ betitelt sind.44 Für derartige Gedichte sieht Cosentino die Gefahr „mechanischer Effektheischerei [sic!]“ und „Langeweile“ für den Leser.45 Eine vierte ,Kaleidoskopart‘ besteht aus Gedichten, „die auf dem Prinzip parataktischer, Monotonie evozierender Wiederholung konzipiert sind“, und die Cosentino „dadaistische[..] Parodien“ nennt.46
Und schließlich unterscheidet sie als dritte Textsorte „eine ganze Reihe von konventionellen Gedichten […], die die Tradition der Erlebnislyrik in sogenannten ,Verständigungstexten‘ in der DDR fortsetzen“.47 Hier formuliert sie sowohl Übereinstimmung als auch einen Unterschied zur ,Braun-Generation‘, in dem Sinne, daß beide in ihren Texten eine durch das Verhältnis „Individuum und Gesellschaft“ gewachsene Frustration kundgeben, die Älteren (und da namentlich Braun) „an DDR-sozialistischen Grundprinzipien“ festhalten, während die „Generation Andersons beim Fragezeichen, der Desorientierung und Ziellosigkeit‘‘ bleibt.48
Problematisch an dieser Einteilung, der man auf jeden Fall zugestehen muß, gewisse Unterschiede in Andersons Texten kenntlich zu machen, ist das Ineinanderfließen von formalen und inhaltlichen Kriterien. So erklärt die Beschreibung der zweitgenannten Textart, des ,Kaleidoskopgedichts‘, nicht, warum nicht auch sie ein ,Politgedicht‘ einschließen könnte.
Der Text „das datum der schwarzaufweisse zauberer“,49 nach Cosentino zum „Kaleidoskopgedicht […] mit ,beschädigtem‘ Spiegel“ gehörend, thematisiert zum Beispiel die Verbindung von Sprache und Macht, von Sprache und Gewalt (wie auch, nur in abweichender Strukturierung, „Ans schweigen wir“, das als Beispiel für die Gruppe „Kaleidoskopgedicht[e] mit intaktem Spiegel“ gebracht wird). Zwischen dem allgemeinen „das datum“, mit dem das Gedicht einsetzt, und dem persönlichen „dein datum“ zum Schluß begegnen Fragmente, die die beiden Aspekte immer wieder kombinieren. Die Breite der Thematik und die Form des Textes erschweren vielleicht auf den ersten Blick den Zugang für den Rezipienten, doch verringert das nicht den m.E. hochpolitischen Inhalt, der sich keineswegs in anspielender Kritik an der sozialistischen Ideologie erschöpft. Daß viele Textsegmente dabei sowohl rückwärts wie vorwärts verbunden werden können, zeigt die erwähnte Verschachtelung. Sofort im ersten Abschnitt tritt jemand auf, der mit Sprache ,zaubert‘ und entweder „eu / ropa am haken“ hat oder den „zeigefinger“:

das datum der schwarzaufweisse zauberer eu
ropa am haken zeigefinger im zielkreuz app
laus auf der drehbühne dem dampfenden auge

Eine andere rezeptive Variante wäre: „europa im zielkreuz“ und „am haken zeigefinger“. Die Vorstellung (das „dampfende[..] auge“) erhält „app / laus“. Wenn „das datum“ etwas mit dem „zeppelin weint […] träne“ des zweiten Abschnitts zu tun hat, ist an das Jahr 1937 zu denken, in dem der Zeppelin 129 bei der Landung in Lakehurst verunglückte. Dann ist es nicht abwegig, „stacheldrahtne träne / n“ als Andeutung auf die Opfer in deutschen und sowjetischen Konzentrationslagern zu lesen, die es zu dieser Zeit bereits gab. Auf Kriegsvorbereitungen in Deutschland und den Bürgerkrieg in Spanien (seit 1936) könnten die Worte „marschierende sprachen“ hinweisen, wenn sie in einer Verbindung zu den eingangs zitierten Zeilen gelesen werden. Demgegenüber markiert der Titel des berühmten Liederbuchs der deutschen Jugendbewegung, der Wandervögel: „zupfgeigenhansl“, eine romantisch-verklärende Sicht auf die Wirklichkeit, die jedoch durchaus ebenfalls „marschierende sprachen“ integriert.50 Das „pappherz“ ruft Assoziationen auf an ,Pappnase‘, zur Kostümierung, sowie an ,Pappkamerad‘, eine bei Schießübungen gebrauchte Figur. Außerdem ist etwas aus Pappe nicht ,hart‘ und deshalb leicht zu ,knicken‘. Auf „dein alphabet mein alphabet“ folgt „das zweischnei / dige messerduett“ als ein Duell mit Worten. Die Wiederaufnahme des Liedbezugs mit „kam ein vogel geflogen“ findet in „ma / ma wie gehts in der eisigzeit herzlichst x“ ihre verfremdete Fortsetzung.51 Mit „eisigzeit“ liegt nicht nur ein Hinweis auf ein ,frostiges‘ persönliches Verhältnis, sondern in der Allusion an ,Eiszeit‘ gleichfalls auf ein kühles politisches Klima vor. Das Schreiben – hier in Form eines Briefes – nimmt auf diese unfreundliche Atmosphäre Bezug.
Um zurückgehaltene gesprochene Sprache geht es im vierten Abschnitt, um sprachlose Bilder: „taub sein wie chaplin stumm“. Eine Verbindung zur Gewalt wird zum wiederholten Male hergestellt:

zeitzü
nder im niemands land

Ausgehend von den Bildern ohne Sprache stellt sich die Vorstellung eines Landes ohne Sprache ein, eines Landes, das noch von niemandem entdeckt ist. Insofern befindet es sich zwischen den Fronten: Sprachlosigkeit drückt den Ländern gegenüber, die sich aus Sprache definieren, Neutralität aus. Analog des verminten Landstreifens hinter einer befestigten Grenze (eine andere Art von Niemandsland), scheint die Stille (hier Sprachstille) durch den „zeitzü / nder“ gefährdet. Die Zeit des Ohne-Sprache-Seins bietet durch die fehlende Fixierung auf ein Gegenüber als Ansprechpartner die Möglichkeit zur Introspektion:

spiegelbild formello
ses zeichen hinter die netzhaut augenblick

Der Blick der Augen ist hier nach innen gerichtet.
Im fünften Abschnitt greifen Wort- und Straßenzeilen als Bild für einen möglichen Fluchtweg ineinander:

wohin noch fliehn aus der achtseitigen fün
fzehnpfennigwelt über den zaun zebrastreif
en handinhand auf der petitieile marxallee

Die Rivalität, die noch im dritten Abschnitt zum Ausdruck gebracht wurde, ist hier einer Zweisamkeit gewichen. Mit der „achtseitigen fün / fzehnpfennigwelt“ kann auf die Wirklichkeit, wie sie in einer DDR-Zeitung wiedergegeben wurde, verwiesen sein.52 Die (ostberliner) KarlMarx-Allee als eine „petitzeile“ zu umschreiben, muß, in Anbetracht der Breite dieser früheren Stalinallee sowie der Größe der dort bereits in den fünfziger Jahren errichteten Häuserzeilen (,Stalinbauten‘), Ironie genannt werden.
Worte ermöglichen, so scheint es, keinen „wortwörtlichen“ Fluchtweg; nur „was flügel hat kann fliegen“, heißt es im sechsten Abschnitt. Abermals werden Wort und Bild verbunden: „an der abendkasse“ (des Kinos oder des Theaters) „t / ropfen bluten auf die grünende immerwieder / käuende überschrift erde“. „erde“ als Wort über einer Abendkasse und die „t / ropfen“, die darauf „bluten“, ergeben kaum eine so zusammenhängende Vorstellung wie die Abschnitte zuvor. Zum ersten Mal in diesem Text überspringt ein Enjambement die Grenze zum nächsten Abschnitt „an der abendkasse // zur traumwissenschaft“. Das nachfolgende „weltall“ kann lediglich in Verbindung mit „traumwissenschaft‘‘ gelesen werden, steht es doch sonst beziehungslos in der Zeile. Die Verbindung dieser beiden Worte ergibt einen rezeptiven Kombinationsraum. „traumwissenschaft“ kann zwar als Neologismus akzeptiert werden, die Nähe zu „weltall“ legt assoziative Zusammenstellungen wie ,traumwelt‘ und ,allwissend‘ nahe. Die „abendkasse“ bietet Zugang zu einer Traumvorstellung, in der mit „weltall“ alles wissenschaftlich Erträumte möglich scheint. Die Schwierigkeit, die beschriebene Welt einzuordnen, wird durch „weder / fischnochfleisch“ wiedergegeben. Gleichzeitig bezieht sich diese Wortgruppe auf „das märchen vom mensc / hen und seiner frau“, das Märchen, das ursprünglich (bei Grimm) „Vom Fischer und syner Fru“ heißt. Der Butt, der der Frau ihre Wünsche erfüllt, ist eigentlich ein verzauberter Prinz, und insofern wirklich ,weder Fisch noch Fleisch‘. Der anspruchslose Fischer wird hier als „mensc / hen“ bezeichnet und somit von seiner machthungrigen Frau unterschieden. „das zweite leben“ ist in dem Märchen die Wunsch-, die Traumwelt und zugleich dasjenige, das nicht von Bestand ist.
Unversehens ist am Ende des siebten Abschnitts „vater“ die angesprochene Person:

das zweite leben[,] vater[,]

lebt[,] der das zweite mal gezeugt wird

Die Distanziertheit zur Mutterfigur äußerte sich darin, daß schriftlich das Wort an sie gerichtet wurde, wobei das nicht gerade warmherzige Verhältnis explizit als „eisigzeit“ bezeichnet wurde. Aus diesem gefühlsmäßigen Abstand ging allerdings gleichzeitig eine gewisse Indifferenz hervor, die der beschriebene Kontakt zur Vaterfigur nicht aufweist. Die beiden letzten Zeilen des Gedichts bringen Vorschläge des lyrischen Sprechers für „das zweite leben“, das jedoch Wunschbild, Nicht-Möglichkeit, bleiben muß. So wie das Fahrrad nicht zweimal erfunden wird, wird auch ein Mensch nicht zweimal gezeugt: „erfin / de das fahrrad unterschreibe von drais“, so lauten die beiden ,Vorschläge‘. Karl Friedrich von Drais erfand 1817 die Draisine, ein Laufrad, das als Vorläufer des heutigen Fahrrads gilt. Die Harmlosigkeit dieser Erfindung steht in scharfem Kontrast zu den eingangs angedeuteten, die auf Krieg und Gewalt schließen ließen. Mit dem Nennen des Namens von Drais ist die Zeit weniger spekulativ zu bestimmen als in den ersten Zeilen mit der Erwähnung des Zeppelins. Trotzdem ist die wirkliche Zeit die, in der die zerstörenden Entdeckungen ebenfalls bereits gemacht sind: „nie nenne dein datum eine unblutige zeit“, so lauten die letzten Worte des Textes. Und das klingt wie eine nüchterne Feststellung (es geht nicht, die heutige Zeit unblutig zu nennen, weil jeder weiß, daß sie es nicht ist) und zugleich wie ein Appell gegen eine verharmlosende Darstellung (durch das ,Nennen‘).
Eine jedes Wort des Textes ernst nehmende Lektüre, die denkbare semantische Verknüpfungen herstellt – die sich mitnichten in der Gedichtstruktur bemerkbar machen müssen –, kann nicht zu Christine Cosentinos Schlußfolgerung gelangen, hier gehe es um ein „,Dada‘-Gedicht“, in dem Anderson „fragmentarisch und alogisch“ verfahre. Ebensowenig kann die „Bildstruktur“ eine „des Unvereinbaren“ genannt werden, die „auf unlösliche Widersprüche im Weltbild des lyrischen Sprechers [verweist], die in diesem spezifischen Gedicht der vom Militarismus bedrohten Weltsituation innewohnen“.53/footnote] Der Zusammenhang von sprachlichem Umgang mit Wirklichkeit und dieser selber, mit ihrer wiederkehrenden Tendenz zu Gewalt, ist durchgehendes Thema dieses Textes. Zwischen Ursache und Wirkung wird nicht unterschieden, was vielleicht sagen will, daß dazwischen nicht zu unterscheiden ist. Ein Bewußtsein von Verantwortung liegt in den Zeilen beschlossen und wird – nicht nur am Schluß – vermittelt.
Eine Rezeption, die die Andersonschen Texte vorwiegend auf ideologiekritische Aspekte hin gelesen und „mitgehend“ gewertet hat,[footnote]Ursula Heukenkamp meint, „[e]s wäre jetzt eigentlich an der Zeit, das Selbstverständnis von Schriftstellern in der DDR nicht mehr mitgehend zu interpretieren oder polemisch anzugreifen, sondern samt seiner Vorgeschichte etwa in einem sozialgeschichtlichen Rahmen sachlich zu beschreiben“. In: „Konjunktur – und was danach?“ In: Verrat an der Kunst? A.a.O. S. 29–40, hier S. 35
wurde zwangsläufig nicht nur von der Person enttäuscht, als bekannt wurde, daß der Lyriker sich nicht ausschließlich der Literatur, sondern ebenfalls der Stasi verschrieben hatte. Christine Cosentino, die sich seit Mitte der achtziger Jahre wiederholt mit Andersons Lyrik beschäftigt hat, hat nach der ,Wende‘ einen Versuch unternommen, seine Texte in Zusammenhang mit den Ende des Jahres 1991 bekanntgewordenen biographischen Daten neu zu lesen.

Eine Neu-Rezeption nach der ,Wende‘?
Ausgehend von der These, daß „eine Neubetrachtung der Andersonschen Werke) d.h. eine Ausweitung des Interpretationsrahmens sich behutsam auch ad personam am spezifisch Biographischen des Autors [wird] orientieren müssen“, stellt Cosentino ihre Neu-Überlegungen zu Andersons Gedichten zur Diskussion. Sie stellt sich dabei die Frage, ob sich nicht doch „hinter der hochartifiziellen Sprechweise, die für viele seiner Texte charakteristisch ist, […] ein kommunikativer Gestus, sogar ein Bekenntnis?“ verbirgt.54 Ihre Beantwortung erfolge, so betont sie allerdings, „ohne bereits etablierte Lesarten außer Kraft zu setzen“.55 Diese behalten ihre Gültigkeit, wenn man die Biographie des Lyrikers außer Betracht lasse.
Andersons kontinuierliche Verwendung bestimmter Bilder aufgreifend, um über sie einen neuen Zugang zu den Texten zu erhalten, äußert Cosentino den Gedanken:

[O]b das häufige Einmontieren des Versatzstückes ,Goethe‘, das man bisher als Zeichen der Verweigerung […] zu interpretieren gewöhnt war, nicht ebenfalls assoziativ auf jene schizoiden Züge von Doppelmoral verweist, die ein Kritiker im Rahmen der ,Anderson‘-Debatte am Beispiel Goethes sichtbar machte: Goethe, Dichterfürst und Fürstenknecht, der die Trennung von Talent und Charakter in der deutschen Literatur hoffähig gemacht habe, Goethe („Zwei Seelen wohnen, ach […]“), der im Gespaltensein ganz er selbst war, ständig auf der Suche und fliehend, ein Mann ohne Eigenschaften.56

Noch abgesehen von der fragwürdigen Charakterisierung Goethes als „Mann ohne Eigenschaften“ sind die Gedichte, in denen direkter Bezug auf Goethe genommen wird, nicht besonders häufig. In Jeder Satellit… geht es um drei Texte („eNDe“ I, II und IV), in Jewish Jetset um einen („UM DEN VATER KALTZUSTELLEN, BIN ICH DAS GESETZ“), in totenreklame und brunnen, randvoll läßt sich kein ,Goethe-Text‘ finden. Hinsichtlich der „eNDe“-Gedichte I und II ist auf jeden Fall auf den Kontrast zwischen der Goetheschen Sprache, auf die angespielt bzw. die zitiert wird, und der des ND als sinnstiftenden Aspekt hinzuweisen. Obwohl es hier nicht um ,Einmontiertes‘ geht – die Gedichte bestehen zur Gänze aus dem goetheschen Element – handelt es sich insofern um ,Versatzstücke‘, als der mit diesem Namen erzielte Effekt mit einem anderen klassischen Dichter möglicherweise auch hätte erreicht werden können. Nur stand Goethe in der DDR stellvertretend für ,das‘ klassisch-humanistische deutsche literarische Erbe. In Zusammenhang mit dem Titel dieser Gedichte würde ich anders als Cosentino den Bezug auf Goethe weniger als eine Verweigerung seiner Dichtung gegenüber sehen, sondern mehr als eine Ablehnung des gewohnten Umgangs mit ihr. Eben in diesem Sinne fungiert er in „UM DEN VATER KALTZUSTELLEN…“,57 dessen erste Zeile bereits als Indiz dafür gelten kann. Hier ist „G“ (eine Anmerkung zum Text besagt, daß damit Goethe gemeint ist)58 Teil der Traditionen, auf die die offizielle Kulturpolitik zur „Herausbildung der sozialistischen Persönlichkeit“ zurückgreift,59 so, wie Anderson eine fiktive „tradition der / arbeiterbildung“ ebenfalls erwähnt:

UM DEN VATER KALTZUSTELLEN, BIN ICH DAS GESETZ
ABGEWANDERT MIT DEM NIE, UND DIE SPRACHE HING MIR AUS DEM HALS,
NICHT ALS ETWAS, ALS ETUI, ALS VERSTECK, ALS WIE einzelbildeinstellungen
die ideen anbeten, glieder in überzeugendem
dialekt um den raum rumreden. früh G lesen, nachmittags zum spiel
des örtlichen fußballvereins fliehn, nachts die tradition der
arbeiterbewegung aufleben lassen.

[…]

In Anbetracht der jeweiligen Gedichtkontexte und des kulturpolitischen Bezugsystems ist meines Erachtens eine Interpretation, in der Goethe als – vielleicht sogar unbewußt eingesetztes – Bild für das Schizoide der Autor-IM-Persönlichkeit Sascha Anderson gesehen wird, weit hergeholt. Würde man das Verfahren, „in der sammelnden poetischen Kamera Sascha Andersons de[n] Blick auf ,einzelbildeinstellungen“‘ zu richten, die dann „als ein Schlüssel dienen, die in den Texten verborgenen schizoiden Strukturen zu erschließen“,60 auf Texte von anderen (Prenzlauer-Berg-)Autoren anwenden, wäre es leicht, durch das Beachten von Rissen, das Verwenden von Wortenjambements, eine „Demontage des Ich als Erkenntnisinstanz“ usw. zu ähnlichen Schlüssen wie bei der Lyrik Andersons zu kommen, wie Cosentino auch selber durchaus vermerkt. Sie betrachtet ihr Neu-Lesen seiner Texte deshalb als eine Rezeption „im Kontext der Ereignisse vom Oktober und November 1991“, als bewußten Versuch, sie nicht „getrennt von seiner Biographie“ zu sehen.61 Das ist völlig legitim, mein Einwand richtet sich lediglich auf eine Interpretation bestimmter Texte oder Textstellen, die ausschließlich auf selektiven biographischen Daten fußt. Es ist daher zu bedauern, daß sie ihre Neu-Überlegungen nicht in einen argumentativen Zusammenhang mit früheren (eigenen) Aussagen stellt, um so nachzugehen, welche Interpretationen in bezug auf die Textverhältnisse als leistungsstärker zu betrachten sind. Die einem lyrischen Bild zugrunde liegende autorpersönliche Erfahrungsbasis kann, so meine ich, nicht Ausgangspunkt einer Textinterpreation sein, sollte auf jeden Fall einer Einschätzung auf der Grundlage der strukturellen und semantischen Zusammenhänge des Gedichttextes untergeordnet sein. Wie wichtig ist es in der Hinsicht, wenn ein Rezipient vermutet, daß der Autor sich an einer „konspirative[n] unterredung“ des öfteren selbst beteiligt hat?62 Es sei zugegeben, daß Cosentino die Zusammenhänge zwischen konspirativer Tätigkeit und bestimmter Wortwahl bzw. beschriebenen Situationen meistens nur in Form von Vermutungen herstellt. Trotzdem laufen sie aber Gefahr, ,Bedeutung‘ für Gedichte, die durch ihre Struktur offener angelegt sind, vorschnell festzulegen. Das soll im Folgenden an einigen Gedichtbeispielen erläutert werden.
Für sich gelesen, schließt die Wortgruppe vom „deu / tschen terror[..] in einem der verö / ffentlichten tagebücher vom band“ (aus „Ans schweigen wir“)63 das Anklingenlassen von Stasi-Aktivitäten nicht aus. Eine nähere Textbetrachtung muß diese Lesart allerdings erheblich einschränken, kontextualisieren doch die Worte davor die Aussage folgendermaßen:

euro
pa produziert die patina des deu
tschen terrors
[…]

Mit Europa als Patinaproduzenten, mit dem niederländischen Frauennamen „Ans“ und dem ebenfalls niederländischen Wort „het litteken“ am Textanfang sowie der Erwähnung des Nobelpreises ist ein internationaler Zusammenhang gegeben. Daneben ist ein semantischer ,Strang‘ ausmachbar, der auf Krieg bzw. Gewalt verweist (manche Worte spielen in mehreren ,Strängen‘ eine Rolle): „blindgänger“, „het litteken“,64 „schützeng / raben [..] “, „majorin“, „untergrund“, „schlachtreif[..]“, „terror“. Ein dritter Strang ist aus persönlichem (intimem) Wortmaterial zusammengestellt: „Ans“ „mein gefühl“, „mein café“, „sentimental romantisch und überem / pfindlich“ „geilheit“, „gefühle“, „tagebücher“. Bedeutungsverschiebungen finden dadurch statt, daß gegensätzliche Konnotationen aneinander gekoppelt werden: So soll über etwas Öffentliches wie „den nobel / preis“ geschwiegen werden, das „gefühl“ des lyrischen Ich „geht auf schlittschuhen üb / er das eis“, die öffentliche Räumlichkeit eines „cafe[s] ist geschlos / sen“, die „geilheit“ (ein Wort, bei dem Fruchtbarkeit anklingt) ist „schlach / treif[..]“ und „tagebücher“ werden „verö / ffentlicht [Hervorhebungen A. V.]“. In dieser Widersprüchlichkeit pendelt das Gedicht zwischen Schweigen und Sprechen: „Ans schweigen wir“ (zweimal) sowie: „het litteken das jedes jah / r in den abwassern des schützeng / rabens sprache laicht“ und „tagebücher vom band“.
Daß es Texte gibt, die gehäuft politisch-ideologisches Wortmaterial verwenden, soll hier keineswegs verneint werden. Dafür bieten „litteken“ und „het litteken“ ein Beispiel.65 Cosentino zitiert aus „litteken“ die dritte Zeile wie folgt:

Es bedarf keiner großen Dechiffrierkünste, wenn […] gesprochen wird […] vom „alibi [sein] für den orgasmus eines komputers / der staatssicherheit“.66

Das Gedicht beschreibt wie das lyrische Ich auf „einen brief‘ wartet, der „das kennzeichen Ans“ trägt. Bei Cosentino wird nicht deutlich, daß es von diesem Brief, nicht vom lyrischen Ich heißt:

er wird kommen
& er wird von der macht als jungfrau erkannt
das alibi für den orgasmus eines komputers
der staatssicherheit sein
[.]

Das Wort ,jungfrau‘ verweist in seiner Doppeldeutigkeit, nämlich bezogen auf den weiblichen Absender „Ans“ und in Druckersprache auf einen fehlerfreien Text, auf den Brief als Liebesbrief. Auf seine Herkunft aus einem westlichen Land – den Niederlanden – gibt es mehrere Hinweise: Das Ich wartet am Brandenburger Tor, dem Symbol für die Unübertretbarkeit der Westgrenze, als Absender ist der niederländische Name „Ans“ angegeben, und schließlich ist die Rede von „radio nederland“.
Obwohl es also um einen Liebesbrief geht („obwohl er das kennzeichen Ans trägt“), ,weiß‘ das Ich um seine Beschlagnahme durch die staatliche Gewalt. Wichtig ist, daß sich damit der Charakter des Briefes sofort verändert:

die tinte
wird in ein zeichen entgleiten

Hier geht es nicht um eine bei Anderson anderswo manchmal feststellbare „Demontage des Ich als Erkenntnisinstanz“,67 sondern eher um eine Übernahme von privater Sprache in einen anderen Diskurs, in den Diskurs der Macht. Es ist die Umkehrung des von Michel Foucault beschriebenen Mechanismus der Ausschließung, der „den Diskurs [betrifft] in seinem Zusammenspiel mit der Macht und dem Begehren“.68
Das Abfangen des Briefes wird beschrieben als das Unterbrechen einer sprachlichen Verbindung, dem vergleichbar, wie

ein vogel
über die kurzwelle von radio nederland in die ouvertüre
von richard wagners tannhäuser flieht um auch dort
den brandfleck zu hinterlassen
[.]

Mit dem ,brandfleck‘ wird der Gedichttitel „litteken“ aufgegriffen. Eine Parallelisierung zu Wagners Tannhäuser liegt in der Erwartungshaltung in bezug auf die weibliche Figur als eine ,Erlösung‘ bringende (darauf deutet die Ouvertüre des Wagnerischen Werkes bereits hin). Die Unterbrechung der ,Sendung‘ des Briefes und des Musikstücks verweist auf die Nicht-Realisierung dieser Hoffnung. Das Schlußbild setzt diesem Idealbild eine um vieles häßlichere Realität entgegen:

& die schielende frau vergissmeinnicht sagt zu
ihrem mann mit der halbglatze zu ihrem sohn der für
jede eins in der schule eine tafel edelweiss
bekommt zu ihrer tochter dieser kleine fetten
bonbonlutschenden blonden prinzessin erika & zum
pekinesen hinterm ladentisch es ist 18 uhr
schliessen wir das geschäft hans
[.]

Entgegen der mit Wagners Ouvertüre eingebrachten ,höheren‘ Liebe scheint in den hier geschilderten Beziehungen nur Eigeninteresse eine Rolle zu spielen. Noch nicht einmal die Blume „vergissmeinnicht“ kann ihre Symbolwirkung für Freundschaft und Erinnerung zur Geltung bringen, korrespondiert der Blumenname doch zu sehr mit dem „edelweiss“, der hier für eine Schokoladenmarke steht, die als Tauschmittel in ein ,Geschäft‘ um gute Schulleistungen eingesetzt ist.
Am Ende des Tages wartet das Ich immer noch auf einen Brief seiner Geliebten, der entweder noch nicht gekommen oder bereits von der Staatssicherheit abgeschöpft ist. Die in diesem Text durchaus realistische Darstellung eines Vorgangs hat thematische Entsprechungen in dem Gedicht „het litteken“. Politisch-ideologisches Wortmaterial, das dem in „litteken“ auf einer realen Ebene eingesetzten ähnlich ist, erhält hier eine andere Dimension.
Es werden einige Minuten eines Abends erzählt, in denen die Geliebte, „Ans“, das Ich anscheinend verlassen hat. Die ,Aussagen‘ dieses Ich sind stets an die Liebesbeziehung gekoppelt: „[…] es ist ein offenherziger / fluchtversuch in richtung du bist schön“ und: „es ist kalt Ans bist du wirklich / fort Ans bist du fort komm wieder ich nenne / keine namen sage es ist 11.05 uhr komm bitte zurück“. Die Uhrzeit 11.05 liegt vor dem Abschied von 11.36: könnte man sagen, es ist 11.05; würde man die Geliebte herbeibeschwören. In der Strophe davor wird beschrieben, wie das Ich einer „blonde[n]“ seine „geschichte von anfang / bis ende‘‘ erzählt hat. Das Ich hat „alles wiederholt / & entschieden […] wir fahren wegen / des kleinen aus der formulierung / in ein geheimnis entflohenen zeichens“. Der Verzicht auf die Nennung von Namen wäre als Konspiration zu deuten, spielt jedoch für mich im Gedichtkontext der problematischen Liebesbeziehung eine andere Rolle, ist eher als das Vermeiden von Eifersucht (durch das Nennen von Namen anderer Frauen) aufzufassen.
Auch in diesem Gedicht spielt die Grenze (zwischen Ost und West) eine Rolle, hier allerdings mit der Überlegung verbunden, das Land, „dieses namenlose“, zu verlassen. In diesem Falle haben Ans’ Worte das Ich erreicht und, so wird suggeriert, bei seiner Überlegung eine Rolle gespielt:

& wüsste was ich verlasse ein land überzeichnet
von deinen warten zu mir schreibe einen brief darin steht litteken

So betrachtet wirkt das Wort „litteken“ fast wie ein Code, auf das das Ich wartet, um seine Entscheidung durchsetzen zu können. Eine Angabe zur Zeit, in der das Geschilderte sich abspielt, scheint mit „das blei ist gegossen in die form des zunehmenden / mondes“ gegeben zu sein, sollte es hindeuten auf die Tradition des Bleigießens zu Silvester, um aus den so entstandenen Formen die Zukunft ablesen zu können.
Ein Blick in erlebte Zweisamkeit läßt wie im vorigen Gedicht die Möglichkeit einer ,idealen‘ Liebe anklingen:

du sagtest wir gehen
& legen unsere leiber unsere körperlosen wirklichen
utopien aneinander

Das Beisammensein der „leiber“ versinnbildlicht das geistige Ideal. Die Harmonie wird jedoch sofort durchbrochen:

& retten uns in den abschied

Die ungestörte Übereinstimmung scheint nicht durchsetzbar; das Höchstmaß an Nähe zwischen Lebewesen auf Dauer scheint aus nicht mehr zu bestehen als mit folgendem Bild beschrieben wird:

[…] auf der insel hiddensee lebt ein alter
mann mit sechs katzen & zwei räudigen hunden
in seinem bett & an der wand gegenüber zwei
fernsehgeräte schwarzweiss & farbe näher geht es nicht
Ans
[.]

Der letzte Abschnitt des Gedicht beschreibt wie in „litteken“ die gegenwärtige Wirklichkeit des lyrischen Ich. Der Anfang ist gleichermaßen banal wie dort:

die dicke blonde schlägt ihre tochter es ist
11.36 uhr

Die Fortsetzung spricht jedoch eine höhere gedankliche Ebene der Wahrnehmung an:

mauern schreiten durch das land ihre spur
ein ereignis für europa aber keine neue idee

Die Mehrzahl des Substantivs Mauer legt es nahe, ihre Bedeutung nicht lediglich auf die Grenze der DDR zu beschränken, sondern sie auf zwischenmenschliche Beziehungen auszuweiten. Aus der Einsamkeit, die die Abkapselung zur Folge hat, scheint kein Entrinnen möglich: ‑ du Ans sagtest wir steigen in ein grab & noch eins & so weiter“, so schließt das Gedicht. Es ist dann „11.36 uhr“, eine Minute vor Gedichtanfang, der „jede[n] augenblick“ definiert als „ein[en] himmelsblaue[n] pass für das herz / auf der zunge“. Tödlich für die Sprache ist allerdings das Denken:

ein phlegmatischer richter
analysiert den henker meiner sprache
den gedanken

Darauf bezogen, ist das Textende als das Ende der Sprache zu lesen.
Zwischen den beiden zuletzt zitierten Gedichten besteht ein thematischer Zusammenhang, auf den schon durch den Titel und den Namen Ans aufmerksam gemacht wird. In beiden Texten finden sich mehrere Bezüge zur politischen Realität der DDR, die u.a. Abgrenzung und ein permanentes Bewußtsein von Machtstrukturen zur Folge hatten, die bis in den persönlichen Bereich hinein spürbar waren. Die Liebesbeziehung zu Ans (übrigens das einzige Wort in diesen Texten, das groß geschrieben wird) scheitert auf der einen Seite an den äußeren Umständen, die von den eben beschriebenen politisch-ideologischen Einschränkungen geprägt sind. Auf der anderen Seite scheint, vor allem in „litteken“, die Liebe in einem so hohen Maße abstrakt und ideal zu sein, daß sie sich in der – nicht nur dieser – Realität ohnehin nicht verwirklichen läßt. Die dadurch entstandenen Verletzungen (,littekens‘) zeigen sich vor allem in der beschriebenen empfundenen Vereinzelung. Insofern stehen das Brandenburger Tor (in „litteken“) und die „spur“ der „mauern“ (in „het litteken“) für eine sichtbare geographische ,Narbe‘ (in der DDR) wie für das Verursachen von ,Narben‘ im persönlichen Leben ihrer Bürger.
Christine Cosentinos Beschreibung des schizophrenen Zuges einer Autorpersönlichkeit, die auf der einen Seite als talentierten Organisator einer nicht-legalen sozial-literarischen ,Szene‘ galt und andererseits ihre Berichte für die Staatssicherheit verfaßte, hat sicherlich seine Berechtigung. Zu dieser Widersprüchlichkeit gehört es, wenn gerade dieser Lyriker in einigen Texten unter anderem ein Bild vermittelt von dem in mancherlei Hinsicht deformierenden Charakter seines Landes. Mein Versuch war es, einige von Andersons literarischen Texten vor dem Hintergrund eines ebenso widersprüchlichen sozial-politischen und literaturkritischen Umfeldes nicht als bloße Zeitdokumente, sondern als Literatur zu untersuchen. So konnte gezeigt werden, daß sie vielschichtiger waren, als es nicht erst nach der ,Wende‘ den Anschein hat.

Anthonya Visser, in Anthonya Visser: Blumen ins Eis. Lyrische und literaturkritische Innovationen in der DDR. Zum kommunikativen Spannungsfeld ab Mitte der 60er Jahre, Editions Rodopi, 1994

Nur eines noch zum Schluß:

Vollkommen aus dem Rahmen fallen die Seiten über den offenkundig aus jeglichem Rahmen fallenden Sascha Anderson. Im Unterschied zum nüchternen Deskriptionsstil des restlichen Buches entwickelt sich dieser Passus zum psychologisierenden Dithyrambus: „In seiner Person vereinten sich konspirative Disziplin und anarchische Attitüde, Skrupellosigkeit und Empfindsamkeit, Einsamkeit des Lügners und Öffentlichkeit des Kommunikators, innere Leere und äußerer Aktionismus, Geheimnis und Banalität, Amoralität und kriminelle Energie waren gepaart mit der Lust am Spiel… Die Legende mutierte zur Realität, die Fiktion zum Leben. Insofern war Anderson nicht spaltungsirre oder lediglich ein begnadeter Schauspieler, der sich selbst spielte, sondern die Rolle spielte ihn, bis er die Rolle war…“ – ’mal nüchtern dazwischengefunkt: Ist man eigentlich schon einmal der von Mitch Cohen in der Zeitschrift Horch & Guck geäußerten Vermutung nachgegangen, daß Anderson von einem bestimmten Zeitpunkt an ein Doppelagent gewesen ist? Es würde uns natürlich auch nicht glücklicher machen, wenn ja!

(1996)

Adolf Endler: Nebbich. Eine deutsche Karriere, Wallstein Verlag, 2005

 

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der S.anderson“.

 

Sascha Anderson antwortet auf die Standartfragen von faustkultur.

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