– Zu Peter Huchels Gedicht „Rom“ aus dem Gedichtband Peter Huchel: Die neunte Stunde. –
PETER HUCHEL
Rom
Vollendeter Sommer,
am äußersten Rand der Sonne
beginnt schon die Finsternis.
Lorbeerverwilderungen,
dahinter aus Disteln und Steinen
ein Versteck,
das sich der Stimme
verweigert.
Transparenz
des Mittagslichtes,
Verse, die an nichts erinnern,
ein helles Wasser
berührt den Mund.
Acht Jahre hatten die stalinistischen Ordnungshüter Peter Huchel in Wilhelmshorst festgesetzt, jeden Schritt überwacht, Aktenstöße gefüllt mit Protokollen, wer wann kam und ging. Dann, 1971, gab man den Petitionen des PEN und der West-Berliner Akademie der Künste nach und ließ den längst im Rentenalter stehenden Dichter ziehen. München war die erste Station draußen, ein Graf – seines Zeichens Sekretär der Bayerischen Akademie der Schönen Künste – ließ es sich nicht nehmen und nahm den geretteten Delinquenten persönlich in Empfang. Ein sozialistischer Literat lud zum Essen ins Hotel Vierjahreszeiten ein, Reporter gaben sich die Klinke in die Hand – kurz: Peter Huchel (samt Gattin und Sohn), Symbol für das Leiden am kommunistischen Ungeist, sollte umgewandelt werden in ein Symbol obsiegender westlicher Humanität. Die Rechnung ging nicht auf, denn, kaum angekommen, kehrte der alte Meister den Lobhudeleien hierzulande den Rücken und zog davon – Italien lockte, und nichts zwischen Isar und Elbe konnte ihn halten. Ein Jahr genoß das Ehepaar Huchel den Süden, von der großzügig budgetierten Villa Massimo und dem italienischen Staat freigehalten. Doch dann ging das Geld aus, und weil der Sohn endlich das studieren wollte, was ihm seinerzeit in Ost-Berlin verwehrt wurde, mußte die glückliche Zeit ein Ende nehmen. Am Schwarzwaldrand bezog man, anfangs in freundlicher Handreichung eines solventen Musenfreundes aus der Region, die hübsche „Notherberge“ (Huchel) des Alters.
Nicht, daß Huchel den Süden jetzt erst entdeckt hätte – im 1963, nicht lange nach seiner Absetzung als Chefredakteur von Sinn und Form, erschienenen Band Chausseen Chausseen hinterließen Venedig, La Spezia, Ischia, Chios (der Legende nach die Geburtsinsel Homers) und Verona, der Mittelmeerraum, seine Düfte und Mythen, tiefe Spuren. Vielleicht war es auch erst die letzte, große Italienreise 1977, die Huchel noch einmal Neues entdecken ließ – das Licht des Südens. Neues, dessen meisterhaftes Zeugnis das Gedicht „Rom“ ist, erschienen 1979, im letzten Buch Die neunte Stunde. „Rom“ ist (unter anderem) eine Hommage an den großen Dichter des Mittags, des mediterranen Lichtes, der Transparenz und des Mysteriums der reinen Präsenz im Augenblick, an Jorge Guillén. 1963 erschien im Archeverlag unter dem Titel Berufung zum Sein eine Auswahl von Übersetzungen, und darin finden sich zum Beispiel folgende Wortfügungen:
Transparenz
vieler Nachmittage […]
und
Aber das Licht gleite
unendlich über die Grenzen.
O offene Vollendung!
[…] Die Luft wird aufs höchste
golden, hart, sicher.
Geronnene Transparenz!
So wie Huchel einmal die Entstehung der Grundsubstanz seiner Gedichte beschrieben hatte als Aufnehmen, Zurechtschleifen, Anordnen und Ergänzen „hergewehter Wortklänge“, so hat er sich nun von einem anderen Dichter etwas ,zuwehen‘ lassen. Huchels Kunst besteht darin, diesen ,zugewehten‘ fremden Bildkomplex als klangmagischen Komplex, der nichts Bestimmtes ,bedeutet‘, sondern ein rhythmisiertes geistiges Sehen transportiert, in seine Sprache zu integrieren, ohne aus dem eigenen Ton zu fallen. (In den 50er Jahren hat Huchel vom dichterischen Bild gesprochen als etwas, das „aus dem dichterischen Wort entstehen kann, das die Phantasie des Menschen anregt und ihn zwingt, mit dem geistigen Auge zu sehen“.) Die ,reale‘ – sprich: wörtliche – Aussage eines Gedichtes interessiere ihn schlichtweg nicht, hat er in den Jahren um die Entstehung unseres Gedichtes bekannt. Weil „das Ohr als Kontrollorgan für die feinsten Abstufungen der Vokalklänge“ sein wichtigstes schöpferisches Instrument sei, „raune“ er „so lange meine Verse, bis die notwendigen – die hellen und die dunklen – Vokale die Grundstimmung der Seele ausdrücken.“ Und weil die musikalisierte „Bildvision“, also das anschaulich Rhythmisierte und Unverschlüsselte, im Zentrum seines Dichtens stehe, könne der Text noch so vieldeutig und ungreifbar sein, es gelte dennoch:
Die Sprache ist einfach, nichts wird verdunkelt. Trägt das Bild einen Gedanken oder schlägt der Gedanke in ein Bild um, die Metapher bleibt klar.
(Konträr dazu sprechen die meisten Interpreten von ebensolchen „Verschlüsselungen“, von „Chiffrierung“ oder gar von der „Hermetik“ Huchelscher Verse. Nach Axel Vieregg etwa, dem Herausgeber der Werkausgabe, müßten wir das „Mittagslicht“ als esoterisch besetzte Chiffre männlicher Zeugungskraft verstehen, nach Christoph Siemes den Vers 11 als stenographierte Erinnerung an die Mythen um den Lethe-Fluß.)
„Transparenz“ – ein lateinischer Fremdkörper in Huchels Sprache, die ganz aus der einfachen Sprache des Alltags und der brandenburgischen bäuerlichen Welt gespeist ist. Warum wirkt es nicht als Fremdkörper im Gedicht? Huchels Methode des Aushörens macht es möglich. Vom Klangreiz der Fügung „Transparenz / des Mittagslichtes“ – dessen poetischen Wert er sich von Guillén beibringen ließ – läßt er sich leiten und entdeckt doch darin die Möglichkeit, seine eigene Poetik neu ins Gedicht zu bringen. Er vollbringt das Kunststück – das Kabinettstück –, seine Poetik der musikalisierten Imagination darzustellen im Gedicht und sie zugleich als Klangkomposition sinnfällig Gestalt werden zu lassen.
Zunächst also: Wie hat Huchels Ohr die halb-entliehenen Zeilen 9 und 10 neu ausgehört? Vers 9 intoniert den offensten („Transparenz“!) der Vokale, das a, auf schwerem Taktteil, vorbereitet durch Vers 8: Der schließt explosiv auf „rt“, wirft den Leser ruckartig in die Stille, die umso wirkungsvoller mit dem zu jenem Schlußlaut spiegelbildlichen „Tr“ beendet wird. In die Leerzeile fällt notwendigerweise ein neues Atemholen – bei einem Einsatz auf Vokal oder Zischlaut wäre das nicht notwendig. Das Atemholen selbst ist die Realisation des „Versteckes“, von dem in Strophe eins die Rede ist. Die Klangfülle des „a“ in „Transparenz“ ist so, der inneren Atemspannung des Lesers nach, maximal vorbereitet. Zeile 10 nimmt umgekehrt das offene a in ihre Mitte, bettet es in ein zweimaliges, gehobenes i ein – den engsten, schärfsten der Vokale, von der ersten Strophe her noch mit „Finsternis“, „(-)verwilderungen“, „Disteln“ und „Stimme“ assoziiert. Wie zwei Grundfarben verhalten sich a- und i-Laut zueinander. Dieser dominierende Kontrast wird, wie schon einmal vor der Leerzeile in „verweigert“, umrankt vom e: Ein gehobenes e in Zeile 9, um ein Gegengewicht zum dominanten a zu schaffen; zwei e-Laute in Zeile 10, um die Symmetrie e-i-a-i-e herzustellen, doch beide Male gesenkt, um den Hauptkontrast von a und i nicht zu stören, ihn nur abgeschattet zu umrahmen. Das ganze Gedicht läuft, vereinfacht gesagt, aus dem O-Bereich des ,vollendeten Sommers‘ und der sich eintrübenden Sonne – „o“, anatomisch gesehen, ein geschlossenes abgedunkeltes „a“ – in den hellen i- und e-Bereich, um sich dann nach der stillen Zeile, in der nur der unhörbare Atem regiert, plötzlich in das geballte a der „Transparenz“ zu öffnen.
Alle drei Senkungen der Zeile 10 klingen im „s“ aus, ein Echo des Ausklingens von Zeile 9 im „z“. Zudem läuft der Trochäus über das Zeilende in Zeile 10 fort: Warum, wenn die beiden Zeilen der Genitivmetapher so eng zueinandergehören, bricht Huchel sie durch Zeilensprung auseinander? Zwei Gründe: Einer betrifft den Sinn des Wortes „Transparenz“, der zweite die klangliche Verklammerung von Vers 10 zu Vers 11. Die „Bedeutung“ der Genitivmetapher ist pure Anschauung, und es steckt tatsächlich der wörtlichen Bedeutung nach ja auch etwas Pleonastisches – „Bedeutungsloses“ – in ihr: Selbstverständlich ist das südliche Mittagslicht „transparent“. (So wie das Wasser naß ist – aber auch ,die Nässe des Wassers‘ könnte im Gedicht sinnvoll sein. Im Alltagsgebrauch ist der Ausdruck „Das Wasser ist naß“ nur ein ironischer uneigentlicher Ausdruck für eine Tautologie oder Trivialität.) Durch den Zeilenbruch entsteht etwas ganz Neues. Plötzlich ist die wörtliche Bedeutung ganz und gar nicht mehr selbstverständlich, sondern suggestiv und irritierend: „Transparent“ kann etwas nur sein auf dem Hintergrund von etwas anderem, gerade dieser Hintergrund wird jedoch – wie bei Guillén! – ausgeblendet. Der Zeilenbruch macht sinnfällig, daß es in der Metapher um etwas geht, was wörtlich genommen eine unmögliche Sinneserfahrung ist – das Sehen der Transparenz selbst. Die Verse 9f. ,sagen nichts aus‘ im Sinne einer Satzaussage; ein das Wort transzendierendes Phänomen wird durch die visuelle Aufteilung und die klangliche Dramaturgie anschaulich erfahrbar gemacht. Die Metapher wird zum „Sprach-Bild“, ja vielleicht erschafft das Sprachbild die Wirklichkeit erst.
Hätte Huchel nur die Verse 9 und 10 notiert, hätte er sich dennoch selbst verleugnet, hätte etwas seinem Dichten Fremdes aufgerufen, ohne es sich anzuverwandeln. Sein Dichten, sosehr es das Imaginative, Musikalische und Sinnfällige anstrebt, lebt nicht so ausschließlich vom imaginativen Sehen und von atmosphärischer Reinheit wie dasjenige Guilléns. Die Anschaulichkeit eines Huchel-Verses bleibt sehr viel näher an der Anschaulichkeit konkreter Dinge, zudem – und vor allem – lebt Huchels Gedicht von der Reflexion der (gefährdeten) Erkenntniskraft unserer Wortsprache im Gedicht: Mit zunehmendem Alter wird das Vermögen der Sprache, über sich hinauszuweisen, Natur und Geschichte zu entziffern, etwas Frag-Würdiges. „Verse, die an nichts erinnern, / ein helles Wasser / berührt den Mund“ rückt den Leser in diesen Bereich dichterischer Selbstreflexion. Auch das ,helle Wasser‘ gehört der ureigenen Sprache Huchels an: Es ist ein Gegenstück zum „dunkeläugig verschlossenen Wasser“ des Nordens im programmatischen Nord-Süd-Gedicht „Ölbaum und Weide“. Dies und das gegenseitige Verweisen von Naturphänomen und Sprache (Mittagslicht und Vers) ist ganz Huchels eigenes Gebiet – der Übergang von Vers 10 zu Vers 11 ist, vereinfacht gesagt, der von Guillén zu Huchel.
Warum aber lesen wir diesen Gegensatz nicht als Widerspruch oder Bruch, sondern als einheitliche Strophe? Die Antwort liegt wiederum in Huchels Kunst der Klanggebung: Das Klangband von Vers 11 mit dem unbetonten a in der Mitte, das von zwei gehobenen i-Lauten umrahmt und als Ganzes außen eingebettet ist in e-Laute, nimmt sehr deutlich die Struktur des vorhergehenden Verses auf. Die Vereinheitlichung in der klangrhythmischen Struktur ist gerade dort besonders stark, wo die asyndetische Konstruktion die Strophe beinahe in ein Nebeneinander aufzulösen droht. Gleichzeitig ist es die klangrhythmische Vernetzung, die die syntaktische Mehrdeutigkeit so wirkungsvoll macht: Das Verhältnis von Vers 11 zu den Versen 9 f. ist offen. Die Parallelität der Klangfolge allerdings setzt sie in Beziehung zueinander. Daher, wegen dieser Klanggebung allein, suchen wir nach einer Beziehung der beiden Satzglieder. Ist „Verse“ ein metaphorisches Prädikat der „Transparenz“, so etwa, wie wir sagen, eine Suppe ,sei ein Gedicht‘? Gibt es eine partielle Identität von Vers und Transparenz, eine faszinierende, nicht auf den Begriff zu bringende Unverborgenheit etwa, ein Medium, die uns in offene Weiten zieht jenseits allen ,Verstehens‘? Oder verbindet die beiden doch nur eine Analogie der Struktur, die Ähnlichkeit von sichtbarer und hörbarer Schwingung – zu denen dann die haptische Bewegung in den Schlußversen träte, um alle Sinne zu versammeln?
Unzweifelhaft ist, daß man nicht anders kann, als die Selbstgenügsamkeit – oder Selbstbezogenheit – des Wortes mit der hintergrundlosen Transparenz zu assoziieren: In beiden Fällen sind Medium und Ziel identisch. Diese Assoziation ist keine Frage des „Verstehens“ im eigentlichen Sinne; es ist eine Frage des imaginativen Vorstellungsvermögens. Huchels Metapher darf nicht in Einzelteilen semantisch ,entschlüsselt‘ werden, denn das Phänomen entsteht nur durch die Metapher als ganzer. Sie ,bedeutet‘ nichts, sie zeigt etwas, sie macht – vermittels des Ohres – anschaulich, was mit „Analysen“ im Sinne des Zergliederns nicht einholbar ist. Bedeutung und ,Aussagen‘ sind nicht das Ziel dieser Dichtung; sie sind umgekehrt Mittel, um dem Unbestimmten im Wort zur Anschauung zu verhelfen, ohne ihm seine Unbestimmbarkeit zu nehmen. Nichts anderes bringen die Verse 4ff. ins Bild: Das aus der Beobachtung nur um weniges abstrahierte Bild ist kein „Sinnbild der Unfruchtbarkeit“ (Siemes). Als Bild eines (kleinen) Geheimnisses im Leben ist es ebenso evident wie exakt, ohne über sich hinaus zu wollen: Unsere Ahnungen und Phantasien über das unserem Auge entzogene Treiben unter Steinen und Pflanzen am Wegesrand können nicht ,entschlüsselt‘ werden durch ein wirkliches Umdrehen des Steines. Sie können – oder sollen – nicht erklärt, sondern in ihrer unbestimmbaren Fülle bewahrt werden. Die Gegenwart des Geheimnisses selbst läßt Huchel Sprache werden, nicht das Verhältnis von Rätsel und Auflösung.
„Rom“ ist, wenn wir es als Ganzes betrachten, darüber hinaus ein besonders fein gearbeitetes Beispiel für eine Huchel eigentümliche Kompositionsmethode in der Großform: Er setzt Strophen zu Strophen (oder auch zu Titeln), die in keiner sinnfälligen ,thematischen‘ oder erzählerischen Beziehung zueinander stehen. Mitunter scheinen Strophen sogar fremd nebeneinander zu stehen – im berühmten Gedicht „Ophelia“ etwa. Darin ist Huchel sehr modern, jenen Malern jüngster Jahre verwandt, die mehrteilige, doch durch keinen gegenständlichen oder erzählerischen Fluß verbundene Bildeinheiten schaffen. Gerade die Verweigerung des semantisch evidenten Zusammenhanges schafft jedoch Reichtum, syntaktische, bildliche, motivische, musikalische Komplexität: Besingt die zweite Strophe des Gedichtes „Rom“ das reine, schattenlose Licht im Zenit, so die erste Strophe das Licht jenseits dieses Zenits, das absehbare Versinken im Dunkel. An das Spätsommerlicht werden wir denken bei den Anfangszeilen, in Vers 2f. vielleicht an unser Geblendetwerden vom direkten Licht, das auf der Retina für einige Augenblicke dunkle Schatten erzeugt oder die Sonne mit einem dunkleren Hof hinterläßt, wegen der Parallelstellung von „Sonne“ und „Finsternis“ an den Versenden vielleicht sogar an Sonnenfinsternis. Vielleicht an das Fortschreiten vom gleißenden Weiß ins wärmere Gelb, wenn die Sonne im Jahreslauf ihren Nadir überschritten hat und sich „vollendet“, weil sie nun für unser Auge erträglicher ist (als festumrissene Gestalt wahrgenommen werden kann) und die fruchtbare Epoche des Jahres ihren Gipfel- und Endpunkt in der Erntezeit erfährt. Wie auch immer, abstrakter betrachtet, korrespondiert das Hell-Dunkel-Kontrastphänomen dieser Anfangszeilen dennoch mit dem Phänomen der kontrastlosen Anwesenheit des Lichtes in der zweiten. Es ist eine beinahe mathematisch exakte Konstruktion: Der Zenitpunkt einer Kurve ist, mathematisch gesehen, kein selbständiges Etwas, sondern ein Punkt des Übergangs, der der ab- und aufsteigenden Asymptote gleichzeitig angehört (sonst wäre eine Gerade zwischengeschaltet). Der Südreisende kennt das Phänomen des „Stehens“ der Atmosphäre, der Abwesenheit von Wind und Tätigkeit, der ausgelöschten Zeit. (In Guilléns Gedicht heißt es übrigens: „Vollendung! Vorbei ist / die Abwesenheit der Luft, / mit einem Mal offensichtlich.“) Dieses Innehalten, dieser Riß in der Zeit und dem natürlichen Zyklus ist keine graduelle Steigerung einer sonstigen Erfahrung. Es erfaßt und überfällt den Menschen von einem Augenblick zum anderen. In Strophe eins herrscht die gewöhnliche, zyklisch fortschreitende Zeit; der Sprung über die Leerzeile wirft uns aus dieser Zeit.
Guillén brachte das Zuendegehen der reinen Präsenz in diese Verse: „Die Luft wird aufs höchste / golden, hart, sicher / Geronnene Transparenz! // Schon wölbt sich der Raum / […]“. (Hervorhebungen S. K.) Huchel konstruiert auf ganz eigene Weise nicht nur den Sprung aus der – zyklischen, natürlichen – Zeit; er konstruiert sehr genau auch das Ende dieses epiphanen Augenblicks in den Schlußzeilen 13f. Er schreibt nicht, wie wir in Analogie zur vorangehenden Satzstellung („ein Versteck, das […]“, „Verse, die […]“) erwarten: „ein helles Wasser / das den Mund berührt“. Dann wäre auch für diese Zeilen, rein grammatikalisch gesehen, der „Mittag“ das Subjekt, auf das wir es beziehen müssen, das Wasser ein zweiter Vergleich neben den „Versen“. Nein, Huchel bringt das Übergehen des reinen, erfüllten Augenblicks in die profane Jetztzeit gewissermaßen in Echtzeit in Verse: Das Berührtwerden vom Wasser ist ein Erwachen, ein paradoxes Erwachen, ein Herausgerücktwerden aus höchstem, erfülltem Bewußtsein. Daher ist es zugleich der Verlust der epiphanen Erfüllung – nur die ,Helligkeit‘ des Wassers bewahrt etwas von der „Transparenz“. Aus dem erfüllten und selbst-vergessenen Zustand kann das Subjekt sich nicht selbst herausführen – es ist ja, wiewohl im höchsten Grade geistig präsent, nicht bei sich als empirisches, rational handelndes Subjekt. Daher handelt das Wasser selbst – es „berührt“ den Mund.
Ein ich-vergessenes, doch hellwaches Bewußtsein, eine reine, ich-lose Aufmerksamkeit (ein Zustand, der an die nicht-rationale, doch geistige Wachheit, wie sie Yoga und Zen anstreben, erinnert); ein taghelles Bewußtsein, das doch kein Bewußtsein ,von etwas‘ ist, wie die deutsche Bewußtseinsphilosophie sagen würde; ein Bewußtsein, losgelöst von körperlicher Individualität – Huchels Gedicht ist damit auch ein Gegenentwurf zu Gottfried Benns (nietzscheanischem) Vitalismus. Der läßt seinen Ikarus (1915) ebenfalls im südlichen Mittag aus der Zeit treten, „kein Erinnern“ heißt auch hier das Ziel, doch das Sehnen geht nicht auf reine, geistige, von keinem Vorher und Nachher getrübte Präsenz. Es geht auf eine Auslöschung des Bewußtseins überhaupt: „O Mittag, der mit heißem Heu mein Hirn / zu Wiese, flachem Land und Hirten schwächt, daß ich hinrinne“, so geht die Inbrunst mit Benns Gedicht-Ich um. Es ruft den „Mohn“ an, die Rauschdroge, die das Bewußtsein von der sinnlich wahrnehmbaren Dingwelt abzieht, es ruft dem Mittag zu „enthirne doch“ (Vers 5). Es geht ein in das „tiefe Mutterblut, die strömende / Entstirnte / Matte / Getragenheit“, dorthin, wo „Das Tier lebt Tag um Tag“. Gottfried Benns Vers-Ich streift sein Erinnerungsvermögen ab, um mit dem Vorindividuell-Kreatürlichen zu verschwimmen („Das tiefe Mutterblut“, heißt es in Vers 13 gemäß Benns Vorstellung, das Gehirn sei „dunkler, als das Jahrhundert dachte“ und werde „von den Müttern tief gehalten“; vgl. „Zur Problematik des Dichterischen“).
Huchel, der Dichter des trüben Nordens, der bäuerlichen Vormoderne mit ihren volkstümlichen Mythen und Bräuchen, läßt in „Rom“ sein Ich das Gegenteil einer Bennschen „Regression“ erfahren. Es gibt hier gar kein individuelles Wahrnehmen und daher kein „Ich“, es gibt nur ein trägerloses Bewußtsein: „Mund“ und „Stimme“ stehen bei ihm ohne besitzanzeigenden Artikel da – sie erscheinen als Organe ohne individuellen Träger wie die anderen Dinge des Gedichtes, die mit bestimmtem Artikel versehen sind, Sonne, Finsternis und Licht. Es ist nicht dieser eine bestimmte Sommer, diese eine Finsternis, sondern der Sommer überhaupt, die Finsternis schlechthin; es ist nicht dieses eine Versteck hier vor meinen Augen, sondern eines, wie es überall und jederzeit zu finden sein könnte. Huchels Vers-Ich verläßt im Gedicht sein empirisches Ich nicht weniger, als dies bei Benn der Fall ist, doch ist es bei Huchel eine Steigerung des Bewußtseins, eine Reinigung des Ich vom Kreatürlichen. Die technischen Mittel zur Verbildlichung dieser reinigenden Steigerung sind die einer klangrhythmisch „transparent“ gemachten Unbestimmtheit. Luzidität ohne bestimmte Bedeutung, eine Epiphanie, die nicht enträtselt, sondern imaginativ – wortmusikalisch – erfahren werden will.
„ein Versteck, / das sich…“ – „Verse, die an…“ Huchels Komposition stellt die Bilder als Bilder in Kommunikation zueinander: Das Natur-Anschauliche tritt in eine geheime Zwiesprache mit dem Anschaulichen im Wort. Das Wort, das auf nichts verweist und doch viel sagt, ist im Innenleben des Gedichtes verdrahtet mit der Natur-Anschauung, die etwas bedeutet und doch keine (hörbare) Sprache besitzt. Das Geheimnis ist als Geheimnis sinnfällig geworden – als etwas, das verführt, in Sprache aufgelöst zu werden, und das zugleich nie, will es sein Wesen nicht verlieren, in Bedeutung aufgelöst werden darf.
Die Subtilität der Huchelschen Komposition aus zwei getrennten Segmenten kann erst von hier aus verstanden werden: Die Verse 11–13 stehen mit den Versen 6–9 in Korrespondenz; zugleich stehen sie in einem (weniger engen) Verhältnis zu den Versen 2f.: „beginnt…“ – „berührt…“. Der Augenblick, in dem die ,Vollendung‘ des Sommers von Finsternis abgelöst wird, korrespondiert dem Augenblick, da die reine, selbst-vergessene – ,vollkommene‘ – Lichterfüllung abbricht. Auch hier werden das sich Ereignende in der Natur und das sich Ereignende im Bewußtsein durch Klang und Wortstellung miteinander in Korrespondenz gebracht. Keine Identität, keine blanke Differenz, keine bloße Analogie, sondern eine nur in der Poesie – allenfalls noch in der Mystik – mögliche geheime Kommunikation der Sphären.
Sebastian Kiefer, neue deutsche literatur, Heft 535, Januar/Februar 2001
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