Sebastian Kiefer: Zu Ulf Stolterfohts Gedicht „[fachsprachen XVII/6]“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ulf Stolterfohts Gedicht „[fachsprachen XVII/6]“ aus dem Band Ulf Stolterfoht: fachsprachen X–XVIII. –

 

 

 

 

ULF STOLTERFOHT

[fachsprachen XVII/6]

jeder satz sagt wittgenstein (wo?) könne so
verstanden werden als erkläre er eines seiner
glieder: was meinst du eigentlich mit satz?
jeder SATZ sagt wittgenstein… / was meinst
du eigentlich mit wittgenstein – so dürft es
endlos weitergehn. selbst ist der satz. zu-
nehmend komplex. bis sich rest außenwelt wie
faule haut vom körper löst / der körper sich
wie folgt entblößt: wenn ich das bin was da
zitiert zitiere ich doch immer einen satz (und
eben keinen sachverhalt). kurz hingeknallt. die
folgende warnung erging an die adresse eines
westberliner autors: „realo – wir wissen wo
dein laptop liegt / am grund der spree / im
gipskorsett“. das kränkt. das schmäht. das tut
dem dichter weh. ein junger dachs erobert seine
welt. flachdachs. behelfswelt. dergestalt auf
krücken gestellt daß da schon wieder „wörtchen“
schimmern. in träumen wird auf einmal marburg
wichtig. ansonsten alles züchtig / flüchtig.

 

Satzmaterial, Ichmaterial

Das „künstlerische Material“ ist nur noch ein Schatten seiner großen Vergangenheit. Für Adorno vertrat es den Weltgeist in Zeiten seiner Verdunkelung: das Material als Statthalter der Schechina, wie es die Kabbalisten sagten, als letzter Hort möglicher Versöhnung des Ganzen. Gegen derlei „in Deutschland verbreitete theoretische und belletristische Untergangsmetaphysik, Übellaunigkeit, German Angst und Götterdämmerungsstimmung“ (Stefan Wackwitz) trat die „Konkrete Poesie“ an, auch sie tat es im Namen des Materials. Eine wissenschaftliche Verjüngungskur des Materials sollte nicht das Ganze und Erlösende noch einmal retten, sondern es ins Museum und die Geschichtsbücher verbannen:

es eignet dem wort die schönheit des materials und die abenteuerlichkeit des zeichens. es verliert in gewissen verbindungen mit anderen worten seinen absoluten charakter. das wollen wir in der dichtung vermeiden.

Wenn solche absolute Reinheit der Wortmaterie hergestellt sein würde, dann wäre, so träumte Eugen Gomringer in den fünfziger Jahren, eine neue, verbindliche lingua franca poetica geboren. Ihretwegen stimmte er dann doch ins Hohe Lied vom Material ein:

zweck der neuen dichtung ist, der dichtung wieder eine organische funktion in der gesellschaft zu geben und damit den platz des dichters zu seinem nutzen und zum nutzen der gesellschaft neu zu bestimmen.

Die Fallhöhe war beträchtlich. Das „Material“ kam zum universitären Ladenhüter herunter. Heutige Poetiken meiden das Wort füglich, der Stallgeruch der theatralisch und kunstnarzisstisch verblasenen Gesellschaftsutopien ist ihm nicht auszutreiben. Ironie statt heiliger Ernst, Pluralität der Idiome statt Rettung des Ganzen, freies Flottieren statt Materialstand, so lauten die Stichworte der Saison, die nun schon bald zwei Jahrzehnte währt.

Der Poet, der aufgeklärt und ironisch auf die zivilisierende Wirkung der formgesättigten Ironie setzt, befreit das Gedicht von der fixen Idee des Fortschritts, die unter dem Innovationsgebot die tradierten Formen verbrannte.

So dekretierte das Merkur-Heft „Über Lyrik“ 1999 pontifikal und präzeptorial und erhob Robert Gernhardt zum Epochengenius. Jene „Intellektuellen, die Friederike Mayröcker und Thomas Kling lieber loben denn lesen“, könnten sich nun, da Material- und Fortschrittsdenken sich endgültig erledigt hätten, wieder reinen Gewissens „erholen… bei einer Poesie, die ,trocken, licht, geistvoll‘“ ist. Gernhardt, so etwa ließ sich dort eine Professorentroika vernehmen, ist der Statthalter Goethes, nur spaßiger. Nun dürfte es schwierig sein, jemand, der licht-geistvolle Kunstprodukte der Art „Ich schreibe ein Buch / und mein Buch wird ein Hit. / Doch Marina weiß nichts davon… Was nützen mir Buch / und Unsterblichkeitsscheiß / Samt Breitbach-, Büchner- und Nobelpreis / Wenn Marina davon nichts weiß“ in einem Atemzug mit W.H. Auden, Yeats und Celan nennt, in Debatten über Kriterien zu verwickeln. Doch selbst kategorienverwirrte Präzeptoren unterstehen den Gesetzen der Logik und so darf man wohl den Finger auf einen Hinkefuß legen. Klopstock, modernes Urbild des Sängers, war ein Sprach-Denker von epochaler Dimension, der junge Goethe schöpfte aus Herders Spekulationen, der alte hätte sich nicht unterstanden, Humboldts Philosophie der Sprache zu ignorieren, Barockpoeten haben sich an Jakob Böhmes Sprachtheosophie entzündet, Novalis an Franz von Baader, Baudelaire und Blake an Swedenborg, Eichendorff und noch Celan an der Theorie der adamitischen Namensgebung usw. – sprich: Die poetische Sprache ist von jeher, um es mit den Wissenschaftstheoretikern zu sagen, „theory-laden“. Es gibt keine theoretische Unschuld des poetischen Herzens. Diese ist vielmehr eine späte und historisch bedingte Inszenierung, eine beiläufige Episode in der Geschichte der Dichtung. Mindestens die stoische Theorie der Bezeichnung steckt in unser aller Blut, denn sie ist auf allen möglichen Umwegen in unseren Deutschunterricht eingeflossen: Wir reden wie selbstverständlich von der Bezeichnungskraft der einzelnen Worte, vom Abbilden von Eigenschaften in Prädikaten, von „Subjekt“ und „Objekt“ im grammatischen Sinne und vielem mehr, und das ist keine Selbstverständlichkeit, im Gegenteil, es ist der Inbegriff dessen, was linguistisch fragwürdig und sprachphilosophisch wahrscheinlich sogar obsolet ist.
Es gibt keine theoretische Unschuld. Man überlässt allenfalls anderen die Wahl. Das kann man niemanden verbieten, man sollte sich nur im Klaren darüber sein, dass man das Je-schon-Gewähltsein gewählt hat. Es ist keine „Fortschritts“-Ideologie, zu glauben, die poetische Sprache habe sich den linguistischen Paradigmen der Gegenwart zu stellen, habe sich an Derrida und Paul de Man abzuarbeiten, an Wittgenstein und Donald Davidson, an Whorf, Charles Sanders Peirce oder den Psycholinguisten – es ist ein Bestehen auf Tradition. Wer „Form“ sagt und dabei Gernhardt meint, also das quantitative Schema als Füllstutzen von Anekdoten und Vorwand zu Pointen, ist nicht konservativ oder liberal und offen zum Volkstümlichen hin, sondern einfach ein Verächter dessen, was Klopsrock. Goethe und Mallarmé unter „Form“ verstanden haben.
Vielleicht hätte man tatsächlich vergessen, wie weit sich der lyrische Common sense, der sich in den Großfeuilletons und den Akademien unterm Banner der Avantgarde-Verachtung breit gemacht hat, von allem entfernt hat, was einmal „Form“ und Einbildungskraft hieß – die eben selten ohne linguistische Modelle und sprachphilosophische Zeitgenossenschaft auskamen –, wenn nicht unlängst Gebilde wie das in dieser Lesart vorgestellte aufgetaucht wären. Solche Dichtung hat sich von den Theoretikern der Dekonstruktion und der totalen Medialisierung belehren lassen, dass es keinerlei Unschuld mehr gibt: Jedes Sprechen ist ein Déjà vu. Alles ist Reproduktion, die Flucht ins Ich-Hafte, Formbewährte, Ursprüngliche, Ungesagte oder Erschaute zuallererst. Individualität und Innovation können daher allenfalls eine gewisse Weise des Modulierens meinen. Oder Akzentsetzungen in einer Choreographie der vergeblichen Fluchtbewegungen im Käfig der immer schon präexistenten Codes. Verblüfft sehen wir, dass „Vielzüngigkeit“ oder multiversale Codierung wohl Kernworte der Poetologie der neunziger Jahre waren, doch niemand ernsthaft Konsequenzen aus dem Hinwegbrechen verbindlicher Letztbedeutungen zog: Man redete über das Auseinanderbrechen der Idiome in entliehenen Formen. Mochte man den zerspellten Kosmos begrüßen oder beweinen – das diagnostizierende Subjekt blieb außen vor und also intakt. Ich und Sprachgestalt gingen nicht aus dem Idiomgewitter hervor, man brachte sie ,in Form‘. Also setzte sich das Gedicht nie restlos den Idiomen aus. Wenn es das täte, gewönne es Form, indem es sich den überlagernden Codierungen anheim gäbe und sich von ihnen vorantreiben ließe. „es eignet dem wort die schönheit des materials und die abenteuerlichkeit des zeichens.“ Plötzlich kommt diesem angestaubten Credo eine ganz neue Gegenwärtigkeit zu: Das Gedicht kann im Zeitalter der Schnittstellen und Multicodierungen ankommen, wenn es die Errungenschaften der klassischen Moderne transformierend aufgreift. Anders gesagt: Nur der radikale Avantgardist kann postmodern sein.
Das ist nicht alles, was Stolterfohts Gedicht lehrt. Es vollbringt zudem das Kunststück, das Sich-Überlassen an aufgelesene oder einschießende Idiomtrümmer zu demonstrieren und dabei nicht das mit Frege in die Welt getretene, von Wittgenstein ausgearbeitete sprachphilosophische Jahrhundertparadigma zu unterlaufen: Der Satz – nicht das Einzelwort – ist die Bedingung jeder verbalen Bezugnahme auf etwas anderes. Ulf Stolterfohts fachsprachen wählen, weil sie – vielleicht zum ersten Mal – das Frege-Wittgenstein-Paradigma schöpferisch befragen und zugleich Zeitgenossenschaft mit der dekonstruktivistischen Absage ans autonome Subjekt suchen, daher das Sowohl-als-auch: Fortlaufend wird montiert, entstellt, parodiert, angerissen, ins Leere gefragt, gekalauert, doch eben dieses produzierende Dekonstruieren setzt voraus, dass der syntaktische Rhythmus und die Morphologie der Worte weitgehend intakt sind. Der Satz ist wie bei Frege eine Transzendentalie, eine Bedingung der Möglichkeit jeden Sagens, auch des entstellten – das wie jedes moderne Dichten immer auch die eigenen Grundlagen einholen will, in diesem Fall das Sowohl-als-auch. Aber was heißt im Gedicht der totalen Vermittlung „einholen“? „Verstehen“? Altfränkische Metaphysik. Dekonstruieren? Dito. Gibt es ein Drittes? Wenn, dann das Gedicht selbst, das sich fasziniert gibt von der Frage danach, was ein Satz ,ist‘, obwohl diese Frage zu den „Was-ist“-Wesensfragen gehören, die nach Wittgenstein eine Irreführung durch unsere Grammatik sind.
Gottlob Frege irrlichtert in persona durch die fachsprachen. Schlussstein des ersten Stolterfoht-Bandes war ein programmatisches, ungeklittertes Zitatgedicht, das Frege höchst zweideutig zum Vorzeigeakrobaten moderner Wahrheitssuche erklärt. Als Frege feststellte, „daß seine // fundamentale voraussetzung falsch war antwortete er / darauf mit intellektuellem vergnügen.“ Der vollständige Satz ist eine conditio sine qua non dieser Gedichte, weil ihr Sinn im lautspielerischen, idiomklitternden, materialverschneidenden oder subversiv fragenden Unterlaufen von Sinn besteht. Burlesk heißt es anderswo in Form eines kommentierend konterkarierten Zitates:

man möchte beinahe sagen daß die verwerfungen der
syntax in der versdichtung die herrschaft von gesetz und
ordnung in der gesellschaft bedrohen. ja ja:
zu gerne will man das. mit minimalem einschränk: nur!

Die Anfangszeilen des Lesarten-Gedichts sind eine spielerische Fortspinnung des Wittgensteinschen Stiles („was meinst du eigentlich mit…?“). Die Imitation eines Diskursstiles drängt durch radikalisierende Anwendung auf sich selbst über sich hinaus. Dann wird plötzlich die Diskursart gewechselt, es folgt eine scheinbar willkürliche Setzung eines verfremdeten Sprichworts: „selbst ist der satz.“ (cf. „selbst ist der mann.“) Doch der Spaß hat Methode. Oder die Methode, die nur ein Ausbrechen aus dem Zwang zum vorgegebenen Sinn sein wollte, muss feststellen, dass auch dieses Ausbrechen aus einer Diskursart nur dazu führt, in einer anderen zu landen, die mit der ersten, ob sie will oder nicht, in sinnhafter Assoziation steht. Wir können „Satz“ selbst nicht verstehen, weil wir uns ja immer wieder nur in Sätzen verständigen und auf andere Sätze – zum Beispiel die Ausführungen Wittgensteins – beziehen können. Alles ist Reproduktion. Und: Keine Reproduktion ist ohne Kopierfehler. Wenn also nun der Satz ungefähr die gleiche Rolle wie ehedem das transzendentale Ich spielt – werden „selbst“ und „satz“ funktional äquivalent. Ganz konsequent fährt das Gedicht also fort, das Geheimnis des Satzes als Geheimnis eines sublimen inneren Ich zu behandeln. Von diesem fällt, wie es nun in Imitation alter mystischer Gleichnisrede heißt, das Physische ab. (Die erlauchte Rede von den Wörtern als Kleid der Seele mag zudem hineinspielen.) Nur: Der Gang ins mystische Innere ist nicht nur selbst wiederum ein Satz; er benutzt seinerseits einen gleichnishaften Teilsatz („wie faule haut“), was ja nichts anderes heißt, als dass auch diesem Satz wohl noch ein ,eigentlicherer‘, ,wörtlicher‘ Satz zugrunde liegen muss. Der Satz war also sogar hier, wo er selbst befragt und durch ein Gleichnis ersetzt wurde, schon immer da, bevor ich zu erkennen anfing – obwohl oder gerade weil ich dachte, das geheime Innere des Satzes vor meinen Augen zu entblättern. Und die Adaption mystischer Rede war ihrerseits schon innerlich gebrochen: Sie mündet unversehens in die seltsame bürokratisch eingefärbte Floskel „… wie folgt entblößt“, die sich noch dazu befremdlich mit der Fügung „… vom Körper löst“ reimt, als ginge hier etwas mit dem Text durch und wolle in kindisch-jambiges oder volkstümlich vierhebiges Gereime ausbrechen. Eine Art Störfrequenz – genauer besehen eine Travestie der klassischen Avantgarde: In Schwitters’ Prosastücken findet man solche anarchischen Binnenreim-Querschläger.
„wie faule haut vom körper löst… entblößt“, das ist makaber. Wörtlich verstanden, kann nur ein Pathologe das Ablösen der Haut eine ,Entblößung‘ des Körpers nennen. Zudem war die Fügung „wie faule haut vom körper löst“ in sich verfremdet: Es verbirgt sich darin die Redensart ,auf der faulen Haut liegen‘. Handelt es sich bei solchen Verschränkungen um Manipulationen tatsächlich existierender Zitate? Sind sie die Erfindung eines Budenzauberers, der alle Diskurse in Effektlaune aus dem Stegreif erfindet, ohne dass es ihn interessiert, woher sie stammen, wie sie ,korrekt‘ lauteten? In einer Nachbemerkung zum ersten Band hatte Stolterfoht etwas Derartiges angedeutet:

In viele der Gedichte sind Zitate eingearbeitet, aber nicht immer als solche kenntlich gemacht. Oftmals war oder ist mir heute ihre Herkunft unbekannt. Aus Gründen der Redlichkeit seien hier zumindest die Fälle aufgeführt, in denen sich Texte, über das eigentliche Zitieren hinaus, eines fremden Materials bemächtigen…

Andererseits: Das Gedicht könnte ebenso gut das Produkt eines abbildlichen Realismus sein. So unstet, mal logischer als die Philosophen selbst, mal unfähig, ,einen einzigen Gedanken festzuhalten‘, mal gewissenlose Wortkomödie, der alle Idiome gleich heilig oder unheilig und je nach Laune fragmentier- und entstellbar sind – genau so funktioniert womöglich das „Selbst“ der Ära totaler Medialisierung. Es kann sich kaum mehr Ursprung und Folgen irgendeiner Floskel, irgendeines Sprachbildes, irgendeiner Wortprägung sicher sein, und zwischen Authentizität und Imitation kann schon lange nicht mehr unterschieden werden. Ja, vielleicht ist eine der verstörendsten Innovationen dieses Gedichts, dass in ihm zwischen Abbild, Konstruktion und Dekonstruktion gar nicht mehr unterschieden werden kann – und dass es sich dennoch als annähernd organisches Netzwerk, als Rhizom der fragmentierten Welt entziffern läßt. Daß „faule haut“ sich wie „rest außenwelt“ vom Ich- oder / und Satzkörper löst, ist durchaus in Nachfolge der Vorstellung von der Hinfälligkeit des Fleisches gesagt; eine gleichsam verwörtlichende Dekonstruktion alter Gleichnisrede. Nicht wörtlich, also als Gleichnis im Gleichnis gelesen, würde mit dem Abfallen der bloß äußerlichen Verhüllung des Satzes auch der Müßiggang hinieden ein Ende haben, die „faule Haut“ würde abgelegt, um mit der eigentlichen Gedankenarbeit zu beginnen. Genau das, so sehen wir jetzt, wurde zuvor schon angekündigt: „selbst ist der satz. zu- / nehmend komplex.“ (Mit der merkwürdigen dissonantischen Reibung von „selbst“ und „komplex“.) Und es spielt die Erinnerung an den allerersten Satz hinein, der hoffnungslos quer zur Verseinteilung steht, als ob er uns damit sagen wollte, wie ,unpoetisch‘ er ist:

jeder satz sagt wittgenstein (wo?) könne so
verstanden werden als erkläre er eines seiner
glieder: was meinst du eigentlich mit satz?

Versteht man die Frage – eine Frage nach der Frage nach dem Satz, also gleichsam eine Frage zweiter Stufe – als Nucleus des Gedichts, würde das Ganze zum abbildenden Protokoll der Vernetzungen, die sich im Bewusstsein auf- und abbauen, wenn es jene Frage zu beantworten versucht. Aber dieser Fragesatz kann auch als ,tatsächlich‘ wirkendes Prinzip, als Subjekt (sic!) und movens des Ganzen verstanden werden: Das Gedicht selbst wäre dann die (durch verschiedene transitorische Netzwerke hindurchgeschleuderte) Erklärung, die der Satz sich selbst gibt. Das ist natürlich bestenfalls eine Metapher, doch das Gedicht nimmt damit nur eine zitierte Metapher für bare Münze: „jeder satz sagt wittgenstein (wo?) könne so / verstanden werden als erkläre er…“ Dort war das Subjektartige des Satzes keine Metapher; wieso sollte es jetzt eine sein? Nur, weil niemand mehr ausdrücklich zitiert wird? Der Satz ist das Subjekt, aber er „hat“ ja buchstäblich auch eines: „… wie folgt entblößt: wenn ich das bin was da / zitiert zitiere ich doch immer einen satz.“ Wittgenstein lehrte, um „dem Ich“ auf die Spur zu kommen, müsse man nur von dem großgeschriebenen „Das Ich“ zurückgehen zum grammatisch unverfänglichen, kleingeschriebenen Pronomen „ich“ (oder „selbst“). Dann aber wäre ja tatsächlich im Satz „selbst ist der satz.“ nicht mehr klar, wer wen zitiert – beide, Selbst und Satz, wären Funktionsgrößen, Bedingungen und Momente des Sich-Sagens, nicht aposteriorische Gegenstände der zeigenden Objektrede. Zitiert der Satz ,mich‘, wo doch auch mein „Selbst“ ein Produkt oder Funktionsmoment der (missbrauchten?) Grammatik ist – oder zitiere „ich“ den Satz? Oder spielt ein Drittes, Namenloses, mit uns beiden? Oder ist das Dritte die Sprache „selbst“?
„kurz hingeknallt“: Der Kanalwechsel ins Vulgärdeutsche ist eine barsch-burschikose Geste in der arithmetischen Mitte des Gedichtes. (Und ein weiteres Vexierspiel mit dem Binnenreim: „sachverhalt“ – „hingeknallt“.) Die obere Hälfte gewann aus dem Eingangssatz (Zitat?) eine selbstreflexive Dynamik, die das Gedicht, also die Sätze, also das Ich, entzündete, indem es ständig auf der Suche nach einer ,Selbst-Erklärung‘ war, die es im Augenblick des Entstehens schon wieder überblendete. Sie konnte als eine sich wie in einem allzu üppigen Kostüm (sic!) verwickelnde Entfaltung der Frage des Satzes nach sich „selbst“ als auch als Frage des Ichs nach sich „selbst“ gelesen werden. (Im nachfolgenden fachsprachen-Gedicht wird das in der Art des „Alle-Kreter-lügen“-Paradoxes so gefasst: „,ich bin ein gedicht‘ – sicher einer / der verzwacktesten sätze deutschsprachiger lyrik.“) So zahlreich die Bezüge sind – sie stehen immer auf der Grenze zur Selbstnegation und sie exerzieren vor, dass aus der eingangs gesetzten selbstreflexiven Grundfigur nach der Bedeutungsklärung kein Weg hinausführt – oder allzu viele. Die schroffe Geste „kurz hingeknallt“ und die aus ganz anderen Idiomregionen stammende Nachrichtennotiz „die / folgende warnung…“ durchbrechen nun die sich auflösende und an allen Objekten abgleitende Selbstreflexivität von Satz und Ich. Doch der Satz „kurz hingeknallt.“ schafft im gleichen Augenblick neue Bezugsnetze: Er bezieht sich auf den unmittelbar davor stehenden Satz oder alle vorangegangenen – oder aber auf den nachfolgenden zweiten Gedichtteil: Hier fällt nicht nur das einzig ausgewiesene Zitat des Gedichtes, es wird auch offenbar ein außerhalb des bisherigen Gedichtes liegender Satz zitiert. Von hier aus betrachtet, müssen die Sätze „wenn ich das bin, was da / zitiert zitiere ich doch immer einen satz (und / eben keinen sachverhalt). kurz hingeknallt.“ neu gelesen werden. Wenn ich das gewesen sein wollte, der da die Sätze Wittgensteins und sonstiger zitiert hat – es zum Beispiel also nicht der Satz selbst war, der das tat –, dann bin ich jetzt so frei, gleich noch einige andere zu zitieren, und beweise so meine Autonomie im Dschungel der Idiome, Fragen und Kategorien.
Verdächtig aber, dass vom Gedicht des Westberliner Autors Stolterfoht nun ausgerechnet eine Weisung „an die adresse eines / westberliner autors“ ausdrücklich zitiert wird – ein Satz, der also seinerseits einen Satz zitiert. Seltsam auch, dass er mit dem Szenewort „realo“ angerufen wird, und der, kaum ist das ausgewiesene „Zitat“ gefallen, sich schon wieder ganz munter ,einen Reim darauf macht‘: „am grund der spree“ – „das tut / dem dichter weh.“ Nun hört man im – simulierten? entstellten? – Zitat das alte Motiv von der Dichter-Lyra auf dem Grunde des Flusses hindurch. (Auch wenn der Urheber des „Zitats“, wer immer es sei, davon vielleicht gar nichts ahnt.) Das einzig ausdrücklich Zitierte dieses Gedichtes, das sich in gewissem Sinn an der Frage des Zitierens, nämlich an der Bezugnahme eines Satzes auf sich selbst oder auf einen anderen Satz entzündete, scheint den Dichter selbst zu verhöhnen. Der Dichter, der sich im entstehenden Gefühl, über Sätze, Sinn und Zitate nun autonom verfügen zu können, „knallt“ etwas scheinbar Text-Externes hin – und steckt sogleich in Selbstbezüglichkeiten, die auf neue Weise sein Welt- und Sinnverlangen unterminieren. Allerdings – es stand ja geschrieben: „wenn ich das bin, was da zitiert…“ Wenn ich das (gewesen) bin, scheint das sagen zu wollen, zitiere ich eben noch einen Satz, aber eben auch: Wenn ich das bin, zitiere ich ohnehin immer nur Sätze, die andere Sätze zitieren, die wiederum auf seltsame, rhizomartige Weise mit anderen in Beziehung stehen und noch nicht einmal das ist ganz sicher, denn vielleicht bin „ich“ jenes Zitierende gar nicht, sondern die Sätze oder eine magische dritte Instanz. Ja, es ist ja nicht einmal sicher, ob es sich überhaupt um Zitate handelt, nicht vielmehr um entstellte Brocken oder erfundene Stil-Imitationen, mit denen die Sätze das Ich oder die Sätze die Sätze oder das Ich das Ich oder das Ich den Leser ans Licht ziehen und damit hinters Licht führen.
Womöglich ist dieses Ich gegen Ende nicht (mehr) ganz bei sich. Jedenfalls lallt es sich halb in Kindersprachenreimen zu Ende. Oder dieses Ich ist eigentlich mehr als wir Leser bei sich selbst, denn es produziert Sinn(es)-Lust, ohne sich unserem gewohnten „strukturzwang“ (wie es in einem anderen fachsprachen-Gedicht hieß) zu unterwerfen: „ein junger dachs erobert seine welt.“ – Das kommt wie eine Promenadenmischung aus Taugenichts, „Bildnis des Dichters als junger Mann“ und Kinderbuch daher. Doch stehen die denn nicht auch „tatsächlich“ in Korrespondenz? Auch dieses in ernstem Spiel aufgerufene „welt“-Netz wird, kaum haben unsere Neuronen es brav aktiviert, wieder unterminiert: Aus „behelfswelt“ folgt in silbenspielerischer Deduktion oder in Dalíscher Phantastik der Ausdruck „auf krücken gestellte welt“. So elend soll dieses irdische Idiomgefängnis nun nach dem misslungenen Ausbruchsversuch sein, dass da „schon wieder“ Worte „schimmern“ – warum „schon wieder“? Sind wir plötzlich unter Kabbalisten geraten, für die die Wahrheit des Wortes erst erfahren werden kann, wenn die Welt in ihre tiefste Schmach gesunken sein wird? So wahr scheint das kommende, das latente, aufdämmernde Wort zu sein, dass wir noch gar nicht wissen können, was dieses Wort dann sein wird und wir daher von ihm vorerst nur in Anführungszeichen sprechen dürfen und in verniedlichendem Kindersprachen – Diminutiv – „ein junger dachs erobert seine welt“! Wäre das Wort „wörtchen“, wenn wir wüssten, wie es ,wirklich‘, also ohne Gänsefüßchen und Diminutiv lautete, eine Art Zauberwort, nirgends genannt, un-zitiert zitiert, und daher die heimliche Antriebskraft des ganzen Gedichtes?
Natürlich wird auch dieses aufgebotene Sinn-Spektrum in Stolterfohts ars combinatoria humoriana aufgerufen, um noch im Aufscheinen lustvoll oder reflexartig entzaubert zu werden. Und scheint das Gedicht nicht am Ende genau dieses Verfahren sogar anzudeuten mit dem Wort „flüchtig“, das sich wieder einmal in ironischer Halbdissonanz mit „wichtig“ reimt? Nein, auch hier kein unvermischter Sinn, kein Meta-Code. „flüchtig“ ist nur das Produkt des von Stolterfoht geliebten Verfahren des „Ver-Hörens“, der Neuzeugung, Verfremdung, Entstellung von Worten durch fingiert ungenaues Hör-Verstehen: „züchtig / flüchtig“. (Ebenfalls ein Erbe der klassischen Avantgarde: In Heißenbüttels Textbüchern etwa kann man es finden, Priessnitz hat es geradezu systematisiert.) Nicht-flüchtig, also handgreiflich und dauerhaft, ist nur der unversehens dazwischenfunkende Traum von – ausgerechnet – Marburg. Auch er kam seinerseits als Desillusionierung ins Spiel, als Verdrängung des zuvor sich gerade eben aufbauenden „behelfswelt“-Imagos. Oder als dessen Bestätigung? Andererseits: Marburger Schule, Neukantianismus, Heidegger etc. Vielleicht also ist nur dieser Traum „un-züchtig“. Und daher nicht, wie alles „Züchtige“, Welterklärungssuchende zuvor, nicht „flüchtig“? Dann hätte sich das Gedicht gleichsam selbst negiert. Alles wäre zucht-voll gewesen, aber wertlos, verglichen mit einem einzigen, zufälligen Traum, in dem allerdings, wie es in Träumen oft geschieht, das Zufällige einen allegorischen Sinn besitzt; oder zu besitzen scheint, denn wir verstehen ihn ja nur, wenn wir ihn nachträglich ,interpretieren‘. Also Zurecht-Hören. Aber was ist Sprechen, Dichten, Schreiben anderes?
Blitzschnell lässt Stolterfohts kombinatorische Ironie Ordnung in Chaos, Struktur in Phantasma, Nonsense in Anspielungsraffinesse, Schreiben in Geschriebenwerden umschlagen. Darin steckt etwas von schwarzer Romantik: Aller Stoff zählt nur noch, insofern er der kombinatorischen Ironie gute Dienste leistet. Diktatorisch herrscht der Kombinationshumor übers Material – und ist damit, frei nach den Gesetzen der Dialektik, dem Material ausgeliefert. Das dichtende Subjekt macht sich unsichtbar hinter einem fortlaufenden Kornbinations-, Fragmentierungs-, Entstellungsverfahren, das frei über alle einströmenden Materialien verfügt und doch Zwängen unterliegt: dem Zwang zum Humor, dem Zwang zum Satz, dem Zwang zur Linearitätsvermeidung. Fortlaufend müssen Netzwerke des präpositionalen, welterklärenden Sinnes reflexhaft provoziert werden; ebenso reflexhaft werden alle Sinnstrukturen, als wäre Sinn-Konsistenz per se verdächtig, im Entstehen parodiert, karikiert, entlarvt, eingerissen und alle aufschießenden Idiomfelder wie zwanghaft ausgewischt und übertönt. Das Lesarten-Gedicht ist ein funkelndes, zwischen Chaotik und versteckter Sinn-Algebra ambivalent changierendes Produkt des Witzes, das artistische Raffinesse der Frequenzüberlagerung aufbietet, um zu beweisen: Es ist nichts, denn alles steht mit allem in Beziehung und daher nichts mit irgend etwas. Es ist nichts, daher muss der Witz einer seinsfreien Kombinationsakrobatik unentwegt dagegen anrennen und sowohl den Sinn wie den Unsinn destruieren. Es ist nichts, weil das sublimste Produkt der Sinn-Kalkulation am Ende nur demonstriert, dass wir konstitutionell nicht anders können, als fortlaufend Sinn zu produzieren, nach Erklärung zu lechzen, der Welt sinnhafte Strukturen unterzujubeln, obwohl es keine verlässliche, stabile Sinnvernetzung gibt, keine Frequenz mehr störungsfrei ist, weil jeder Diskurs immer nur Material für andere Diskurse ist, das Übernächste dem Nächsten den Auftritt vermasselt – außerhalb des Gedichtes. Im Gedicht selbst nämlich wird alles, Cut und Ulk, philosophisches Theorem und Kinderlallen, zum Organon der „Correspondance“. Und so wäre dieser kühne Entwurf einer absoluten Poesie aus dem idiomatischen Material ein Triumph der kombinatorischen Ironie und ein epistemischer Nihilismus zugleich. Eine schwarze Romantik, schrankenlos im ironischen Materialverfügen, atemlos im Sinnschöpfen wie im Sinnvertilgen.
Womöglich ist er gerade darum ein poetischer Phänotyp unserer Zeit.

Sebastian Kiefer, neue deutsche literatur, Heft 549, Mai/Juni 2003

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