Sebastian Kiefer: Zu Wulf Kirstens Gedicht „Kurfürstendamm“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wulf Kirstens Gedicht „Kurfürstendamm“ aus dem Band Wulf Kirsten: Wettersturz. Gedichte 1993–1998. –

 

 

 

 

WULF KIRSTEN

Kurfürstendamm

Eisenzahnstraße, abgewinkelten arms.
emaille. ginkgobäumchen in reih und glied.
astlos. vorübergehend an pfähle gebunden.
laufen neben den passanten her. so tun,
als ob. und wie sie marschieren.
pomologie, preußisch gedrillt. flexibel
gekrümmt bogenlaternen, eisenkunstguß.
nostalgisch verschnörkelt.
die geschmacksbildende idee alternierend
und eine idee zu absichtlich
zwischen die baumschulflüchter gesetzt.
abgeplatzte platanenrinde: heißt das,
ich soll entziffern, was die urbanisierte
natur mir achtlos vor die füße wirft?
eingemummt in ein giftgrünes brillengestell
die bankbesetzerin und ihr ausgesperrtes
eigentum. hinter einem wall sparriger
bündel das sperrgut mitten auf der avenue.
die einzige und ihr eigentum. Anschauungs-
modell. sorgsam verschnürt und gehütet.
die geheimnisse des lebens. fremdbestimmt.
die krümel teilt sie mit den tauben, fittich,
fußkrank und stahlblau. ein ausgewildertes
team. gut eingespielt. auf einem endlosband
gestreckt fassadenfrohes grafitti-esperanto.
der mauerabtrag von spechten handlich
geklopft, oder waren die unheiligen brocken
bloß auf feindwall getrimmt? verhökert
an einer straßenecke in Berlin.

 

Wulf Kirsten und die Urbanität

„wegrandworte“, „wetterwinkel“, „streugut“ – vertraut sprechen solche Titel in Wulf Kirstens Gedichtsammlung Wettersturz. Doch dazwischen wie ein Fremdling: „Kurfürstendamm“. Man staunt und stockt: Wulf Kirsten, der Dichter des erdgesättigten Wortes aus der sächsischen Provinz, in der Metropole, am Kurfürstendamm, dem Inbegriff von Warenzauber, urbaner Naturverbannung und nivellierender Reizflut? Denn auch jetzt noch, ein Dritteljahrhundert nach seiner Mitarbeit am Wörterbuch der obersächsischen Mundarten, ist er ein Rutengänger auf der Suche nach den verschwundenen Vokabeln seiner angestammten bäuerlichen Welt, in deren gedrungener Klangleiblichkeit – „tilken“, „feuchter grindel“, „kumtstock“, „krell“, „runse“, „brackwolle“, „schwalch und schlurf“, „schmielig“ – etwas von der Knorrigkeit des vormodernen Landlebens aufbewahrt scheint.

Kirstens Lebenspfad wuchs verschnörkelt und zögerlich wie die Stolperfeldwege daheim im elbischen Kindheitsnest. Das Alphabet blieb dem Linkshänder lange Zeit so fremd wie Hieroglyphen; sein Platz war, als sei es vorbestimmt, der des Hinkefußes in jeder Kolonne, Formation und Organisation. Und so hinkte er auch, des Marschierens unfähig, in der Nachhut des örtlichen Pimpfenzuges hinterher. Dafür lernte er allerdings umso genauer das Alphabet der Renitenz, das ohnehin dem störrischen Klipphäuser Menschenschlag näher gelegen haben muss: die Wonne der Langsamkeit, des geschichtlichen Beiseitestehens, des Nachzüglertums.
Klipphausen, das war ein verlorenes Häuflein von sechzig Häusern auf den Elbhöhen zwischen Dresden und Meißen, in denen Bauern, Handwerker und Häusler ein mürrisches patriarchalisches Dasein fristeten. Eine „auf Deputat und Felddiebstahl gegründete Welt“ schien Wulf Kirsten, Sohn eines Steinmetzen, der auch als Häusler ging und Vieh hielt, bis ins fünfzehnte Lebensjahr hinein die einzig mögliche aller Welten zu sein. Von ein paar Augenblicken im Juli 1945 abgesehen – er begleitete den Vater, der sich der neuen Administration in der Kreisstadt als Dorfpolizist zur Verfügung stellte –, kam Kirsten erst als Vierzehnjähriger über den Dunstkreis des Nestes hinaus: Auf sägespangefüllten Gartenschlauchpartien, den selbstgebastelten Hartgummifahrradreifen rollte er für zwei Jahre durch die südelbischen Hügel in die Oberschule zu Meißen. Aber wohin er dann auch immer ging, die Langsamkeit blieb sein Existenzmaß: „Die Ochsenfuhrwerke bestimmten das Zeitmaß bis in die Kriegsjahre hinein“ (Dankrede für den Peter-Huchel-Preis 1987).
Das Lesefieber machte den Knaben Kirsten früh zum Randgänger einer randständigen Welt: „Bücherleser wurden von der argusäugigen, intoleranten Dorfbevölkerung quer durch alle Generationen als Müßiggänger, Faulpelze und Schwartenheinis abqualifiziert“, so steht es im autobiographischen Bericht über eine „Dorfkindheit“ („Die Prinzessin im Krautgarten“). Das Lesen öffnete ihm auch das Buch der Natur; das abgegriffene Schullesebuch der Eltern brachte ihm die Vogelwelt ringsum nahe, machte den Mühlbach zu Klipphausen erst zum Bach, das, was vor der Haustür lag, zur Welt in der Welt: „Das Lesebuch war das Leben, und umgekehrt wurde auch ein Schuh draus.“ Und so tönt es ein halbes Jahrhundert später, artistisch geklärt, noch immer fort:

lies vor aus dem buche der wildnis,
im ohr noch den summton des sommers,
von hummeln intoniert, jedwede jahreszeit
tischte gerüche auf, quendelpolster am
feldrain voller erinnerungsduft, lerchenlust
abgesungen, selbst die wörter sang- und
klanglos ausgewandert aus den dingen,
die sie von alters zu benennen gewußt…

Der uralte (ursprünglich kabbalistische), in der Romantik so fruchtbar gewordene Topos vom Verlust der Identität von Wort und Ding ist noch der seine. Die odische Intonationshöhe der Verse, die damit traditionell einhergehende koloristische Pracht, die kaskadenartig über viele Zeilen hinunter enjambierende Prosodie – das alles ist ein Programm für sich. Die fortdauernde Möglichkeit des Singens leitet Kirsten aus der Natur selbst ab, die für ihn, den bekennenden Ökologen, heute allenfalls noch „Reservat“ sein kann, „retardierendes Moment im System einer galoppierenden Selbstzerstörung“. Das Natur-Alphabet – „vom licht befohlene / schönschreibstunden“ – ist noch immer das von Huchel und Bobrowski, seinen großen Lehrmeistern. „im ohr noch den summton des sommers, / von hummeln intoniert“: Kindheitslandschaft in assonanzreichen Wort-Tönen fortleben lassen, das war bei Bobrowski zu lernen. An solchen Versen:

Noch um die Häuser
der Wälder trockener Duft,
Rauschbeere und Erdmoos. Und die Wolke Abend,
sinkend um Witebsk, aus eigener
Finsternis tönend.

Auf „lauter gleichnisreden / im ohr, windverweht und fiederspaltig / die alten sprüche, vom zaun gebrochen“ stößt Kirsten. „Einst fliege ich auf / mit der Laubvögel Sprüche im späten / Jahr“, sang Bobrowski, der Dichter des Wachtelschlags, des Sommer- und Winter-„Geschreis“ von Kiebitz und Krähe, der „Landschaft mit Vögeln“. Die Ode, ihr innerer Bewegungsdrang, war der Schlüssel für Bobrowski, um sein dichterisches Lebensproblem zu lösen – eine die Beschreibung überschreitende Darstellung der Landschaft seines Herkommens.
Dieser zielgerichtete Bewegungszug der Ode ist bei Kirsten, dem Spätgeborenen, einer Retardation gewichen, einer Tendenz zum Nebeneinander der Worte und also zur Verräumlichung. Der Hang zum Verweilen dominiert, die Lust am Verharren im Anschauungsdetail und der Physiognomie des einzelnen Wortes: die sublimierte Transformation der Langsamkeit, die zur Komposition gewordene Lebenslehre vom Glück des Nachzüglers, der zum Sammler an den „Wegrändern“ der Geschichte und Geographie wird, „verlorene sätze“ aufliest, im „wetterwinkel“ horcht. Und der, nicht zuletzt, in einer imaginären Gemeinschaft mit anderen Randgängern lebt, mit dem Calwer „Doochenischd“ Hermann Hesse oder dem knorrigen „Bauern-Querner“, überhaupt den trotzigen Verlierern, den Verratenen und aus dem kollektiven Gedächtnis Verbannten. Man mag Kirsten einen Romantiker des Randständigen nennen, der gleichermaßen mit den outlaws unter Menschen und Worten fühlt. Ein ganz und gar unverschwärmter Romantiker, mehr Sammler als Orpheus. Der einst „erlebte und gelebte Wortschatz“ trage ihn „wie das Wasser den Schwimmer“, sagt Kirsten. Das ist keine Aufforderung zur Erlebnispoesie. im Gegenteil: Es ist Treue zur eigenen Urerfahrung, das Alphabet der Natur sei nur im und durch den Geist des gedruckten Buchstabens lebendig, und umgekehrt sei der Buchstabe nur dann er selbst, wenn er im Gedicht wieder als verwandelte Natur erscheinen kann.
„lies vor…“: Die Klangtechnik dieser Zeilen mit ihrem Streben nach massierter Assonanz wäre Bobrowski eher fremd. Hier klingt in Kirstens Apologie des Gesanges in Form eines Gesanges der frühe Huchel durch, an dem sich Bobrowski seinerseits geschult hatte, dann aber im odischen Bewegungszug, den die entdynamisierenden Assonanzen hemmen würden, sein Eigenes fand. „Kindheit, o blühende Zauch, ( wo wir im nußweißen Tag, / klein im Holunderrauch / waren den Hummeln nach“ – so beginnt ein früher (brüchiger) Versuch Huchels, romantisches Klangspiel mit dem hohen Anrufungston älterer Traditionen zu versöhnen („Kindheit in Alt-Langerwisch“). „Und schlief im mittagsblauen Kraut, / das zitterte von Hummeln laut,  / von Lerchen überschrillt“, lauten weniger bekannte Huchelsche Vorkriegszeilen („Am Beifußhang“). In Huchels Dichtung der frühen dreißiger Jahre finden sich viele Zeilen, die Kirstens Versuch vorwegnehmen, das Naturtönen in einer Monochromie der Vokale zu beschwören: „Oktober flog schon oben fort“, „Der schwarze Regen schwatzt und lallt“ etc.
Die Hör- und Seh-Schule Huchels und Bobrowskis verleugnet Kirsten bis heute nicht. Sein Entwurf einer Landschaft (1968) im Geist dieser Schule ist, mag Kirsten auch mittlerweile über weit mehr satirische, anekdotische und erzählende Nebentöne verfügen als damals, im Kern noch immer sein poetologisches Fundament. Das dort zitierte Wort von der auf „sinnlich vollkommene Rede abzielenden Gegenständlichkeit“ ist zuallererst ein Bekenntnis zum Vorbild Bobrowski. Der hatte sich seinerzeit Herders Definition aus den „Kritischen Wäldern“ von 1769 zur Programmformel gemacht. Levins Mühle traf Kirsten in den sechziger Jahren inmitten einer Krise des Dichtens und brachte ihn als Künstler zu sich selbst – zu den Gedichten „die erde bei meißen“ und „sieben sätze über meine dörfer“. Wie Bobrowski könnte Kirsten sagen, das Sehen des Menschen in seiner bäuerlichen Landschaft, das habe er von Peter Huchel gelernt. Und sehr ähnlich wie Bobrowski und Huchel kann Kirsten sagen, dass zwar „das Geographische nur als Modellfall gedacht ist, [doch] bot sich gerade jene bäurische Landschaft, aus der ich komme und die ich kenne, als Hintergrund für das Weltbild an. Von diesem ,überschaubaren‘ Segment ,Welt‘ fand ich Zugang zu meiner Zeit. Weil ich ein Teil dieser Zeit und Wirklichkeit geworden war, konnte sie zur eigenen Sache werden.“ Dass, wie der „Entwurf“ sagt, der „Werktag einer lokalisierten Agrarlandschaft, die für beliebig andere stehen mag, [zu] poetisieren (nicht romantisieren!)“ sei, und zwar mittels einer „aufgerauhten, ,körnigen‘ Sprache, die ich dem Thema angemessen finde“, zitiert wörtlich Bobrowski – aber dessen Stichworte zu einer Charakteristik Huchels. Wie Huchel (und seltener Bobrowski) lässt Kirsten „Wortgut aus dem bäurischen Lebensbereich ein, das nur soweit regional eingefärbt ist, als es sich mühelose in die Hochsprache nehmen läßt“. Wie der Prosaist Bobrowski liebt Kirsten bodenständige, oft lokal eingefärbte Redewendungen – nur lässt Kirsten das klingende, gestische Material selbst viel stärker strukturtragend werden als sein Lehrmeister. Wenn Kirsten bekennt: „Gerade aus dieser – vom Saft des Populären genährten – Zwischenschicht profitiert die Sprache. Sie gibt der sprachlichen Gestalt das Kolorit“, so ist auch das der Nachhall eines Credos Peter Huchels aus den fünfziger Jahren: „Nicht neue Vokabeln erfinden – die vorhandene Sprache reicht für jede Vision aus“, denn das, „was das Volk in der Sprache zutage fördert – und was der Dichter in seiner Sprache sichtbar machen sollte –, ist alles andere als flach und glatt. Das Volk fischt nicht träge im Teich der abgestandenen Sprache! Warum sollten wir es tun?“
Wer aus solcher Schule kommt, in der moderne Urbanität – von der Straßenbeleuchtung bis zum Kinotheater, vom Verkehr bis zur Reklametafel – Anathema, Redundanz oder Störgeräusch ist, wie kann der seinen Ton, sein dichterisches Selbst bewahren im kalten Gelände der industriellen Metropole, in der Worte nicht mehr an Tradition und Natur gebunden, keine Speicher von Geschichte und „optischer Erfahrung“ mehr sind, sondern austauschbare Informationsmittel?

einfach so vor sich
reden die leute
auf ihren wegen
durch die stadt
in allen lautstärken.
silbenverschlucker, wortverschleifer,
satzverstümmler im straßengetümmel…

Kirsten kapituliert nicht vor der zerschundenen großstädtischen Zwecksprache. Er verfällt nicht in ,kulturkritische‘ Gesinnungsrede. Er demonstriert die überlegene Modulationskraft der Dichtungssprache, und zwar in dem Augenblick, da sie von der Modulationsverweigerung der alltäglichen Informationssprache spricht. Kirsten zeigt, dass es der Dichtung ein Leichtes ist, das austauschbare Gerede auf einem verkehrumtosten Trottoir idiomatisch zu reproduzieren. Das dichterische Tonspektrum verfügt über das komma- und akzentlose Berichtidiom, doch nur als Mimikry oder Karikatur. Der Mimikry ans entzauberte Reden, das dahinkollert über die Zeilenende, stellt Kirsten in hartem Schnitt eine Textur gegenüber, die in beinahe barockem Geist die Morphologie der Worte nicht vom „reden“ trennt. Das achtlose Kollern durch die Zeilen wird brüsk unterbunden durch das statische Nebeneinander „silbenverschlucker, wortverschleifer, / satzverstümmler im straßengetümmel“. Die Behandlung der Wortmaterie in diesen beiden Zeilen macht exemplarisch vor, was verloren ging; es ist kein bloßes Sagen, sondern das sprechende Behüten der Wortleiblichkeit. So sehr diese wie in einer Vitrine ausgestellten Einzelworte Gebrauchsinstrumente sind, so gehen sie doch nicht auf in ihrer Funktion, sie sind gestalthafte Solitäre, die man nicht verlustfrei durch andere „äquivalente“ Worte ersetzen kann. Ihre Morphologie spricht mit, und morphologisches Lesen bedarf einer anderen Zeit als das Informationsaufnehmen.
Auch hier also Langsamkeit, individuelle Morphologie statt Sinn-Transmitter. Und wieder: Poesiegewinn aus dem Geist des Nebenstehers, Nachzüglers und Sammlers. Hier, in der Stadt, gibt es nichts zu sammeln, weil das gestern noch akute Wort heute nicht mehr existent ist und Sprach-Vergessenheit selbst syndromartig geworden ist. Kirsten kann seiner Poetik des morphologischen Bewahrens im urbanen Feld jedoch treu bleiben, indem er vorführt, wie das urbane Wort-Vergessen seinem Grundidiom der verlangsamenden Wort-Archivierung kompositionell eingliedert werden kann. Er macht, anders gesagt, das urbane „reden“ zum fremden, aber doch integralen Moment einer „Textur“:

Sprache bildet in ihrer Gesamtheit einen lebendigen baumartigen Korpus, an dem immer etwas abstirbt, absterben muß, damit etwas Neues nachwachsen kann.

Zeilen wie die obigen wären danach gleichsam der Versuch, dem sprachvergessenen Gerede auf den Einkaufsmeilen einen Stamm zu verleihen: Auf dass man erfahre, dass es ein dürrer Seitentrieb ist. So kann das Unscheinbare und Ausgegrenzte weiterhin das Reservat des Dichters bleiben. Das Unscheinbarste ist das Sprechen selbst. Es steht uns, den Städtern, zu nah. Kirsten hält es an und zeigt, wie langsam und behütend das, wie man vielleicht sagen könnte, „andere Sprechen“ wäre.
Kirsten bewahrt seinen Ton, indem er, die gewohnten Wort- und Bildquellen entbehrend, seine dichterische Technik bewahrt und sogar anreichert, weil er das Spannungsgefälle seiner langsamen Morphologien zur ungewohnten Realitätsebene reflektiert, indem er die Stadtworte wieder zum Sprechen bringt. Diese Technik zu verstehen heißt verstehen, was ihn von seinen Lehrmeistern Huchel und Bobrowski trennt. Bobrowski und noch ausschließlicher Huchel gingen vom melodisch binnenstrukturierten Vers- oder Strophenganzen und von der in sich unteilbaren Metapher aus. Kirstens Elementarbaustein dagegen ist das einzelne Wort. „Wortbewußtsein als Lebensbewußtsein“ nennt es Kirsten in der Huchel-Dankesrede. Der Grundriss des typischen Kirsten-Gedichtes ist die nebenordnende Reihung von Einzelwörtern, bei denen Fugen, Leer- und Nahtstellen nicht verdeckt werden, sondern als architektonisches Gliederungsmittel erhalten bleiben: „Wie das Gedicht auf Grundworten beruht, so wird es auch von der Lexik her aufgebaut. Im Wort selber liegt der Anfang der Poesie…“. Das Einzelwort wird nicht einer höheren Ordnungsstufe, dem Bewegungszug oder dem in sich unteilbaren Sprachbild, eingeschmolzen. Umgekehrt: Vers und Strophe sind das archivierende Gehäuse für Kollektionen von Solitären, die ihre phonetische, graphische, melodische und semantische Eigenart durch Absonderung, Kontrast und Interaktion mit der Wort-Umgebung entfalten – so in etwa, wie eine Feldsteinmauer nur schön ist, wenn die knorrigen Formen des einzelnen Findlings nicht abgeschliffen werden, sondern im Ensemble alle Lücken, Spitzen, Vorsprünge und Riffelungen erhalten bleiben. In diesem Sinn tendieren Kirstens Verse zur Assemblage von Wort-Findlingen: „eben noch glockengeläut. Windverwehtes / abgetrieben über leergeräumte felder / auf die steinkuppen, dornverwucherte / lesesteinhaufen“, heißt es, spielend mit den Bedeutungsvalenzen des Wortes „lesen“ – auslesen, aufsammeln, entziffern, buchstabieren.
Verben, das Bindemittel des Satzes, unterdrückt Kirstens Vers gern, er schattet sie ab, um das Einzelwort nicht in Wortgruppen zu übergeordneten Aussageeinheiten einzuschmelzen, und Punkte fehlen häufig aus demselben Grund. Markieren wie in „kurfürstendamm“ Punkte die Grenze von verblosen oder sonstwie unvollständigen Sätzen, verstärken sie noch die Abgrenzung und Abbremsung von Wortsegmenten gegenüber dem syntaktischen Fluss. Und es fehlt die Groß- und Kleinschreibung, jene graphische Konvention, die die Worte in syntaktische Hierarchien zwängt – Kirstens Gedicht aber verleiht auch den kleinsten und unscheinbarsten Wortindividuen eine gleichermaßen unersetzliche Funktion in der fragilen Statik des Gedichtbaus. Es können wie von der Natur jahrhundertelang geschliffene Kiesel sein, Brocken des neuesten Zivilisationsmülls, Artefakte von erlesener künstlerischer Tradition oder auch Banales, dessen körperlicher oder gestischer Reiz im Alltag untergegangen ist und nun, behutsam im poetischen Glaskasten arrangiert, wieder hervortritt.
In einem typischen Kirsten-Gedicht stehen die Wörter meist da wie Dinge, die von irgendwoher an genau diese Stelle gesetzt worden sind, auf dass nun die Arbeit des Sichtens, das Abtasten mit den Stimmorganen, die vergleichende Wortmorphologie Stück für Stück beginnen kann. Wie in jedem Archiv ist alles (oder fast alles) mit den Fundstücken schon geschehen – daher die vielen perfektivischen Wendungen. Die Wortdinge haben ihre Geschichte hinter sich. Und wenn einmal im Präsens gehandelt wird in Kirstens Versen, dann ist es oft ein uneigentliches Tun, ein merkwürdiges Bewegtsein, das gleich wieder erstickt wird von den rundherum archivierten Nachbardingen.

[…] ausgewitterte
erdalter auf wetterwendischem gereut,
überrandet, ausgestreut büsche, sträucher,
wald fliegt an, windbeflügelt, und holt
zurück zu sich, was er eingebüßt, feldmannstreu
im dörnicht, gleichsam spelzen, grannenhaare,
donnerbesen, sei’s gewesen, hexenstränge
[…]

Im Gedicht „Kurfürstendamm“ wird vergleichsweise viel gehandelt, jedoch: Diese Handlungen sind ironische Kontrafakturen zur leeren Umtriebigkeit der ,pulsierenden Großsstadt‘. Zunächst handeln, eine dezente Eingangspointe, überraschenderweise die Bäumchen am Straßenrand, sie „marschieren“ – es ist jedoch ein Tun „als ob“. Auch das poetische Ich handelt, es befragt sich selbst, und, im zweiten Teil, streut eine eigenartige „bankbesetzerin“ Brosamen unter die Tauben. Alle drei Handlungen hängen eng zusammen, in gewissem Sinne sind sie sogar der Schlüssel zum Gedicht.
Am Anfang steht Kirstens Reihungstechnik – jenes Stakkato, das nicht Unmöglichkeit des Gesangs meint und auch nicht, wie bei Bobrowskis äußerlich nicht unähnlichen Gedichtanfängen, Anstoß für den Bewegungszug und Anruf des Fernen, Vorweltlichen und Vorindividuellen. Beabsichtigt ist im Gegenteil Entschleunigung, um nicht von vornherein das Einzelwort einzuschleifen in den unbewussten Rhythmus der Tatsachen.

Mit jedem Grundwort ist ein Erlebnisinhalt verbunden: etwas Alltägliches ist zum Erlebnis geworden, weil es in vielfachen Variationen gesehen wurde. Diese optische Erfahrung muss ins Wort eingelebt sein und beim Schreiben noch einmal eingelebt werden. Das Grundwort ist ein lexikalischer umzusetzender Erfahrungswert, der etwas über das Verhältnis zu den Dingen sagt, die den Menschen umgeben.

Wo aber wären „Grundworte“ am Kurfürstendamm? Wenn überhaupt, so kann das Gedicht ihnen wieder Körperhaftigkeit und individuelle Physiognomie verleihen, um mit der Morphologie wieder Geschichtlichkeit hervorzutreiben.
Wenn für den modernen Flaneur in den Schaufenstermeilen gilt: „einfach so vor sich hin / reden die leute“, kann der Dichter nicht mehr mit den Widerborstigkeiten der verwendeten Worte operieren. Worte sind restlos konvertierbar geworden, „Grundworte“ effektivitätshemmende Anachronismen. Das Gedicht muss sich in einer solchen Zone mit den Endmoränen einer zugerichteten Sprache begnügen – in belanglos scheinenden Eigennamen etwa, deren innere Geschichte und Eigenart die Stadtbewohner vergessen haben. Wortleib degeneriert zum Akteneintrag. Nur marginal kann Kirsten hier, in der Metropole, noch auf Sprichwort und Redewendung bauen. In „Kurfürstendamm“ gibt es gerade noch das lapidare „in reih und glied“ und „so tun, als ob“. Wenn also die Worte anonymisiert und physiognomisch austauschbar sind, ihre Oberfläche nicht mehr beredt ist, muss der Dichter in den Funktions-Wörtern selbst nach Sedimenten suchen, er muss die Geschichte der Wort-Abnutzung exemplifizieren. „Eisenzahnstraße“ ist gleich ein Musterbeispiel, wie das Verdrängte wieder sichtbar und hörbar gemacht werden kann: Die Straße diesen Namens mündet in den Kurfürstendamm. Kirsten hört auf den eigentümlich sprechenden Namen, der für die meisten Leser wie eine Mutation von „Eisenbahnstraße” (die es in jeder Stadt gibt) daherkommt. Wer nicht firm ist in der Charlottenburger Geographie, wird annehmen, Kirsten hätte das Eingangswort in lettristischem Spiel gefunden: Der Permutation des „b“ zum „z“ antwortet nämlich die Mutation des „n“ zu „b“ in „abgewinkelten arms“ (der Duden kennt nur „angewinkelt“). Die Eingangszeile ist ein kleines Fanal dessen, was im Gedicht geschehen wird: die Verkehrung und Neuordnung der Dinge durch die poetische Kombinationstechnik, die an, in und mit den Dingen weitere Sinnschichten aufdeckt. Es ist ein Ausloten der Möglichkeiten, wie die prosaischen Gegebenheiten der Stadtlandschaft ihrer Eindeutigkeit und Endgültigkeit beraubt werden, in der Neuordnung von Wort und Wahrnehmung verschüttete Assoziationen freigeben können. „Eisenzahnstraße“ ist ein sprechender Name, ein Scherz und dennoch ernst, denn das Spalier gusseiserner Bogenlaternen auf dem Trottoir rückt ja kurz darauf in den Blick. „Eisenzahnstraße”, erkennt der Leser dann, ist eine der Metaphern, mit denen sich die mechanisch strenge Parade der gegossenen Stadtinventarien entmechanisieren lässt, ohne sie „poetisch“ zu verklären.
„Eisen“ und „Zahn“, das Unbelebte und das Belebte (zumindest dem Belebten Zugehörige), sind im Eingangswort zusammengezwungen. „abgewinkelten arms“ wiederholt das metaphorische – und zugleich phonetische – Spiel mit dem Gegensatz auf neue Weise. Und es lässt zum ersten Mal die in den Folgezeilen hervortretenden Assoziationen mit militärischen Formationen anklingen: Den Arm „abwinkeln“, falls es das Wort gäbe, also ungebeugt vom Rumpf wegstrecken, kann ein Verkehrspolizist, ein Turner oder eine Balletteuse, oder eben auch ein grüßender Militär. Das auf den unbelebten Gegenstand – das Straßenschild – angewandte Wort „Arm“ ist, wie „Eisenzahn“, eine uneigentliche und zugleich eine wörtliche Bezeichnung: Vom „Arm“ einer Lampe spricht man auch im Alltag. Das Spiel mit den Wortkörpern wird zur Schule eines phantasievollen „seeing-as“ (wie angelsächsische Philosophen sagen würden). Das meint gerade nicht das Wortspiel um seiner selbst willen oder bloße synthetische Zeugung, sondern vielmehr: Der wortspielerische Akt, obwohl er sich als artistisches Spiel zu erkennen gibt, treibt letzten Endes Worte und Bilder aus den metaphorischen und klanglichen Potentialen der Gebrauchswörter selbst hervor.
„emaille“ spinnt das a-e-i-Klangmuster der ersten Zeile assoziativ weiter: Die dichterische Konstruktion beginnt, das konkrete Ding zu überdecken: Das physische Denotat des Wortes, das emaillierte Straßenschild, ist von der Lautmorphologie gleichsam aufgesogen; die Realie wird zum Epiphänomen der Komposition. Die Worte sind etwas anderes als eine schmückende Abbildung der Dinge. „ginkgobäumchen“ bezeichnet dagegen als erstes Wort des Gedichtes ein abgegrenztes Einzelding nur wörtlich, die „bäumchen“ treten wie die Bebuschung an der Straße selbst wie ein Fleckchen Realität in es hinein. Aber schon mit dem Ausdruck „in reih und glied“ vagiert das Gedicht zwischen Wörtlichkeit und Bildlichkeit: Der ursprünglich militärischen Gewohnheiten entstammende Sinn wird längst auch übertragen verwendet. Dieser Sowohl-als-auch-Gebrauch macht ihn der „Eisenzahnstraße“ verwandt – zumal auch die Zähne einer Säge „in reih und glied“ stehen –, die Assoziation mit militärischen Gepflogenheiten andererseits dem „abgewinkelten arm“. Wer sich nicht nur in der Berliner Geographie, sondern zudem in der brandenburgischen Geschichte auskennt, hört diese militärische oder obrigkeitsstaatliche Konnotation schon im Eingangswort „Eisenzahnstraße“ voraus: Sie ist nämlich benannt nach dem Sohn Friedrichs I., dem Stammvater der brandenburgischen Hohenzollern, der als Friedrich II. 1440 die Kurfürstenwürde erlangte, die landesfürstliche Gewalt gegen Adel und Bürger stärkte, Berlin und Cölln die Selbständigkeit raubte, den Aufstand der Berliner Bürger kompromisslos niedermachen ließ und mit dem Bau einer Burg Berlin (und das damals noch davon getrennte Cölln) zur Residenzstadt machte, die es dann für Jahrhunderte blieb. Also eine echte urbane Gründerfigur mit eisernen Hand. Der Dichter fügt, was den Städtebewohnern verloren gegangen ist, wieder zusammen – die Einheit von Geschichte und Wortmaterie.
„astlos“ – die syntaktische Isolation dieses Wortes imitiert das Einzelstehen des Wortes „emaille“ in der Vorzeile und führt also eine neue Variante der kompositionellen Verknüpfung der Dinge vor, wieder eine scheinbar rein dichtungsinterne, die auf den zweiten Blick aber in die Dingwelt zurückwirkt. Ergab sich „emaille“ aus der phonetischen Assoziation mit Zeile 1, so setzt „astlos“ den ersten Vers bildhaft fort: Das Pendant zu den „Armen“ der Laternen wären natürlich die Äste der Bäumchen. Nur sind die – dem geometrischen Geist Preußens entsprechend – kahlgeschlagen. Der motivischen Verknüpfung mit der Eingangszeile wegen ist man wohl versucht, im Wort „astlos“ das Wort „armlos“ durchzuhören und so zu einer zweiten Stufe der Vermenschlichung der Dinge zu gelangen – die Pflänzchen, eigentlich verwurzelt, „laufen neben den passanten her“. Das Bild der laufenden Bäume knüpft nicht mehr wie bisher in semantischem und phonetischem Spiel an Vorhergehendes an. Die spielerisch dezent eingeführte Vorstellung der Quasi-Menschlichkeit der Bäume ist vielmehr eine Variante des „seeing-as“, das ein unausgesprochener Grundimpuls der dichterischen Feldforschung im urbanen Gelände ist. Dieses „seeing-as“ meint in Kirstens Welt nicht Erfindung, sondern Findung verdrängter Verhältnisse von Wort, Wortgestalt, bildlicher Latenz und geschichtlichem Sediment via wortwägender Einbildungskraft.
Dieses Verfahren ist im urbanen Raum notwendig, ist er doch die geschichtsvergessenene, „silbenverschleifende“, „Grundwort“-lose Welt: Anordnendes Archivieren alleine fände hier keinen Anhalt. Die weltzeugende und weltbehütende Kraft der Worte ist hier zu tief verschüttet. Zu Kirstens Selbstbehauptung in der Urbanität muss es also gehören, seine Poetik der Archivierung per Einbildungskraft zu übersteigen. Kirsten tut das, indem er im Gedicht demonstriert, weshalb dieses Übersteigen notwendig ist, wie innerdichterische Kompositionsvorgänge also neue Dingverhältnisse schaffen. Er demonstriert jedoch auch, dass sein Idiom so modulationsfähig ist, dass es dieser Demonstration fähig und gleichzeitig in der Lage ist, das poetische Prinzip des „seeing-as“ als abstrakten poetologischen Grundsatz zu reflektieren. Das Gedicht arbeitet nicht nur am verschlissenen Wort; es exerziert vor, weshalb diese findende Einbindungskraft im urbanen Gelände notwendig ist – nicht zuletzt, weil das in der Allerweltsfloskel „so tun, / als ob“ liegende Worterweckungspotential sonst unerkannt blieb.
Mehr und mehr wird sich das Gedicht nun um die Frage des Tun-als-ob herumbewegen, um die Möglichkeit des ästhetisch verändernden Sehens im urbanen Raum, mehr und mehr wird das Gedicht selbstreflexiv. Die Mikrostruktur des Gedichtes bringt Kirsten mit komplexen semantischen und phonetischen Verknüpfungen hervor; die Architektonik das Ganzen, seine Statik und Dramaturgie werden getragen von dieser Idee einer zunehmenden dichterischen Selbstreflexion – und sie mündet in eine Allegorie des Dichters. Das kleine, in Vers 7 zwischen „eisen“ und „guß“ geschobene Wort „kunst“ ist ein nächstes, unscheinbares, doch deutliches Signal des fortschreitenden Prozesses künstlerischer Selbstreflexion im Gedicht. Deren nächsthöhere Abstraktionsstufe ist „die geschmacksbildende idee“ (Vers 9) selbst, und der erste Gedichtteil kulminiert sehr konsequent in einer Selbstbefragung des Dichters:

abgeplatzte platanenrinde: heißt das,
ich soll nur entziffern, was die urbanisierte
natur mir achtlos vor die füße wirft?

Nein, hat das Vorangehende bereits gesagt: Gerade nicht um Reservatpflege geht es, sondern darum, die am Reservat geschulte „Lese“-Technik zur Erweckung der Stadt-Rede zu benutzen.
Die Modulationsfähigkeit der Kompositionstechnik – das ist Kirstens Art der Selbstbehauptung in der Urbanität, Die Frage nach der Entzifferbarkeit der geschundenen Natur bleibt antwortlos im Raum stehen, indirekt jedoch gibt das Gedicht eine Antwort, genau genommen sogar zwei. Der erste Teil ist selbst schon eine Antwort – er ist eine Demonstration vielfältigster Weisen, Urbanität zu lesen, im Wort aufzuheben, zu verkehren durch die Freisetzung dessen, was an lautlichen und semantischen Bindungspotentialen in den Worten schlummert und nur im Archivraum des Gedichtes sich entfalten kann. Dass die Figur der zweiten Gedichthälfte, also die vermummte, ausgegrenzte, ihren Haushalt mit sich schleifende (Frauen-)Gestalt insgeheim eine Allegorie des Dichters oder zumindest eine Schwesterfigur ist, geht nicht nur aus dem mehrdeutigen Signalwort „anschauungs-/modell“ (Vers 19f) hervor. Diese Figur, übrigens einem lebendem Modell, einer stadtteilweit bekannten Erscheinung, nachgestaltet, hütet, indem sie ihre Sachen zusammenhält, „die geheimnisse des lebens“. Sie steht – wie der Dichter – mit den Vögeln auf vertrautem Fuß; sie ist – wie der Dichter – ein Fremdling in einer Stadt, von der nur die Insignien einer erschöpften Kultur ins Gesichtsfeld treten, in der alles zu Geld gemacht wird, auch die unersetzlichen Zeichen der Geschichte: Die Berliner Mauer ist aus dem Gedächtnis schon beinahe verschwunden, doch die materiellen Reste werden noch „verhökert / an einer Straßenecke in Berlin“.
Deutlich scheint im zweiten Teil des Gedichts Kirstens Beharren auf dem romantischen Topos vom Dichter als Taugenichts, Sonderling und Randgänger durch. Am unmittelbarsten hat er sie in den mit unserem Gedicht (1995) fast zeitgleich entstandenen Aufzeichnungen aus der Hermann-Hesse-Stadt Calw ausgesprochen: Auch in der schwäbischen Kleinstadt wird Kirsten vertrieben vom infernalischen Straßenlärm, erfährt melancholisch die bleibende Gültigkeit des Hesse’schen Worts von der „herzlichen Verehrung des Geldes“, fühlt sich dem seit Jugendtagen gehegten Dichteridol (und also dem dichterischen Dasein überhaupt) nahe, wenn er sich ohne Gesellschaft an die Brüstung der Nikolausbrücke lehnt – „in der stillen, sehr unbescheidenen Hoffnung, die Wasseramsel zu einem Gespräch zu bewegen“. „Als Brückensteher nehme ich es gern auf mich, ein Hesse-Epigone auf Zeit zu sein.“ Das aber heißt, einer jener „angeblich so Lebensuntüchtigen, Unpraktischen, dem Geschäftsgeist abgeneigten […] Außenseiter“ zu werden, die genaueres „Zeugnis abzulegen vermögen für ihre Lebenswelt und Zeit“ als jene, die aufgehen im urbanen Getriebe.
Mag es die Grundbefindlichkeit der Gemeinschaft mit den outlaws unter Menschen und Worten sein, die Kirsten das Gedicht mit der in sich versunkenen, monologisierenden Gestalt am Kurfürstendamm an den Anfang einer Gedichtgruppe mit dem Titel „Selbstgespräche“ setzen ließ – das mit der Welt zerfallene Geraune der halb irren, halb weisen Außenseitergestalt kehrt geläutert und höchst verfeinert im Gedicht wieder. Auch der Dichter ist ein Fremdling in der Welt, in der urbanen jedenfalls. Der Sonderling ist, wie für Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. Double, Doppelgänger, Vertrauter, Seelengenosse des Dichters. Doch die Architektur des Gedichtes als Ganzes übersteigt alle Bebilderung solcher recht geläufigen Attitüde. Die Überlegenheit der Komposition beweist über alle Gesinnungsfragen hinaus die Vorstellung von der sehenmachenden Querständigkeit des Dichters: Ein Aufspalten der Wortkerne und Freilegen der lautlichen, metaphorischen, historischen Einschlüsse und Potentiale der Worte steht am Beginn. Dann wird das Lebendige, Stufe um Stufe sich steigernd, halb spielerisch, halb ernst, vertauscht mit dem Leblosen; das Allzugerade (vgl. Vers 10) wird mit dem Unberechenbaren konterkariert, zur Idee von Ordnung überhaupt übergegangen – Ordnung der Stadtlandschaft hie, des Gedichtes dort. Es ist Kirstens Technik, Wortfindlinge motivisch mannigfaltig nebeneinander zu stellen, die den stillen Wortarbeiter aus der Provinz, wo man (manchmal) noch weiß um das Gewicht und die Geschichte der Worte, bestehen lässt im fremden Raum einer urbanen Moderne, wo man Geschichte vergisst und Natur zurichtet. Der Triumph ist, wie es anders bei Kirsten nicht sein kann, leise. Und er hat einen hohen Preis. Welchen, sagt Kirsten nur hinter vorgehaltener Hand, versteckt in der Allegorie des zweiten Teiles. Will der Dichter er selbst bleiben – auch Hesse, das Idol, war geprägt von der pietistischen Schule des „Sich-selbst-genug-Bleibens“, wie Kirsten in Calw notierte –, so muss er in personam außen vor stehen in der heutigen (Stadt-)Welt. Nur als Anwalt des Randständigen, Überrollten und Übertönten gegen den Spaß- und Geldvermehrungswahn behält er Tuchfühlung mit den ,Geheimnissen des Lebens‘.

neue deutsche literatur, Heft 556, Juni 2004

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