– Zu Johannes Kühns Gedicht „Die Zukunft“ aus dem Band Johannes Kühn: Mit den Raben am Tisch. –
JOHANNES KÜHN
Die Zukunft
Lad sie ein,
freundlich,
wenn du weißt, wo sie ist,
wenn du die Richtung kennst,
in welche du rufen mußt!
Wenn sie je kommt,
so frag die nebelumhüllte
und eisige Frau
vorsichtig und scheu,
berühr nicht den Schleier,
berühr nicht ihr Kleid.
Sie ohrfeigt dich,
verläßt dich
hohngrinsend.
Ich glaub,
ihr ist die Sprache verboten
wie den Fischen.
– Zu einem Gedicht Johannes Kühns über die Zukunft. –
Die Zukunft, das Herannahende und Bevorstehende, hat viele Gesichter. Und es hängt von der Zeitstimmung und geschichtlichen Lage ab, welches sie zeigt. Jedes Alter, jedes Temperament sieht sie anders. Doch Zukunft im eigentlichen Sinne, Zukunft als Advent, als sich ewig erneuernder Anfang, ist eine Jugendidee. Das Kind schert sich nicht darum, es lebt ganz im Glück der Gegenwart. Und das Alter? Es scheint den Zustand emanzipierter Resignation zu genießen: man weiß, was geht und was nicht. Ab einer gewissen Lebensstufe wird die Linie Wohin, wird die Linie Wozu illusionslos gezogen.
Johannes Kühn, geboren 1934, der Dichter der Ländlichkeit, der homo archaicus aus dem saarländischen Hasborn, ist alles andere als ein Futurist. Seine Welt ist das Hier und Jetzt: Mensch und Landschaft, der Kreislauf der Natur, die duldsamen Pflanzen, die untadeligen Tiere, der Wandel der Jahreszeiten, die Mühsal der Arbeit, das Leben der einfachen Leute.
Doch all das nützt einem nichts, wenn es um das Thema Zukunft geht. Zukunft hat keine sinnliche Präsenz, sie läßt sich weder anschauen noch erleben. Sie ist kein Feld der Erfahrung. Ihr Seinsstatus ist prekär. Ein unzugänglicher, philosophisch für niemand erreichbarer Ort. Auch die Klügsten können nichts über sie wissen. Man sollte meinen, schlechte Voraussetzungen für ein Gedicht. Und doch schreibt einer wie Johannes Kühn Verse über sie. Warum nur? Die Antwort ist einfach: Er wurde darum gebeten. Das Gedicht „Die Zukunft“ ist ein Auftragsgedicht. Kühn ist dafür bekannt, daß er gern Gedichte auf Zuruf schreibt. Er fordert ihn gelegentlich sogar heraus. Auf diese Weise gelangt er nämlich in eine Art Dialog und spricht nicht mehr nur für sich. Schon die Eingangszeilen können als spöttische Antwort an den Auftraggeber gelesen werden:
Lad sie ein,
freundlich,
wenn du weißt, wo sie ist,
wenn du die Richtung kennst,
in die du rufen mußt!
Das Gedicht klopft nicht an die Pforten der Zukunft, es weiß, sie werden sich nicht öffnen. Es gibt zu verstehen, daß der Autor nicht zu denen zählt, die sich viel von ihr versprechen. Die Zukunft ist für ihn nicht beredt. Ja, sie erscheint als eine zu keiner Auskunft bereite Instanz. Sollte man sich ihr überhaupt nähern? Das Gedicht mahnt zur Vorsicht. Jede Begegnung birgt Gefahr, weckt schlimmste Befürchtungen, so als befrage man das Orakel von Delphi.
Der Dichter Johannes Kühn, der hundertfach bewiesen hat, daß er die Chiffren der Natur überall entziffern kann, versucht erst gar nicht, die Linienschrift der Zukunft auf der Unterseite der Blätter oder aus der Hand zu lesen. Vielleicht ist es ihm unheimlich, etwas über die Zukunft zu erfahren. Es hat schon seinen Sinn, daß sie den Menschen verborgen ist. Wenn es nicht so wäre, würden wir auch unser Todesdatum kennen. Vielleicht ist es doch besser, daß alles im dunkeln bleibt, daß die Zukunft keine Sprache hat, daß sie stumm ist. Und nicht einmal vielsagend stumm, sondern nichtssagend stumm, wie die Fische.
So gesehen hat die Zukunft kein Geheimnis und auch keine Poesie. Man kommt nicht über Allegorien hinaus. Im Grunde hat sie Gedichte gar nicht verdient. Sie braucht Gebete.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.9.2007
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