Serge Charchoune: Reglose Meute

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Serge Charchoune: Reglose Meute

Charchoune-Reglose Meute

REGLOSE MEUTE
Ein Volkslied in 9 Rounds

Gesungen von einem 25stimmigen Chor
Dirigiert von M. Leopardi

 

Round 1

1.   Stimme   Ich will sie sehn

2.         ”         Und wozu denn

3.         ”         Wir sind umstellt

4.         ”         Die Ausstellung ist eröffnet

5.         ”         Und noch immer kann man sie nicht sehn

6.         ”         Aber es ist in London

7.         ”         Verarscht mich nicht

8.         ”         Bereits geht Round 9 zu Ende

9.         ”         Die Raketen sind weiss

10.       ”         Trauerzeit

11.        ”         Gratisverteilung

12.       ”         Und ich war schon tot, als ich’s begonnen habe

13.       ”         Dichterisches Aufputschmittel

14.       ”         Meine sanfte Nachtigall ist die Porzellanflickerin

15.       ”         Ich ziehe den Gekrösehändler vor

16.       ”         Das ist spannender

17.       ”         Manchmal sind die Einschläge ins Herz tödlich

18.       ”         Das rasche Ende

19.       ”         Ich werde die Flaggen setzen

20.       ”         Ach, bin zufrieden

21.       ”         Mit euch ist die Gewissheit grösser

22.       ”         Sein Herz läuft mit Gas

23.       ”         Zu gleicher Zeit gab es Einschläge ins Herz von Christ
aaaaaaaaaaaaaaaaNational und von Christ Dadaist

24.       ”         Letzterer in einem ceylonesischen Stadion

25.       ”         Im Clinch mit einer entflammten Languste

 

 

 

Vorwort

Der russisch-französische Bildkünstler und Literat Serge Charchoune (eigentlich: Sergej Scharschun, 1888–1975) ist mit seinem Werk in namhaften Museen Europas und Russlands vertreten, und noch heute, Jahrzehnte nach seinem Tod, werden ihm effektvolle Retrospektiven und Gedenkausstellungen gewidmet. Dennoch hat sein vielfältiges Schaffen – Malerei, Zeichnung, Dichtung, Typographie – bislang keine allgemeine Anerkennung gefunden und bleibt auf das private Interesse von Liebhabern, Sammlern, Kunsthändlern beschränkt.

*

„Einer der grossen russischen Maler wird einst meinen Namen tragen“, verkündete Charchoune gern mit provokanter Selbstgewissheit. Doch als „Russe“ ist er kaum je erkannt, geschweige denn anerkannt worden, war er doch der russischen Kunsttradition weit weniger verbunden als zeitgenössischen westlichen Vorbildern und „Kunstismen“, in erster Linie dem Kubismus, den er vorübergehend in dekorativ verflachter Form praktizierte, am intimsten aber dem gefälligen Orphismus und Purismus von Ozenfant/Jeanneret sowie der künstlerischen Geisteswelt der Anthroposophie, von der seine Malerei, nunmehr rubriziert als „abstrakter Neosymbolismus“, bis zum Schluss merklich geprägt blieb.
In raschem Wechsel liess sich Charchoune (geboren 1888 im westlichen Ural, ab 1909 Malunterricht in Moskau, 1912 als russischer Exilant in Frankreich) auch von einzelnen Vertretern unterschiedlicher Kunstauffassungen – Seurat, Le Fauconnier, Metzinger, Delaunay, Picasso, Picabia u.a.m. – beeindrucken, kam jedoch über das Stadium eines Schülers und Bewunderers nie wirklich hinaus. Das gilt im übrigen auch für seine intensive künstlerische Auseinandersetzung mit der baskischen bildnerischen Folklore 1916/1917 in Barcelona, die er variantenreich nachahmte, nicht aber eigenständig aufzuarbeiten vermochte. Tausende von Malwerken bezeugen seine weitläufige, letztlich unentschiedene Stilsuche.
Nach dem Ende des Weltkriegs kehrte Charchoune nach Paris zurück (1919) und nahm zunächst erneut seine Malerei im Stil eines gemässigten „ornamentalen Kubismus“ auf (Ausstellung in der Buchhandlung von André Forny, 1920), öffnete sich aber gleichzeitig dem völlig anders gearteten und anders intendierten französischen Dadaismus, den er sich offenbar problemlos zueigen machte. Ab 1920 besuchte er regelmässig Vernissagen und andere Veranstaltungen der Pariser Dadaisten, verkehrte mit Picabia, Breton, Tzara, Iljazd, Cocteau, Max Ernst. Doch sein Versuch, eine eigene (russische) Dada-Fraktion zu gründen, scheiterte auf peinliche Weise, als er Ende 1921 im Café Caméléon eine erste Soirée eröffnete, zu der zwar Aragon und Breton erschienen, jedoch keinerlei interessierte Gäste.

*

Serge Charchounes produktives Engagement als Dadaist, angeregt durch Francis Picabia und Tristan Tzara, mit denen er damals in Paris zugange war, ist heute weitgehend vergessen. In einem späten autobiographischen Rapport hat er selbst noch einmal auf jene Zeit zurückverwiesen („Meine Teilnahme an der französischen Dadabewegung“, russ. 1967). Sein Hauptinteresse galt in jener bereits postdadaistischen beziehungsweise präsurrealistischen Schaffensphase der Zeichnung und der Poesie – beides führte er in einschlägigen Publikationen zusammen, die er als Verleger, Autor und Gestalter erscheinen liess. Weder auf Russisch noch auf Französisch vermochte er sich jemals korrekt auszudrücken, was allerdings bei der grassierenden dadaistischen Sprachverluderung nicht weiter auffiel.
Francis Picabia war es vor allen andern, der Charchounes dadaistische Aktivitäten inspirierte und massgeblich förderte – er lud ihn regelmässig zu seinen „Sonntagen“ im Salon Dada ein, bot ihm seine vielbeachtete Zeitschrift 391 als Publikationsforum an und bewog ihn zum Schreiben in französischer Sprache. Auf Französisch erschien denn auch Charchounes erstes Dichtwerk, Reglose Meute (Foule immobile, Paris 1921), ein dadaistisches „Volkslied“ – auf dem Umschlag abweichend als „Poem“ bezeichnet – in 9 „Rounds“ für 25 Stimmen, das der Autor, assistiert von Philippe Soupault, aus der russischen Originalfassung eigens in ein bewusst fehlerhaftes Französisch übersetzt hatte. Mehrstimmige performative Dichtung war unter Dadaisten beliebt, wurde spektakulär in Szene gesetzt, vorzugsweise in Form simultanistischer Darbietung, d.h. als kaum verständliches Stimmengewirr. Serge Charchounes polyphones Hörstück (gedruckt 1921 und 1964 in insgesamt drei Ausgaben) erscheint hier erstmals – als Übersetzung einer Übersetzung, die als Original gelten will! – in deutscher Fassung.

*

Die Stimmen der Reglosen Meute bleiben anonym, geschlechtlich neutral, ohne verifizierbare Ansprechpartner; sie sagen „ich“ oder „wir“, sie duzen oder siezen ihr namenloses Gegenüber. Jede Stimme artikuliert einen Satz, und jeder Satz steht für sich, kann Anrede, Frage, Antwort, Aufruf oder blosse Feststellung sein. An nur ganz wenigen Stellen scheinen die Aussagen aufeinander bezogen zu sein. Die Bedeutung der Sätze schwankt zwischen Trivialität und Nonsens, aphoristische oder lyrische Einsprengsel gibt es nicht.
Der Struktur und Funktion nach erinnern Charchounes Stimmen an die surrealistische Textsorte des cadavre exquis, die darin besteht, dass jemand auf einem Blatt einen beliebigen Satz oder Satzteil notiert, der dann durch das Umfalten des Papiers abgedeckt und an jemand anderes weitergereicht wird, der nun seinerseits, ohne zu wissen, was zuvor geschrieben wurde, eine eigene Zeile hinzufügt; und so weiter, bis zuletzt ein kollektiver, völlig unzusammenhängender, durch den Zufall generierter Text zum Vorschein kommt. Ein vergleichbares Projekt hatte schon 1916 Hugo Ball mit seinem bruitistischen Krippenspiel, später auch der belgische Dadaist Clément Pansears mit der „Komödie des Polyeders für lebende Puppen“ unter dem Titel Les Saltimbanques (Die Gaukler, 1918) realisiert.
Obwohl Charchoune sein avangardistisches „Volkslied“ gesungen und dirigiert haben wollte, scheint es eine entsprechende Aufführung nie gegeben zu haben. Die illustrierte Broschur des Stücks ist aber nur einer von zahlreichen Belegen für seine dadaistische Dichtung, die einzige freilich in Französisch. Dazu kommen ergänzend zeichnerische Versuche im Stil von Picabias Maschinen- und Ingenieur-Skizzen, angereichert durch unterschiedlichste Sprachfragmente (vgl. z.B. die Blätter Prostitution universelle, 1916/1917, sowie Machines des Idées actuetles dans l’amour, 1918), vor allem jedoch weitere Druckwerke zur Dokumentation und Verbreitung dadaistischen Kunstwollens in russischer Sprache.
Zu erwähnen ist hier insbesondere die Zeitschrift Transbordeur Dada (Perewos Dada), die Charchoune im Sommer 1922 in Berlin lancierte mit der russischen Kopfzeile „Europa sagt zu Russland – komm her“ und mit dem Verlagsnamen Europa Homöopath. Der Untertitel weist die (später fortgeführte) Publikation als „Offizielles Organ der 3½ Internationale“ aus. Politische oder ideologische Inhalte finden sich darin aber nicht, die fragmentarischen Kurztexte sind grösstenteils Juxparolen oder Unsinnsverse – etwa dieser Art: „Alles ist Vergangenheit sagte der Phantast.“ – „Der hochpatente Hammerkämpfer Aleks Zwergerich wird im Koran schon bald zu der Geschichte von Samson kommen und dann gleich den Friseur aufsuchen.“ – „Mademoiselle Mode wurde im Expresszug geboren. Unterwegs wurde sie zu einer Dame und sie starb und hinterliess als Erben den Schönling Erfolg.“ Usf. – Eine neue deutsche Übersetzung von Charchounes Essay „Dadaismus“ (Berlin 1922, russ.) bildet den dritten Teil der vorliegenden Broschüre.

*

Eigentlich wollte Serge Charchoune via Berlin nach Sowjetrussland heimkehren, kam davon jedoch ab, als er von den Greueln des Bürgerkriegs erfuhr. Statt dessen gründete er in der deutschen Reichshauptstadt eine exilrussische Dada-Filiale, die er fortan im Alleingang betrieb und repräsentierte. In der kurzen Zeit seines dortigen Aufenthalts (1922–1923) stellte er bei Herwarth Waldens renommierter Galerie Der Sturm aus – damals ein zentrales Podium der internationalen Avantgarde. So lernte er bald den holländischen Konstruktivisten Theo van Doesburg kennen (Ideengeber und Wortführer der De Stijl-Bewegung), aber auch den russischen Designer und Typographen El Lissitzky sowie den Dichterphilosophen Andrej Belyj, der damals ein Adept Rudolf Steiners war, mit dem auch Serge Charchoune nachhaltig sympathisierte. Auffallend ist andererseits Charchounes (womöglich sprachbedingte) Zurückhaltung gegenüber dem deutschen Dadaismus (Zürich, Köln, Berlin) – Autoren wie Ball, Hennings, Serner, Mehring, Hausmann u.a.m. finden in seinen Schriften keine Erwähnung.
Die konstruktivistische Rationalität, die futuristische Maschinenkunst, die theosophische Farben- und Formenlehre, der schwermütige Neosymbolismus, die Synästhesie von Musik und Bildkunst, der dekorativ Impressionismus, der monochrome Minimalismus, der dadaistische und surrealistische Wahnwitz – alles nahm Charchoune fast gleichzeitig in sich auf, ohne es freilich zu einer überzeugenden Ganzheit zu bringen. Statt eine solche zu erarbeiten, begnügte er sich mit einem vagen Gesamtkünstlertum, das alles mit allem verquickte, nichts aber auf einen tragfähigen gemeinsamen Nenner brachte, es sei denn durch eine streitbare Selbsterklärung wie diese: „Alle Künste sind ornamental, ihre Funktion – priesterlich.“ – Von daher erklärt sich wohl die Tatsache, dass Charchoune bei keinem der zeitgenössischen „Kunstismen“ jemals heimisch wurde, dass man ihn stets als Aussenseiter und Mitläufer wahrnahm und er selbst sich als Ich-Firma gerierte – all seine zahlreichen Texte gestaltete und verlegte er auf eigene Rechnung in minimaler Stückzahl bei sich zu Hause. „Ich habe viele Menschen getroffen und viele Hände geschüttelt“, gab er einstmals resigniert zu Protokoll:

Aber ich habe keine wirklichen Freunde.

Einzig mit seinen dadaistisch-surrealistischen Unternehmungen ist Charchoune einen eigenen Weg gegangen. Über die Anfangsjahre 1920/1923 hinaus hat er diesen Weg abseits des öffentlichen Interesses und ohne jeden Gewinn weiterverfolgt, derweil er in offenkundigem Gegensatz dazu über Jahrzehnte hin seine symbolträchtige, stets marktgängige Malerei fast unverändert fortführte und dafür ein dankbares Publikum fand. – Bis 1949 hat er seinen Transbordeur Dada unregelmässig, aber konsequent herausgebracht; daneben und danach realisierte er in Druck- oder Typoskriptform eine Reihe von postdadaistischen Schriften, darunter „Das Denkmal“ (Le Monument, 1949–1958), „Das Ventil“ (La Soupape, 1958–1969) und „Die Kleine Flamme“ (La Petite Flamme, 1972–1973 ).
Als Autor war Charchoune zwischen 1922 und 1924 in manchen führenden Kunstalmanachen und Zeitschriften vertreten, so in Kurt Schwitters’ Merz, in Theo van Doesburgs Mecano und in Malespines Manomètre. Im Unterschied dazu sind seine späteren Prosawerke, allesamt in Russisch abgefasst, so gut wie unbemerkt geblieben – auf der französischen Wikipedia werden sie nicht einmal dem Titel nach genannt. Immerhin hat Serge Charchoune zwischen 1924 und 1973 rund vierzig Bücher in eigener Regie herausgebracht – komische, groteske, auch banale Texte, durchweg surrealistisch imprägniert, manche davon in kabarettistisch anmutender Gesprächsform, leicht zu lesen, schwerlich einzuordnen und zu begreifen, aber einnehmend durch ihre privatistische Intonation wie auch durch den unbändigen Absurdismus des Autors, der selbst Unwahrscheinlichstes ganz alltäglich erscheinen lässt.

Felix Philipp Ingold, Vorwort

 

 

Die außergewöhnlichen Abenteuer russischer Künstler im Land des Dada. Iliazd, Sergei Sharshun, Ivan Puni und Paris.
Vortrag von Margarita Tupitsyn in der Fondation Giacometti Paris am 26.10.2021

Fakten und Vermutungen zum Autor + Kalliope

 

Zum 70. Geburtstag des Übersetzers:

Ulrich M. Schmidt: Das Leben als Werk
Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2012

Zum 80. Geburtstag des Übersetzers:

Magnus Wieland: Der Autor, der die Autorschaft hinterfragt
Berner Zeitung, 25.7.2022

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + InstagramKLG +
Kalliope + Viceversa + Forschungsplattform + slavistik-portal +
Preis
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00