Nebel, bläulich graue; Welten Schnees, gefrierend −
Ein zitronenfarbnes Mondlicht schwelt durchs Grau
aaaaaund Blau.
Schmerzhaft wills das Herz: Die Bilder memorierend
Seiner Jugend; dieses, jenes, alle sehr genau!
Unser Haus; die Schwelle – Treibsand? Schnee bis
aaaaaoben!
Dieser Mond von heute war es, als ich, ohne Wort
Und die Mütze – Katzenfell! – ins Aug geschoben,
Heimlich wegging aus dem väterlichen Haus, weit fort.
Jetzt, in meiner Gegend wieder, die ich liebe,
Zähle ich, was mich noch kennt, was mich vergaß, vergaß…
Mich beklagend steh ich gleich verfolgtem Diebe,
Der in beßren Zeiten jenes Holzhaus einst besaß.
Schweigend knüll ich in der Hand die neue Mütze,
Die aus Zobelpelz! Zuwieder ist sie Dir, gestehs!
Meine Leute winken dort zur Abendgrütze?
Ach, der Friedhof fällt mir ein, so lockren Pulverschnees…
Alle nun besänftigt – so geschiehts uns allen,
Ob man sich im Leben abmüht oder so lala!
Grade deshalb bin den Menschen ich verfallen,
Grade deshalb wünsch ich mich den Menschen immer nah!
Grade deshalb stieg in mir die Schmerzenswelle −
Hirnstirbt, lächelnd, mir die Seele! … Dieses Mondlicht, fahl,
Dieses Holzhaus, diesen Hund auf dieser Schwelle
Seh ich, säh ichs wieder auch, zum allerletzten Mal!
Übersetzt von Adolf Endler
1. Autopsie nach siebzig Jahren
Fast siebzig Jahre nachdem sich Jessenin am 28. Dezember 1925 im Leningrader Hotel Angleterre erhängt hatte, wurde in Moskau eine Kommission gebildet, die die Umstände seines Todes untersuchen sollte: ob er mit einem Revolvergriff oder einem schweren Gegenstand erschlagen, ob er erschossen oder erwürgt und der Selbstmord danach nur vorgetäuscht worden sei, ob er sein Abschiedsgedicht wirklich selbst und wirklich mit Blut geschrieben habe und ob der Obduktions bericht von damals nicht Zweifel hervorrufe. Neben Schriftstellern und Jesseninforschern gehörten der Kommission Spezialisten verschiedener gerichtsmedizinischer Institute an, zusätzlich wurden Expertisen und Gegenexpertisen eingeholt, KGB-Akten und Personalunterlagen von Jessenins Verwandten und Freunden eingesehen, Fotos und Negative, auch die dem toten Dichter abgenommenen Gesichtsmasken geprüft.
All die Versionen von Jessenins Tod waren vorher – zum Teil mit verdächtigen Stellen auf Fotos des Toten motiviert – durch die Presse gegangen, sogar die mutmaßlichen Mörder waren bereits genannt. Der Abschlußbericht, der – nach erweiterter Sitzung der Kommission am 27. Mai 1993, auch unter Teilnahme der „Ankläger“ – in der Presse erschien, widerlegte die Zweifel am Selbstmord.
Gewiß ging es manchen Verfechtern der Mordthese, die in der Regel sowohl der Jesseninforschung fernstanden als auch Laien auf kriminalistischem Gebiet waren, mehr um Sensation und Selbstprofilierung; Majakowskis Selbstmord von 1930 war auf ähnliche Weise auch schon in Zweifel gezogen worden. Allein das tragische Schicksal vieler Menschen aus Jessenins Umfeld verbietet es, Fragen nach der Wahrheit über seinen Tod grundlos zu nennen.
Dem Stalinschen, dem stalinistischen Terror fiel in den dreißiger Jahren Jessenins erste Ehefrau Sinaida Reich zum Opfer – nach ihrer Trennung von Jessenin Ehefrau Meyerholds, den dasselbe Schicksal traf; Opfer „ungesetzlicher Repressionen“, wie es in Enzyklopädien heißt, wurden die in Jessenins Aufsätzen hochbewerteten Autoren Babel und Pilnjak, der von ihm mit großen Erwartungen bedachte Oreschin, Jessenins Dichterfreunde Klytschkow, Tizian Tabidse und Nassedkin – der auch sein Schwager wurde −, sein Freund – Feind Kljujew wie auch sein Feind, der „Revolutionsfeldwebel“ Sosnowski, ein Verleger in der „Flämmchen“-Bibliothek, der hervorragende Feuilletonist Michail Kolzow und viele andere aus seinem Umkreis; Woronski, der Chefredakteur der Zeitschrift Rotes Neuland, in der Jessenin viel publiziert hatte, konnte da noch von Glück sagen: er kam mit politischer Ausgrenzung davon.
Dennoch: Mögen in Jessenins dichterischem Werk, das bei aller poetischen Transformation von seiner Lebenswirklichkeit Zeugnis ablegt, die 1916 geschriebenen Zeilen „Mit meinem eignen Ärmel werd ich nachts ans Fensterkreuz mich hängen“ eine metaphorische Funktion haben – sie sind nach einem Selbstmordversuch zwei Jahre zuvor nicht nur seiner sensiblen Gedankenwelt entsprungen („Ich hab die Heimat lang schon satt…“). Später verdichteten sich derlei Signale, wobei gewiß sowohl der Zwiespalt mit der zunächst begrüßten gesellschaftlichen Umwälzung als auch der körperliche Verfall infolge des Alkoholismus – bis zu Erscheinungen des Delirium tremens – ihre Rolle spielten. Das „kleine“ Poem „Schneesturm“, Ende 1923 entstanden, belegt gemeinsam mit „Frühling“ Jessenins Ringen um Zugang zur Staatsideologie – sogar von wohlwollenden Kritikern des als „Weggefährte“ gewerteten Dichters wie Woronski mit Skepsis bedacht; aber es liest sich zugleich als depressive Selbstdiagnose. Und schon seit 1922 schrieb Jessenin an dem Poem „Der Mann in Schwarz“; im November 1925 beendet, erschien dieses Werk, das der Doppelgängerthematik größte künstlerisch-philosophische Dimensionen verleiht, bereits nach Jessenins Tod.
Aufschlußreich als Schlüsselwerk ist das – am 20. Juli 1925 noch in Baku veröffentlichte – Gedicht „Traumgesichte. Dunkelheiten…“, wenn man noch unpublizierten Überlegungen des Moskauer Jesseninforschers Wdowin folgt. Die Vision („Traumgesichte“) öffnet sofort den Blick auf einen „schwarzen Weg“ (wörtlich im Original). „Weiß – ein Pferd“ assoziiert das neu testamentarische Bild vom göttlichen Strafgericht (Offenbarung 19.11 ff), letzten Endes den Tod: „Und die reitet, ist bald hier“ – „die“, das ist der Tod (russisch ist er weiblich: smert), ungeliebt und doch ersehnt; in Celans Nachdichtung heißt es: „und ich lieb sie, lieb sie nicht“. Der Dichter wehrt sich noch: „laß die Zweige Hände sein, und die kommt, laß nicht vorbei“; dennoch kommt sie, „die solches Licht erhellt“, sie, „die’s nicht gibt auf der Welt“, und der Dichter – „Haderlump ich und Halunke, versedumm und versetrunken“ – fügt sich, versöhnt sich schließlich mit der „Ungeliebten“, mit dem Tod (deutsch ungenau: „sei die Falsche mir willkommen“).
Auch wenn man die Versuchung, Poesie in diesem Kontext zu wörtlich zu nehmen, zügelt: Jessenins Abschied, sein „Nun leb wohl, mein Freund, auf Wiedersehen…“ kam nicht unvorbereitet, sondern verdient, als seine schmerzliche Entscheidung verstanden zu werden. Aber daß diese Frage fast siebzig Jahre nach seinem Tod noch so viel Bewegung auslöste und mit so viel Aufwand untersucht wurde, sagt auch etwas über seine „Unsterblichkeit“ aus.
3. Jessenins Wort und seine Strahlung – deutsch
Die vorliegende deutsche Ausgabe, nach der Auswahl aus Jessenins poetischem Werk wie auch nach ihrer Genrevielfalt durch die Einbeziehung von Erzählungen, Aufsätzen und Briefen die bisher umfassendste, ist nachdichterischen, verlegerischen Vorleistungen der Jesseninrezeption aus nun schon über siebzig Jahren verpflichtet. Später als bei Block, der – fünfzehn Jahre früher geboren – schon seit 1908 auch in Deutschland Beachtung fand; nicht mit derselben Intensität wie schon ab 1919 bei Majakowski – dem „Dichter der Revolution“ −, begann die poetische deutsche Aneignung bei Jessenin 1921; aber bis heute haben bereits 61 Übersetzer daran mitgewirkt, dem deutschen Leser ein möglichst adäquates Bild des Dichters zu vermitteln. In immer neuen Anläufen, kongeniale Übertragungen zu schaffen, sind von ihnen bisher – vorliegende Ausgabe eingeschlossen – bei insgesamt 237 übertragenen Titeln 508 Fassungen vorgelegt worden, von manchen Gedichten bis zu acht. Allein die Erstdrucke der Versdichtungen ergeben, beginnend mit den zwanziger Jahren und nach Jahrzehnten aufgegliedert: 16 – 12 – 28 – 84 – 130 – 39 – 62 – 107 Titel (die letzte Zahl für die neunziger Jahre, soweit schon erfaßt). „Schübe“ bewirkten dabei natürlich Anthologien und vor allem Jesseninausgaben; die literaturkritische deutsche Jesseninrezeption fand ihren bisherigen Höhepunkt in Mieraus – wissenschaftlich bestechendem wie künstlerisch lebendigen – Buch Sergej Jessenin (Leipzig 1991).
Die erste deutsche Nachdichtung schuf Iwan Goll. Der die Welt als Heimat hereinholende Dichter „Johann Ohneland“ übertrug „mit Hilfe russischer Freunde“ den Russen, für den die Heimat – stellvertretend für die Welt – alles war. Fragmente aus Jessenins „Inonien“ und „Die Verklärung“ veröffentlichte Goll zusammen mit weiteren Nachdichtungen aus Block, Bely, Majakowski, Marienhof im Juli-Heft 1921 der Dresdener Zeitschrift Menschen; seit Mai des Jahres gab er sie „im Auftrag des Pariser Zentralkomitees“ der linksintellektuellen Clarté-Bewegung heraus. Stand ihm, der als Expressionist zum Surrealismus unterwegs war, Jessenins Bildkraft, die – von der Bibel befruchtet – auch seine Quelle war, besonders nahe? Jessenins Bilder, seinen Gestus hat Goll jedenfalls eindrucksvoll getroffen. Fast im Zweijahresrhythmus folgten Nachdichtungen der „Verklärung“ von Tartakower (offenbar mit dem aus Rostow gebürtigen Schachmeister identisch), von Kalmer (aus Böhmen gebürtiger Wiener Ethnologe und Polyglotte); dann erweiterten andere Nachdichter auch die Titelauswahl (Groeger, Jarcho, Lindenberg-Degal, Schwiefert, Dürck…). Über eine rußlanddeutsche Moskauer Edition von 1927, Lieder der Tat, wird gesondert zu sprechen sein.
Hitlers Machtantritt brachte schon 1933 die erste „Liste verbotener Bücher“; aus Jessenins Umfeld standen darin unter anderen Gorki, Ws. Iwanow, Babel, Pilnjak, Leonow – von Jessenin selbst gab es ja noch keine deutsche Buchausgabe. Überraschend ist eine Jessenin-Nachdichtung in der Kölnischen Zeitung vom 4. März 1933, die davor nicht eine Zeile Jessenin gebracht hatte: Grasheys „Nachtstück“; das Feuilleton dieser Zeitung lag damals wohl „noch unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der NS-Pressepolitik“, schrieb mir dazu Prof. Lerg, Direktor des Instituts für Publizistik zu Münster, wo sich die Zeitungsnummer fand – Grashey ist später im Nazi-KZ umgekommen. Eine weitere Nachdichtung enthält Hiller v. Gaertringens Auswahl slawischer Dichter für das Slawische Institut der Berliner Universität, 1934 (Dort wo Schweigen ewig schlummert). Wie aber ist unter den gegebenen Umständen die Edition Russische Lyrik in Übersetzungen von Wanda Berg-Papendick unter Einschluß von acht Jessenin-Texten als Heft 4 einer Feldgrauen Reihe 1939 in Weimar zu erklären? Vielleicht als eine schnelle Reaktion auf den Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939? (Die Reihe begann mit Turgenew, brachte auch Gedichte von Hölderlin.) −
Außerhalb des „tausendjährigen“ Kontextes, in der Schweiz, erschien 1940 eine Jessenin-Nachdichtung v. Radeckis: „Die Pferde“ (Anth. Der Glockenturm).
Nach Kriegsende eröffnete die Sammlung von Berg-Papendick als Nachdruck eine nun nicht mehr abreißende Folge von deutschen Jessenin-Publikationen in Ost und West, sogar „grenzüberschreitend“. Unmöglich, hier auch nur alle herausragenden Leistungen zu würdigen, und seien sie so zahlreich wie die 1948/49 von Tschelistschewa-Lindenberg und Stammler oder in eigenen Jesseninbänden vorgelegt wie die von Dedecius (seit 1961) und Szabo in Österreich (1970). In vorliegender Ausgabe begegnen sich die „Jesseninpremieren“ von Bostroem, Gosse und Pietraß mit den immer noch zahlreichen Nachdrucken von Bach und Christoph aus der ersten deutschen Jesseninausgabe von 1958 Liebstes Land, das Herz träumt leise und von Celan, der im selben Jahr 1958 seine ersten Jessenintexte in der Frankfurter Neuen Rundschau veröffentlichte; hier hält Endler seine „Positionen“, bauen Dege, Elke Erb und Kirsch ihre Beiträge zur deutschen poetischen Jessenin-Rezeption aus. Auf Fischer kommen wir in anderem Kontext zurück.
Treffend hat Mierau im Nachgang zur Erstauflage seiner Leipziger Ausgabe von Jessenins Gedichten 1965 das qualitative Niveau charakterisiert, das die poetische Aneignung von Jessenins Werk mittlerweile erreicht hatte: „Was die Jessenin-Übersetzungen P. Celans, A. Christophs und R. Kirschs von früheren und parallelen Versuchen unterscheidet, ist die produktive Haltung der Übersetzer gegenüber den Texten. „Dabei habe Christoph, die Jessenin „als Gefangenen seiner Leidenschaft“ übersetzt, einen „Ton“ gefunden, der dem Jessenins „täuschend ähnlich“ sei, auch wenn bei ihr die Leichtigkeit „hin und wieder auf Kosten der Tiefe“ ginge. Umgekehrt habe Celan „die Legende vom naiven Sänger der russischen Weiten, vom ,unintellektuellen Jessenin‘“ begraben, doch habe er durch seine „Eigenmächtigkeit“ in der poetischen Grammatik „die natürliche Sprechbarkeit des Verses“ stark reduziert. Erst Kirsch, der auch „die Reste lexikalischer Klischees“ getilgt habe, bewahre sowohl Leichtigkeit als auch Tiefe des Jesseninschen Verses, seine Übersetzungen eröffneten „einen neuen Abschnitt in der deutschen Rezeption und Interpretation Jessenins“.
Rainer Kirsch, seit Anfang der sechziger Jahre als einer aus der jungen Dichtergeneration in der DDR auch im Nachdichten aktiv, hat im Jahr 1976 seine Erfahrungen in einem Buch verallgemeinert, das zugleich theoretische Maßstäbe setzt: Das Wort und seine Strahlung (Berlin/Weimar); noch acht Jahre darauf, 1984, in einer Güstrower Dissertation von Passow über Jesseninsche Lyrik in deutschen Übertragungen lieferte es die entscheidenden Kriterien. Doch deren gar zu verabsolutierenden Urteile über andere Nachdichter waren schwerlich im Sinne Kirschs. Endlers Jessenin-Nachdichtungen zum Beispiel – die ersten standen 1967 in der Berliner Anthologie Oktober-Land – sollen „nicht auf die Adäquatheit des Inhalts mit dem Original“ orientieren, „sondern auf die formale Seite“? Im Kontext des ganzen Gedichts „Rückkehr in die Heimat“ (2. Fassung) ist es auch deutsch eher so, daß im Detail nachweisbare Freiheiten sich zu einem Bild vom lyrischen Ich und seinem Wirklichkeitsbezug fügen, das dem vom Original vermittelten nahekommt. Endlers Nachdichtungen waren mir als Herausgeber schon 1967 wichtig, weil er überzeugend, wenn auch holzschnittartiger als Jessenin, den inneren Widerstreit zwischen Bitternis und Bekenntnis zum Ausdruck bringt – ganz im Sinne seines von 1961 datierten Gedichts „Jessenin 1923“:
Ich habe meinen Adressaten wohl verpaßt,
Und meine klare Botschaft klingt verrückt und wirr –
Wenn das „Wie“ gerade „die Individualität, die Einzigartigkeit eines Kunstwerkes ausmacht“ – und dem ist zuzustimmen −, dann wird das übersetzte Kunstwerk ohne spürbare Individualität gesichtslos. Einfacher wird das Problem dadurch nicht, im Extremfall entstehen auf andere Weise aufschlußreiche Adaptionen – siehe Endlers „Brief an eine Frau“ oder Mickels „Hundesohn“. Dennoch: Jeder neue „Anlauf“ ist am Ziel zu messen, „die poetische Mitteilung des Originals so genau wie möglich neu herzustellen“.
Versuchen wir, Besonderheiten der neuen Nachdichtungen zu charakterisieren – in Stichworten, die dennoch verraten sollen, wie nächst der Unvergleichbarkeit einzelner Nachdichter ihr Zusammenspiel Jessenins poetisches Spektrum fassen hilft. Bringt Bostroem mit einer fast liedhaften Intonation nicht sowohl Verzauberung als auch tragische Tiefe herüber – obgleich sie dazu tendiert, harte Konturen zu entschärfen? Gelingt es Dege, auch wenn er deutlicher hinter das Original zurücktritt, im „Lied vom großen Feldzug“ – um ein Beispiel zu nennen nicht doch, der von Jessenin adaptierten Form des tradierten Heldenliedes zwanglos nahezukommen? Beeindruckt es nicht, wie Elke Erb nach den schon früher vorgelegten, scheinbar unterkühlten, doch gerade dank poetisch-sprachlicher Prägnanz musikalischen Jessenin-Gedichten der extremen Emotionalität in „Pugatschow“ ebenso gerecht wird wie dem klassischen Traditionen verpflichteten, epischen Erzählfluß in „Anna Snegina“? Ja – Lakonismus, verdichtende Wortwahl: auf welch unterschiedliche Weise reproduziert mit ihrer Hilfe Gosse in den „Kneipen“-Gedichten – ohne jegliche „Poetisierung“ Atmosphäre schaffend – die schwierige Balance zwischen Lebensüberdruß, ja Zynismus, und kritischer Distanz, „erdet“ Pietraß – bei syntaktisch-metrischer Strenge und aufrauhendem Reim – die mythologische Bildersprache der proklamatorisehen Revolutionspoeme!
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Nachdem 1982 der Berliner Jessenin-Auswahlband Oh, mein Rußland erschienen war, veröffentlichte der rußlanddeutsche Dichter Bolger in der Freundschaft, der „Tageszeitung der sowjetdeutschen Bevölkerung Kasachstans“, vom 1. Februar 1986 die Besprechung „Wenn man Jessenin lieb hat“. Über die Jessenin-Editionen in der DDR, über die daran Beteiligten bemerkenswert gut informiert, hielt Bolger den Nachdichtern des Bandes – insbesondere Endler, Elke Erb, Struczyk – sowie natürlich dem Herausgeber Kossuth vor, sie hätten dem Leser „statt Poesie ein Surrogat vorgelegt, das weder Herz noch Hirn anspricht“; das belegte er mit vielen aus seiner Sicht kommentierten Zitaten.
Die Kritik war grundsätzlich, galt nicht einfach Mißlungenem, über das man sich hätte leicht verständigen können. Mein Brief an die Redaktion in Zelinograd, der u.a. auf unterschiedliche Literaturtraditionen, Sprachentwicklungen im deutschen Mutterland und – seit Jahrhunderten – in den zeitweise isolierten Siedlungs-, ja Verbannungsgebieten der Rußlanddeutschen verwies, konnte den Konflikt natürlich nicht ausräumen. Zu einigen Überlegungen, Erkenntnissen ist das „deutsche Mutterland“ indessen doch herausgefordert.
Fast ein Viertel jener 61 deutschen Jessenin-Übersetzer waren Rußlanddeutsche. Soweit ermittelt, erschienen die ersten rußlanddeutschen Jessenin-Nachdichtungen von Luft, Schellenberg und Wyß 1927 im Moskauer Sammelband Lieder der Tat / Russische proletarische und andere revolutionäre Poesie; Luft und Schellenberg starben in der Verbannung, das Schicksal von Wyß ist unbekannt. Als Volksgruppe seit 1941 kriminalisiert, erhielten die Rußlanddeutschen erst 1962 wieder eine Zeitung, und 1964 setzten auch Publikationen neuer Jessenin-Nachdichtungen ein. Allein von Bolger erschienen von 1976 bis 1989 fünfundzwanzig Texte, die letzten postum.
Natürlich partizipierte und partizipiert die Literatur der Rußlanddeutschen bei aller Eigenständigkeit am gesamtrussischen Literaturprozeß, eingeschlossen die Jessenin-Rezeption, die Theorie und Praxis der Übersetzung. Lew Ginsburg, der deutsche Poesie aus zehn Jahrhunderten russisch nachgedichtet hat, vertritt in seinem gedankenreichen Bekenntnisbuch … nur mein Herz brach – deutsch noch nicht erschienen – das Vorrecht des Übersetzers, sich über Zeitbarrieren hinwegzusetzen, wenn er in einer anderen Sprache gültig nachschöpft, was original in seiner Art längst unnachahmbar ist; das unterstellt – auf unser Thema bezogen – nicht unbedingt den „gegenwärtigen Stand der Poesie“ als „Grund, aus dem der Nachdichter zum Leser spricht“ (Kirsch), entscheidend ist freilich das Ergebnis. Derselbe Streit findet im „deutschen Mutterland“ statt, ausgetragen zum Beispiel zwischen Ruge und Kirsch in Sinn und Form 3/1979 und drei Nummern darauf von Creutziger „auf den Punkt gebracht“: „daß dies im Deutschen zwar schwer zu erreichen, aber noch möglich ist: unprätentiöse Bilder, Schlichtheit, etwas Natürliches, ja, sagen wir ruhig: das Normale in der Lexik, in der Syntax, im Rhythmus – das jedenfalls, was Jessenin braucht“.
Alle die Jessenin-Porträts von Benois und Ardow, von Annenkow, Gudiaschwili und Altman in vorliegender Ausgabe stellen – bildkünstlerische – „Annäherungen“ an das „Original“ dar. Das nachdichterische Nebeneinander von Bolgers „Golden hängt der Mond…“ und Kirschs „Kaltes Gold des Mondes…“, von Bolgers und Elke Erbs „Anna Snegina“, von Bolgers „Blau sind die Lüfte…“ und Fischers „Luft in klarblauem Schimmer“, auch von Bolgers und Endlers „Brief an eine Frau“ in vorliegender Ausgabe wiII nicht Wertungen präjudizieren, sondern Fragen aufwerfen: Welchen Gewinnen stehen welche Verluste gegenüber, wenn es denn Gewinne und Verluste gibt? Oder haben wir es – in den jeweils gelungensten Fällen – mit unterschiedlichen Formen der Annäherungen zu tun? Diese Frage gilt auch jenseits des Themas Rußlanddeutsche – etwa für das Nebeneinander von Kirschs und Mickels „Hundesohn“.
Der gesonderte Blick auf die rußlanddeutschen Jessenin-Nachdichtungen ist ohnehin nur methodologisch zu motivieren – schon weil sich vor allem in jüngster Zeit zu viel relativiert. In der rußlanddeutschen Literaturkritik zählt Jacquemien – noch kurz vor seinem Tod ins „westlich vorgeschobene“ Kaliningrad übersiedelt – zu den Rußlanddeutschen; er stieß 1932 als politischer Emigrant aus Köln zu ihnen, wurde 1934 Sowjetbürger. Warkentin, obgleich seit langem in die DDR übersiedelt, war zumindest bis dahin nach Herkunft und Biographie Rußlanddeutscher; um wieviel mehr gilt das für Leis und Kramer, die erst in jüngster Zeit nach Deutschland kamen. Fischer, der österreichische Schriftsteller war 1935 bis 1945 „nur“ als politischer Emigrant in der Sowjetunion, während dieser Zeit auch noch zum Einsatz in Spanien; im Kontext Rußlanddeutsche steht er hier nur, weil er während der Emigration zeitweilig als Arzt in der Wolgarepublik gearbeitet hat, um ein Buch über sie zu schreiben; Erfahrungen daraus – und das im Sinne von Creutzigers Orientierung – dürften nicht zuletzt seiner späteren Übertragung dreier kompletter Originalbände Jessenin zugute gekommen sein.
Leonhard Kossuth, aus dem Vorwort, März 1994
Die Auswahl stützt sich auf die bisher umfangreichste Ausgabe von Jessenins Werken: C.A. Есенин. Собрание сочинений в шести томах. „Хүдожественная литература“, Москва 1977-1980. Dort durch Punkte kenntlich gemachte – politisch oder moralisch motivierte – Auslassungen wurden vervollständigt; dies betrifft vor allem Texte in Band 2 und 3.
Alle Nachdichtungen, auch die Nachdrucke, wurden erneut durchgesehen, gegebenenfalls von den Nachdichtern korrigiert. In den ausgewählten Nachdichtungen von Walter Fischer, der bei seinem Tod 1978 in Wien ein Manuskript mit der vollständigen Übertragung einer dreibändigen russischen Jessenin-Ausgabe hinterließ, wurden – bei aller gebotenen Zurückhaltung – kleine redaktionelle Korrekturen mit Zustimmung und in Zusammenarbeit mit seiner Tochter und Erbin Ruth Scheurer vom Herausgeber vorgenommen.
Die Gedichte sind – unter Einschluß der von Jessenin als „kleine Poeme“ bezeichneten und von ihm gesondert zusammengefaßten Werke – chronologisch nach ihrer ermittelten oder angenommenen Entstehungszeit angeordnet; lediglich bei den „Persischen Motiven“ wurden zugunsten der Geschlossenheit dieses großen Zyklus Abweichungen von der Chronologie in Kauf genommen. Von der durch Jessenin selbst vorgegebenen Anordnung seiner Werke, der traditionell auch die Herausgeber späterer Originalausgaben folgten, wurde abgesehen, weil der Auswahlcharakter der vorliegenden Ausgabe dieses Prinzip ohnehin durchbricht; andererseits wurde nur so auch die Einbeziehung der „kleinen Poeme“ und sonst in einen Ergänzungsband verwiesenen Gedichte in die Chronologie möglich. In eckige Klammern gefaßte Entstehungsdaten am Ende der Gedichte stammen von den Herausgebern der o.g. Originalausgabe. Unterschiedliche Schreibweisen von Eigennamen seitens der Nachdichter wurden für diese Ausgabe vereinheitlicht.
In die Edition einbezogene Originaltexte und Alternativ-Nachdichtungen sollen – in Verbindung mit der Bibliographie deutscher Nachdichtungen und Übersetzungen von Jessenins Werken – Einsichten in die Problematik solcher Nachdichtungen befördern…
des russischen Dichters und Abgott ganzer Generationen. Mit fünfzehn begann er zu schreiben, mit zwanzig eroberte er die literarischen Salons von Petersburg und Moskau. Aus dem urwüchsigen Naturburschen wurde der uferlose Bohemien, voller Sehnsucht nach ländlicher Harmonie, und voller Haß gegen idyllische Verklärungen. Der magische Klang seiner Verse, die ungestüme Kraft seiner Metaphern zeugen von den Leidenschaften, die sein Inneres beherrschten und ihn zu kühnem Übermut ebenso verleiteten, wie sie ihn in tiefe Verzweiflung stürzen konnte.
Diese größte deutsche Ausgabe Jessenins (1895-1925), enthält alle wesentlichen Gedichte und Poeme, außerdem erstmals die Essays, die Prosa und die Briefe. Sie ist ausführlich kommentiert und reich bebildert.
Verlag Volk und Welt, Klappentext, 1995
Ulrich M. Schmidt: Des Dorfes letzter Dichter
Neue Zürcher Zeitung, 10.2.1996
JESSENIN
Schon nicht mehr hier,
zerstreut, woanders:
Offenbar hat er etwas sehr Wichtiges
vergessen und weiß nicht mehr genau,
was es eigentlich ist.
Man will ihm die Dinge erklären,
er ist nicht zugegen,
ist anderweitig verpflichtet,
Kometen auf der Spur
Cyrus Atabay
AN JESSENINS GRAB
Hier also
hätt es anders mir gedacht
ich glaubt dich unter Birken liegen
am Rand des Walds
doch bist du unter Menschen hier
in dieser Enge, Grab an Grab
so nicht allein.
Man sagt
die Dichter sprächen in den Wind
die Menschen stehn vor deinem Grab
sie legen Blumen für dich hin
und kennen deine Verse.
Dies nehm ich mit
wenn ich nun geh
der Abend wird schon rot
die Vögel fliehn in ihre Nacht
es streifen sacht mich ihre Schwingen
nun werden alle Schatten gleich.
Gerd Adloff
Christian Lindner: Der Pop-Poet der Zarin
Deutschlandfunk, 3.10.2020
Ergänzung zu Jessenins Gedicht “Die Pferde”
Sigismund von Radecki, den Sie für 1940 (Glockenturm) zutreffend ansetzen, hat dieses Gedicht erstmalig bereits 1929 in Übersetzung veröffentlicht in der Zeitschrift “Atlantis” (Atlantis Jg. 1 (1929), S. 93 (mit Pferdefoto).
Nach dem Weltkrieg hat er es in seine erste Nachkriegsveröffentlichung “Der Runde Tag” (1947) aufgenommen. Auch hat er den Text an die Schweizer Zeitschrift “Inspiré” gesandt, jedoch ist mir unbekannt, ob es dort erschienen ist.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich wüßte gerne mehr über Jessenins Gedicht: “Alles wie der Apfelblust. Vergangen. Keine Klage mehr, kein Ruf, kein Schrei usw. Ich kenne es komplett. Mir fehlt aber die Historie dazu. Vielleicht kann ich von Ihnen mehr darüber erfahren.
Mit freundlichen Grüßen
Paul H. Peiseler
Sehr geehrter Herr Peiseler,
leider müssen wir sie enttäuschen. Wenn ein Kundiger den Artikel liest, wird er sicher einen Kommentar schreiben. Wir drücken die Daumen.
die letzte Ehefrau S.A. Tolstaja–Esenina (Enkelin von L.N. Tolstoj) erinnerte sich, dass dieses Gedicht geschrieben wurde unter dem Einfluss lirischen ((otstuplenij) russ.) in Gogols „Toten Seelen“. Über sich scherzend ergänzte, dass man ihn für dieses Gedicht lobt, doch wissen die nicht dass es nicht er, sondern Gogol ist. Die Stelle über die Esenin spricht ist der Anfang 6 Kapitels (Glavi. russ), welche mit Strophen endet: „…. O, meine Jugend! o, meine Jugendfrische!“ So ungefähr. Dies ist meine freie Übersetzung aus dem russischem ins deutsche, daher auch die Fehler.