BEIM STUDIUM DER DEUTSCHEN GRAMMATIK
Das Tintenfass ist trocken. Kein
Schüler hat seine Feder… Meine von der Zeit
ruinierte Feder gibt es noch, doch sie kratzt
unter einer müden,
alten Hand. Welches ist der Lehrer?
Liebe? Er ist streng,
unbiegsam. Oder
eine Lehrerin? Noch sitzt
auf ihrem Fels am Rhein und kämmt das blonde
Haar die feenhafte Lorelei. Singt denn sie
oder singt die ganze Welt ringsum? Auf dem grauen
Fluß, bei den trügerischen Strudeln, müht sich ab
mein altersschwaches Boot, ist aber noch nicht
an dem Fels zerschellt. Von dort oben, wie
in den jungen Jahren, steigt seit jeher
jener Gesang herab und verzaubert mich.
1972
Der italienische Essayist, Literaturkritiker, Lyriker und Übersetzer Sergio Solmi ist im deutschsprachigen Kulturraum bis heute völlig unbekannt geblieben.
Solmi wurde 1899 in Rieti als Sohn eines Philosophieprofessors geboren. Er lebte in Mantua, in Livorno, in Turin, in Mailand. Er studierte Rechtswissenschaften, nahm als Soldat noch am Ersten Weltkrieg teil, sympathisierte schon früh mit den antifaschistischen Kreisen um Gobetti und die Zeitschrift Solaria und engagierte sich später aktiv für die Widerstandsbewegung. Während der deutschen Besatzung wurde Solmi zweimal verhaftet und eingesperrt (vgl. das Gedicht „Ein Traum“). Er starb nach einer langen Karriere als Bankbeamter 1981 in Mailand.
Solmis lyrisches Werk ist schmal. Die von ihm in den Jahren 1933, 1956 und 1968 erschienenen Gedichtbände wurden 1974 in dem Band Poesie complete wiederveröffentlicht. Seine Lyrik zeichnet sich aus durch eine beeindruckende sprachliche und stilistische Ausgewogenheit, durch die von der Ratio bestimmte Klarheit des Satzbaus, durch die unaufdringliche, aber doch deutliche Verbundenheit mit der großen poetischen Tradition Italiens und durch ein eigensinniges Festhalten am klassischen „hohen Ton“. Er orientierte sich ein Leben lang an seinen Vorbildern Leopardi, Valéry und Montale… Für Solmi war „Poesie der höchste Einklang unseres Seins mit sich selbst.“ Dichten heiße nichts anderes, als sich selbst wiederzuerkennen… Und er sah in der Poesie „eines der vielen Instrumente des sich zur Wehr Setzens, die die Menschheit unaufhörlich zur Anwendung bringt, um weiterzubestehen.“
Überraschend umfangreich sind seine Übersetzungen französischer, englischer, spanischer und deutscher Lyrik – „versioni poetiche“, die bescheiden in mehreren „quaderni“ (Heften) zusammengefaßt sind.
Allgemein höher eingeschätzt als seine Lyrik wird allerdings Solmis kritisches und essayistisches Werk: seine Bücher über die französischen Philosophen Montaigne (1942) und Alain (1930), über Jules Laforgue (1976), über Leopardi (1975) und andere italienische und nichtitalienische Autoren. Vor allem aber auch seine „prosa d’arte“: Meditazioni sullo scorpione (1972).
Dieses Werk ist eine Sammlung von Prosaschriften, die Solmi zwischen 1925 und 1972 geschrieben hat. In dem hier vorliegenden Text, dem Essay „Betrachtungen über den Skorpion“, der der ganzen Sammlung den Titel gibt, wird in Kindheitserinnerungen sowie astrologischen und zoologischen Betrachtungen der Skorpion zu einem, das menschliche Schicksal regelnden Symbol, zu „unserem vererbten Totem“, der Chiffre der Vielgestaltigkeit der Existenz zwischen Sein und Nichtsein. Solmi ist darin bestrebt, verschiedene intellektuelle Bereiche der europäischen Geistigkeit, den literarisch künstlerischen, den wissenschaftlichen, vor allem den naturwissenschaftlichen und den historisch soziologischen in ihren Wechselbezügen und derart schließlich als unauflösbare Einheit darzustellen. Er geht von einer Kindheitserinnerung aus, von dem Erlebnis in einer ländlichen Kapelle, in der er die Skorpione, die sich zwischen den Steinen verkrochen haben, erschlägt. Er gelangt behutsam nach und nach zu einer Rundschau über das Weltzeitalter… In einem derart erweiterten Bewusstsein schließt die Biologie des Tiers die Astrologie des Sternbildes nicht mehr aus. Der Übergang von der empirischen Wissenschaft, der Biologie, zur spekulativen Metaphysik, der Astrologie, wird nicht als bloßes Spiel der Vernunft erlebt, sondern als tastendes Gleiten des Ahnungsvermögens der menschlichen Psyche. Deutlich im Vordergrund der Meditation Solmis steht das Motiv der Symmetrie, ein wesentliches Element der Ideenwelt Platons, als eine der Formbedingungen, die die Materie quasi leitmotivisch durchzieht. Indem der Skorpion diese Symmetrie nicht wahrt, verstößt er gegen ein Naturgesetz. Sein asymmetrischer Körperbau ist ein Makel, den er offen, als Waffe im Kampf, provozierend zur Schau trägt. Als Sternbild am Himmel steht er für das Zwiespältige, Mörderische, Selbstmörderische in der Schöpfung.
Die Übersetzung dieses Essays wurde mit dem Wystan-Hugh-Auden-Übersetzerpreis 1991 ausgezeichnet. Ich lebte damals schon einige Zeit in Italien, lernte Italienisch mit einem italienischen Freund, der bei mir Deutschstunden nahm und mich eines Tages auf den mir damals völlig unbekannten Lyriker und Essayisten Solmi aufmerksam machte. Ich hatte schon sehr früh während meines Aufenthalts in Italien mit dem Übersetzen von italienischen Gedichten und kurzer Prosa begonnen. Rückblickend kann ich sagen, daß ich meine Kenntnisse in der italienischen Sprache und Kultur fast ausschließlich dieser ohne jede Ausbildung und ohne jeden Auftrag geübten Tätigkeit des literarischen Übersetzens verdanke.
Umso überraschender kam für mich daher auch die Zuerkennung dieses Preises. Hatte ich doch meine Übersetzung des Essays von Solmi tatsächlich ohne allzu große Hoffnung eingereicht. Nach monatelangen Vorarbeiten in Italien, die vor allem im wiederholten Lesen bestanden, hatte ich mehrere Wochen in der kargen Stube eines steirischen Bauernhauses beständig daran gearbeitet, mit nichts anderem ausgerüstet als mit Langenscheidts-Groß-Wörterbuch (Italienisch–Deutsch), ein paar auch mir verständlichen biologischen und astrologischen Fachbüchern… und meinen Sprachkenntnissen, vor allem im Deutschen – denn nichts ist, glaube ich, wichtiger beim literarischen Übersetzen (die Übersetzer-Profis mögen mir diesen Gemeinplatz verzeihen!) als die Beherrschung der eigenen Sprache. Notorische Selbstzweifel plagten mich – typisch österreichische und auch solche, wie sie alle, die übersetzen, kennen –: jede der vielen deutschen Versionen des so eminent italienischen „bella prosa“-Textes von Solmi erschien mir stets als nur e i n e der möglichen Lesarten.
Wie auch immer: Die Übersetzung wurde prämiert. Ich faßte damals den Preis in erster Linie als Auszeichnung des Werks von Sergio Solmi auf – und als ersten Hinweis auf diesen hierzulande Unbekannten. Der Hinweis wurde auch prompt gehört – in Deutschland. Ein großer deutscher Verlag forderte die Übersetzung an, prüfte sie, stellte die Übersetzung des gesamten Buches Meditazioni sullo scorpione in Aussicht, beschied aber nach Einblick in den vollständigen Text des Buches dann doch, daß derartiges in Deutschland „momentan leider überhaupt nicht gehe“, will sagen: nicht zu verkaufen sei.
Umso verdienstvoller erscheint es mir, daß endlich, nach mehr als einem Jahrzehnt, ein kleiner, auf rare Literatur spezialisierter Verlag in Österreich bereit ist, den italienischen Autor Sergio Solmi im deutschsprachigen Raum vorzustellen.
Hans Raimund, Hochstraß, 2004, Nachwort
– Ein Salzburger Kleinverlag namens Tartin Editionen überwindet die Schranken des Marktes. –
La tartine ist im Französischen die Buttersemmel, auf dudendeutsch: die Stulle. Also eine kleine Mahlzeit, eine Jause, ein schlankes Brötchen. Es dürfen gewisse Analogien zu Tartin Editionen gezogen werden, einem Kleinverlag in Salzburg mit Außenstelle in der französischen Provinz, Passage Saint Avoye, Paris. Vermutlich eine ehemalige Wohnadresse von René Char oder Solomon Buli alias Moni de Buli, Mitglied der surrealistischen Truppe André Bretons aus Belgrad.
Die Analogien liegen auf der Hand wie die Heftchen der Edition. Oder auch in der Hand, wie eine Buttersemmel mit ein paar Wurstblättern. Handlich, wenige Blättchen, wenige Seiten. Dafür alles andere als jene grausige Gelbspeibwurst, mit der jeder hinterfotzige Metzger, kleine Kinder vergiftet. Format 15 mal 11 Zentimeter, maximal 80 Seiten, eher 30 bis 40, dafür aber nur Filetstücke: Abgelegenes, vom Feinsten. Oder einfach wunderbar Skurriles, Randspeckiges, Sperrborstiges, in der Mehrzahl deutsche Erstveröffentlichungen. Stückchen, die für den üblich üblen Literaturbetrieb nicht verwertbar sind; für jene Marktfetischisten nämlich, die den Wert der Literatur mit dem Tauschwert einer mit Kalaschnikows und Klopapier vergleichbaren Ware verwechseln, also mit Gelbspeibwurscht. Den Verantwortlichen des Wurstsemmelverlags, Max Blaeulich und Ludwig Hartinger, scheint es hingegen ein besonderes Vergnügen zu bereiten, die ehernen Gesetze des Kapitalismus zu hintergehen, indem sie das produzieren, was der ordentliche deutsche Markt aus vielerlei Beschränktheiten überhaupt nicht verlangt; schlimmer noch: es scheint ihnen auch herzlich gelbwurscht zu sein, was der Markt mit seinen Schranken an Beschränktheiten verlangt, sie lassen sich von ihm nicht einschränken. Wohl deshalb nennt sich diese Edition im Untertitel Untendurch, weil sie diverse Schranken unterläuft.
Und was bietet Tartin? Schmankerl!
(…)
Wer kennt den Bankbeamten Sergio Solmi? Niemand. Dem Dichter Hans Raimund ist für seine Übersetzung aus dem Italienischen und für sein aufklärendes Nachwort zu danken. Wir erfahren, dass dieser Solmi (1899–1981) Antifaschist und Widerstandskämpfer war, drei schmale Lyrikbände, an Leopardi, Valéry und Montale orientiert, herausgebracht hat, besser bekannt war als Essayist, der über französische Philosophen und italienische Autoren schrieb und daneben noch eine „prosa d’arte“ schuf. Ein Gustostück der vorliegende Essay Betrachtungen über den Skorpion, für den Raimund 1991 den Wystan-Hugh-Auden-Übersetzerpreis erhielt. Worauf „ein großer deutscher Verlag“ den Text anforderte, nur um zu bescheinigen, dass ein Skorpion made in Italy in Deutschland „momentan leider überhaupt nicht gehe“, weil dort nur Spaghetti und Pizza ankämen, so die Marketingstrategen der Großverlage unisono mit McKinsey, dessen Chef eigentlich wie die Amish-People in Pennsylvania leben möchte. Womit wir wieder beim Markt und seinen Schranken angelangt sind. Fern von den Sehnsüchten. Die sind freilich nicht per Marktanalysen umzusetzen. Vielleicht per Bauchaufzug auf die Horizontlinie, Augen zu und Untendurch. Buttersemmel nicht vergessen, tartinieren Sie!
Es gibt sicher ungefähr 47 Bücher über das korrekte Strampeln auf dem Fahrrad und schätzungsweise 38 über die artgerechte Ernährung von Kleinkindern, doch von Sergio Solmi gab es bisher noch nichts. Wir mussten lange warten, bis ein kleiner, nahezu unbekannter Salzburger Verlag es wagte, uns mit dem bedeutenden italienischen Autor bekannt zu machen. Wir wissen nicht viel über diesen 1899 in Rieti geborenen und 1981 in Mailand gestorbenen Philosophen, Essayisten, Lyriker und Bankangestellten: Seine Betrachtungen über den Skorpion sprengen alle Gattungen. Sie sind Poem, Essay, Sternenkunde, Weltdeutung – und vor allem eins: großartig.
Iris Radisch, Die Zeit, 6.4.2005
Donatella Bisutti: La poesia italiana all’estero
Poesia, Nr. 193, April 2005
Stefano Carrai: „Sergio Solmi und die Flugpoesie“. Vom SIT am 16.10.2023, 17.30 Uhr, Pisa – Palazzo Boilleau
Einweihung des Sergio-Solmi-Saals im Tour de l’Archet von Morgex am 7.10.2016
David Axmann: Wider-Klang der Welt-Betrachtung
Wiener Zeitung, 3.4.2015
Hans Raimund im Interview mit Gerhard Winkler für die Literatur-Edition-Niederösterreich am 13.4.1999 in Hochstraß.
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