– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Abschied“ aus Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 2. –
RAINER MARIA RILKE
Abschied
Wie hab ich das gefühlt, was Abschied heißt.
Wie weiß ichs noch: ein dunkles unverwundnes
grausames Etwas, das ein Schönverbundnes
noch einmal zeigt und hinhält und zerreißt.
Wie war ich ohne Wehr, dem zuzuschauen,
das, da es mich, mich rufend, gehen ließ,
zurückblieb, so als wärens alle Frauen
als dies: und dennoch klein und weiß und nichts
Ein Winken, schon nicht mehr auf mich bezogen,
ein leise Weiterwinkendes –, schon kaum
erklärbar mehr: vielleicht ein Pflaumenbaum,
von dem ein Kuckuck hastig abgeflogen.
Vom Abschied, von dem Goethe tröstlich sagt, daß er im Hinblick auf das Wiedersehen ein Fest sei, ist nicht die Rede und die Abfolge von Trennung, Abwesenheit und Rückkehr, auf die Beethovens „Les Adieux“-Sonate vertraut, nicht die Perspektive. Rilke berücksichtigt weder die Vergangenheit noch die Zukunft und läßt jede Erklärung aus. Kein Wort über die Beziehung, die er aufgibt, und keines über den Grund der Abreise. Er erlebt den herzzerreißenden Augenblick als fulminante Ekstase.
Der Blick ins Innere ist ohne Tränenschleier. Aus dem trüben Urschmerz kristallisiert sich unter dem Druck der Situation das Ich-Gefühl klar heraus, und die Selbstbeleuchtung legt die Trauer bei, wie der Tag die Nacht aufhebt. Die zurückbleibende Person verfällt rapide. Eben ist sie noch als Bezugspunkt sichtbar und ist es schon nicht mehr. Sie geht in der Verallgemeinerung auf – „so als wärens alle Frauen“ – und entschwindet der Wahrnehmung schneller als dem Auge. Wir sehen tief in eine Natur hinein, in der das Du keinen Bestand hat.
Die Beobachtung, daß man einen Verlust überlebt, indem man auf sein eigenes Selbst zurückkehrt, „gewohnt, nur dasjenige schmerzlich zu empfinden, was wir persönlich für die Folge zu entbehren haben“, ergänzt Goethe in einem späten Brief durch den Hinweis, daß uns das andere Ich schließlich auch um seiner selbst willen hätte gegenwärtig bleiben können. Demnach brauchte die Trennung keinen Gewaltakt zu bedeuten, der das Schönverbundene zerreißt, sondern nur die Ausdehnung des Verhältnisses über die Entfernung hinweg und den Tod hinaus. Im Wilhelm Meister, in dem so viele Stufen des Abschieds durchlaufen werden, gibt Therese, die männlich-weibliche Figur des Romans, Auskunft darüber, wie versöhnlich man sich zu der Entsagung stellen kann. Sie zweifelt nicht an der Anwesenheit des abwesenden Freundes, obwohl es mit der zärtlichen Verbindung vorbei ist, und erklärt, die Welt werde erst dann zu einem bewohnten Garten, wenn man hier und da jemanden wisse, an den man sich halten könne – „mit dem wir auch stillschweigend Fortleben“.
So erscheint es auch Rilke nicht angemessen, daß uns der Abschied zum Sklaven des Leidens macht:
Sollen nicht endlich uns diese ältesten Schmerzen fruchtbarer werden?
Aber er schlägt nicht vor, daß wir uns mit dem Bewußtsein beruhigen, die wechselseitige Anteilnahme hebe die Trennung auf. Seine Vision zielt auf einen wuchtigen und zugleich schlanken Akt. Wir verlassen, was uns bindet, so unwiderruflich, „wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung mehr zu sein als er selbst“.
Zu dieser mannhaften Überwindung, für die sich die erste Duineser Elegie jedenfalls in Gedanken stark macht, ist das frühe Abschiedsgedicht nicht bereit. Es schöpft aus dem Schmerz keinen Schwung, sondern gibt sich der akuten Empfindung hin und akzeptiert die höhere Gewalt:
ein dunkles unverwundnes grausames Etwas.
Auch die Rückwendung, die später durch den Vergleich des mechanischen Absprungs unmöglich wird, ist hier noch erlaubt. Aber die geballte Egozentrik drängt bereits in die künftige Richtung. Der Blick zurück ist so kraftlos, daß er die Frau, die ihm zuwinkt und die er festhalten will, im Nu losläßt und ihre restliche Gebärde nur noch als Absurdität auffaßt:
vielleicht ein Pflaumenbaum,
von dem ein Kuckuck hastig abgeflogen.
Bereits vor der ersten Wegbiegung ist der Tod eingetreten, und der Schmerz wird mit sich selber selig.
Sibylle Wirsing, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierter Band, Insel Verlag, 1979
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