– Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Namen für den Verfolgten“ aus Johannes Bobrowski: Wetterzeichen. –
JOHANNES BOBROWSKI
Namen für den Verfolgten
Der hereinkommt,
im verhängten Fenster
spricht er die Namen nach,
die ich ihm gebe,
Vogelnamen und
den Namen des Raubaals.
gerwe sagt er
wie eine Kranichfeder die Luft
streicht,
angurys wie unter der Wasserfläche
ein Schatten sich naht
Zuletzt gebe ich ihm
den Namen Holunder, den
Namen des Unhörbaren, der
reif geworden ist
und steht voll Blut.
Auch ich bin in Sarmatien geboren, in dem legendären Reich im Osten, das bis zum Dnjepr hinabging und das der Dichter Bobrowski poetisch neu zu vermessen versuchte. Sarmatiens Geschichte stellt sich nicht zuletzt dar als eine Geschichte des Glaubens, und das heißt: als Fieberzeit zwischen Glaubensabfall und Glaubensannahme, als Auseinandersetzung zwischen alter heidnischer Überlieferung und neuem christlichem Weltgefühl, als lange Entscheidungsnot zwischen Perun, dem paganischen Gott im Holz, und dem neuen, sanften Messias. Immer wieder hat Bobrowski versucht, diesen Augenblick aus seiner Geschichtlichkeit herauszuheben und ihm durch poetische Zeichen dauerhaften Ausdruck zu geben: dem Augenblick des Schwankens zwischen verschiedenen Glaubensgewißheiten. Peruns Holzpfahl, des heidnischen Gottes Sinnbild, wird dem Wasser übergeben, doch außer Sichtweite erhebt er sich und kommt unter neuem Namen zurück: Elias.
Namensgebung – damit beginnt das Gedicht. Es ist ein ritueller Akt, ein Schutzakt, ein Hoffnungsakt. Namen zu verleihen; es heißt ja in der Kalevala, daß nichts existiert und geduldet wird, was keinen Namen trägt. Der, dem hier die Namen zugedacht, angepaßt werden, steht „im verhängten Fenster“, und das heißt wohl, vor dem Kreuz, dem Fensterkreuz, dem Kreuz der Botschaft und des Martyriums. Der Verfolgte spricht die Namen nach, die ihm angeboten werden, er prüft sie, er erwägt sie, Decknamen, verheißungsvolle Namen der Anpassung, die seine Identität verbergen könnten.
Ein herausforderndes, ein blasphemisches Angebot, das der Dichter dem Heilsbringer macht: Es läuft darauf aus, das eigene Schicksal zu korrigieren mit Hilfe eines Vogelnamens oder unter dem Namen des Raubaals. Geborgenheit im Heidnischen wird da in Aussicht gestellt, ein Ende der Verfolgung womöglich, wenn nur die Tarnung gelingt. Doch die angebotenen Namen besagen auch, daß verbale Tarnung allein auf die Dauer nicht genügen wird: gerwe und angurys, das sind pruzzische Wörter, die für Kranich, für Breitkopfaal stehen. Der Verfolgte kennt diese Wörter, er wiederholt sie und erläutert und bedenkt sie im Hinblick auf verheißene Möglichkeiten: leichter, herrscherlicher Kranichflug, in den Lüften zu Hause, frei und sanft über allem, oder eine Existenz in der bergenden Tiefe der Ströme, schattengleich und vielleicht selbst ein Verfolger. Er wiederholt die Namen und schweigt, und das heißt, er hat sie verworfen, vielleicht, weil er erkannt hat, daß er sich der Erde nicht entziehen darf, daß er seinem Schicksal nicht entkommen kann.
Offensichtlich kommt es zu keinem Einverständnis, es werden wohl weitere Namen anprobiert, und zuletzt bleibt nur das Wort übrig, das dem Verfolgten die Wahrheit über das Schicksal eröffnet, für das er ausersehen ist:
Holunder.
Es ist sein Schicksalsname. Unhörbar und doch überall wie der Schwarze Holunder, frei bei den Häusern, durch Hecken und Büsche schießend, zäh und schnellwachsend zugleich, wie es dem „Sambucus Nigra“ entspricht: so wird sich der Name des Verfolgten behaupten. Und wir werden ihn aufnehmen in uns mit dem Blut der schwarzen Beere.
Wie Hamann, so glaubte auch Johannes Bobrowski, daß Sinne und Leidenschaften sich vornehmlich in Bildern äußern und ebenso in Bildern verstehen. Wie er, der Magus des Nordens, traute aber auch Bobrowski dem poetischen Bild einen äußersten Erkenntniswert zu. Dies Gedicht ist ein Beispiel dafür.
Siegfried Lenz, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Erster Band, Insel Verlag, 1976
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