– Zu Jesse Thoors Gedicht „In einem Haus“ aus Jesse Thoor: Die Sonette und Lieder. –
JESSE THOOR
In einem Haus
In einem Haus, auf feinem Tannenreiser,
sitzen ein Bettelmann und ein Kaiser.
Beide summen und lachen und trinken
und reden laut und leise und winken,
Ein volles Jahr rollt über das Dach.
Ein volles Jahr rollt über das Dach.
Die Kunst dieses Gedichts besteht in seiner scheinbaren Kunstlosigkeit. Kein herausragendes Metrum, kein besonderer Reim, kein raffiniertes Enjambement, eine geradezu simple Wortwahl, und von den sechs Zeilen des Gedichts wird eine gar noch wiederholt. Und das am häufigsten vorkommende Wort ist die sicher nicht sehr kunstreiche Konjunktion „und“. Sollte sich in diesem Nicht-Stilisierten das Einfache, in dem Nicht-Raffinierten das Selbstverständliche, in diesem Nicht-Besonderen das Allgemeine darstellen?
„In einem Haus“: Das Haus ist nicht näher spezifiziert, also ist ganz allgemein die Behausung, das Heim, die Stätte zum Wohnen und Leben gemeint. Die Bewohner dieses Hauses sitzen nicht auf fabrizierten Stühlen oder in Sesseln, sondern auf einem Naturteppich: „auf feinem Tannenreiser“. Und das Tannenreiser, Verkörperung der Natur, des Echten, des Ursprünglichen, ist kein gewöhnliches, es ist „Feines“, und die Assonanz von „Fein“ und „Reiser“ deutet also auf einen angenehmen Ort und auch darauf, daß hier Natur nicht entfremdet, daß sie einbezogen ist in das Wohnen und Leben der Bewohner dieses Hauses.
„… sitzen ein Bettelmann und ein Kaiser“: Man wird es beim Lesen an dieser Stelle hier nicht wahrhaben wollen, noch nicht wahrhaben können, welche Dimension der Autor da aufreißt. Sie wird erst deutlich, wenn wir die folgenden beiden Zeilen und das abschließende, sich wiederholende Zeilenpaar lesen. Was machen die Sitzenden? Hier wird die Wiederholung der so kunstlosen Konjunktion „und“ zum triumphalen Kunstsinn: und-und-und! Dieses „und“ meint die Verbindung, meint das Gemeinsame, meint Verständigung, meint Ich und Wir (meint Individuum und Gesellschaft). Hier wird deutlich daß die beiden Kontrahenten der Weltgeschichte, Herr und Knecht, ihre Revolution hinter sich haben. Sie kämpfen nicht mehr, sie brauchen nicht mehr zu kämpfen. Oben und unten ist ausgelöscht, gut und bös, reich und arm sind keine Gegensätze mehr. Das Große blieb groß nicht und klein nicht das Kleine. Kaiser und Bettelmann haben sich angenommen, haben sich versöhnt. Sie haben eine Einheit erreicht. Kein Streit der Ideologien, der Theorien mehr. Die Beiden „summen“ und „lachen“ und „ trinken“ und „reden“. Und sie „winken“. Wem? Sich, uns.
Und dann die enigmatische, durch Wiederholung das Enigmatische geradezu beschwörende Zeile:
Ein volles Jahr rollt über das Dach
Wieder die Kunst der Assonanz. Ein volles Jahr rollt. Das Volle, das Runde, der Kreis. Im Weisheitsbuch der alten Chinesen, im I Ging, bedeutet das Zeichen des Kreises den Urzustand vor dem Entstehen der Dinge und auch das immer wieder zu Erreichende, das Tao, den Sinn. Und es rollt, es ist in Bewegung, es fließt. „Jahr“ und „Dach“, wieder assonant verbunden, sind Zeit und Raum. Ein „volles Jahr“ – also die Leistungen, die Ernte, der Ertrag, dies alles steht den beiden zur Verfügung. Sie sind sich ihrer sicher, sie sind sich ihrer selbst inne: nichts anderes ist Glück. Sie haben den anderen angenommen, sie sind frei: nichts anderes ist Friede.
Wer ist der Autor dieses Gedichts? Jesse Thoor wurde als Peter Karl Höfler 1905 in einem Berliner Arbeiterbezirk geboren. Der junge Höfler traf mit anarchokommunistischen Schriftstellern zusammen, mit Plivier, Mühsam und Ringelnatz. Er suchte, er glaubte; er trat der kommunistischen Partei bei; 1933 mußte er fliehen, nach Österreich, nach Wien. Als die Nazis kamen, floh er nach Brünn, wo er „eine Zeit schweren Konflikts zwischen Heimweh und Gesinnung“ erlebte. Der Prosa- und Gedichteschreiber war für die Parteigenossen bald ein „unsicheres Element“. Mit einem Stipendium kam er nach London. Im Oktober 1939 veröffentlichte Thomas Mann sechs seiner Gedichte in der Zeitschrift Maß und Wert.
Sonst aber wurde das Exil immer bedrückender. Alfred Marnau hat die Lebensumstände des immer gläubiger und mystischer, kränker und verwirrter werdenden Jesse Thoor, wie er sich nun nannte, überliefert. Michael Hamburger berichtete, wie die Sekretärin von T.S. Eliot, ihn, der Eliot sprechen wollte, als Verrückten abwies. Ein Mystiker ist für seine Umwelt ein Narr. 1952 reiste er todkrank nach Österreich, am 15. August starb er in einer Klinik in Lienz. Die Literaturgeschichten verzeichnen seinen Namen nicht. Das Gedicht „In einem Haus“ zählt zu Thoors letzten „Lieder und Rufe“ der Jahre 1949–1952.
Siegfried Unseld, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Insel Verlag, 1977
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