WAS NOCH BLÜHT
orte sind umgezogen, die ersten gestorben.
der baum am teich hat mich schon überstanden.
ich hatte immer angst, zu ertrinken,
die see war jahre entfernt.
ich bin dem boden unter die füße gekommen.
mein gesicht hat sich entfaltet,
kaum gibt es fotos davon.
langsam kehren die bilder der spiegel um.
alles hatte sich schon ereignet
als das zimmer die augen öffnete,
fenster aus dem wind kippten.
ich zieh keine grenze
zwischen mir und dem schatten meer.
was noch blüht, ist schon gepflanzt,
der teich auf den grund gesunken. niemand
drängt mich, durch ihn zu gehen.
Andreas Altmann
Vor genau 30 Jahren hatte ich in Rotterdam zum ersten Mal mit einem internationalen Lyrikfestival zu tun. Internationale Kontakte hatte es für mich früher schon gegeben. Im Laufe der Jahre hatte ich auch manche Veranstaltungen mit vielen ausländischen Teilnehmern mitgemacht, in den Niederlanden und in West-Deutschland. Aber selber etwas mit 23 Lyrikern aus 14 Ländern, damals eigentlich aus verschiedenen Welten, zu veranstalten war für mich eine neue Erfahrung, der ich nicht ohne Zittern und Zagen entgegen gesehen habe. Ich bin kein geborener Veranstalter, und ohne Improvisation gelingt es mir immer noch nicht. Dennoch habe ich im Laufe der Jahre 27 Poetry Internationals überlebt, vielleicht um vor allem feststellen zu können, daß es die Dichter und die Besucher waren, die das Festival aufgebaut und immer mehr Projekte und Programme hinzugefügt und neue Initiativen ergriffen haben. Wie zum Beispiel Poetry in the Park, das jetzt unter dem Namen Dunya Festival an einem einzigen Wochenende mehr als 200.000 Besucher zählt. So hat es damals nicht angefangen, obwohl das in einer Stadt mit mehr als 120 Minderheiten eigentlich selbstverständlich sein sollte. Übrigens hat Rotterdam noch immer keinen großen literarischen Ruf.
Dichter aller Schulen und Richtungen waren bei diesem Festival vertreten, aber in Rotterdam ging es in erster Linie um das dichterische Wort. Meistens waren die Teilnehmer nach Nationalität, Herkunft, Religion oder anderen Überzeugungen und Hintergründen nicht einzuordnen; von Ideologien war schon überhaupt keine Rede. Viele Lyriker hatten sich ja in ihrem Leben schon sehr viel Mühe geben müssen, ihre Werke und nicht zuletzt sich selbst gegen Dogmen, Lehrsätze oder fundamentalistische Restriktionen zu schützen. Stets ging es um ihre eigene Poesie, ihre eigene Stimme, wie sehr sie sich auch von anderen unterscheiden mochten. Deshalb nannte Poetry International sich auch vom ersten Jahr an das Festival der menschlichen Stimme. Jeder kam zu Wort, alles war zu hören und zu lesen.
Naturlyrik und Großstadtgedichte; sozial engagierte und mystische; visionäre und mehr wissenschaftlich orientierte; lautsprachliche und konkrete; politisch argumentierende und humoristische. Auch an Liebesgedichten hat es nie gefehlt. Eine vollständige Aufzählung wäre endlos. Brecht hat einmal gesagt, daß die Wahrheit auf vielerlei Weise verschwiegen, aber auf genauso viele Weisen gesagt werden könne; und um Letzteres ging es uns in Rotterdam.
„In jedem Menschen ist ein Dichter verborgen“, hat der südafrikanische Dichter Breyten Breytenbach gesagt. Das hat dazu geführt, daß das Rotterdamer Festival immer eine Angelegenheit der Dichter und der Besucher war. Es hat auch dazu beigetragen, daß es ein Vorbild für andere Festivals in anderen Ländern und Erdteilen wurde. So hatte ich im Laufe der Jahre mit neuen Initiativen in Mexico, Indonesien, Israel, Südafrika und auch in Kolumbien zu tun. Mittlerweile gibt es sogar in China Interesse, obwohl noch nicht feststeht, wie es sich dort entwickeln wird.
Allmählich gab es auch in anderen Städten in den Niederlanden, in Belgien und in Deutschland eine wachsende Aufmerksamkeit. Poets on the Road wurde zum Begriff. Warum könnte man nicht zusammenarbeiten, warum könnte man sich nicht gegenseitig über die eigenen Programme informieren? Warum sollten nicht die jeweils eingeladenen Lyriker auch in den anderen Städten lesen? Auf diese Weise könnten Kosten geteilt werden, könnten Teilnehmer aus fernen Ländern ihren Aufenthalt in Europa besser nutzen. Verschiedene Festivals haben inzwischen Interesse gezeigt, so auch die DRESDNER LYRIKTAGE, die vom Dresdner Literaturbüro ausgerichtet werden. Zusammen mit Dichters in ’t Elzenueld in Antwerpen und dem Literaturforum in Bremen gehört man zu dort den ersten Netzwerkpartnern. Durch enge Zusammenarbeit kann mehr angeboten werden, Und Poets on the Road hat jetzt auch einen eigenen Verband: Poets of All Nations (PAN), der koordinierend, aber nicht reglementierend gedacht ist. Jedes Festival trifft auch weiterhin eigene Entscheidungen und bleibt selbstverantwortlich: ein Prinzip, das für alle gilt. Es sind die Lyriker und die Besucher, die das Festival bestimmen; sie können immer wieder eigene Ideen, Vorschläge und Initiativen beitragen. Leben ohne Poesie ist nicht möglich. Sie ist so alt wie die Menschheit, und es kann sein, daß sie jetzt notwendiger ist als je zuvor. Ich wünsche den Besuchern und Teilnehmern viel Erfolg und viel Spaß dazu und bin sehr gespannt, wie die Dresdner Lyriktage sich künftig entwickeln werden, Hoffentlich darf ich noch einige Zeit dabeisein.
Martin Mooij, Vorwort
Anlässe für Rückblicke und Resümees lassen sich immer finden, um Jahrhundertwenden scheinen sie unvermeidlich. Wenn insbesondere von Literatur, sei es aus ihr immanenten Gründen oder einem Alibiverlangen ob der seltsam plötzlichen Gedächtnisverluste ganzer Berufsstände nach den selbstverschuldeten Katastrophen, Erinnerungsvermögen eingefordert wird, dann sollte recht und billig sein, dort, wo ihr jeweiliger Verhandlungsort ist, innezuhalten und ein wenig an Besinnung zu verwenden, nämlich ungefähr dergestalt: welche Bedingungen nicht für das Entstehen literarischer Texte, vielmehr für deren Wirkmöglichkeiten vorhanden waren.
1905, kaum jenseits der Schwelle zum eben verstrichenen Säkulum, erschienen postum des Historikers Jacob BURCKHARDT (1818–97) berühmt gewordene Weltgeschichtliche[n] Betrachtungen, in welchen sich als empirische Zusammenfassung folgender Satz findet:
Wenn wir nun die Kultur des 19. Jahrhunderts als Weltkultur betrachten, so finden wir sie im Besitz der Traditionen aller Zeiten, Völker und Kulturen, und die Literatur unserer Zeit ist eine Weltliteratur. (fette Hervorh. v. m.)
Und wahrhaftig ein Jahrhundert der (Welt-) Literatur hätte das 20. durchaus auch, falls nicht sogar in exponierter Weise werden können: Denn es wurde nicht nur ein Zeitalter narrativer Entfaltungen und Innovationen des Romans oder experimenteller Vielgestaltigkeit der Dramatik, sondern zu all dem hinzu eines der wohl reichsten an Versuchen (und sicherlich Versuchungen) lyrischer Formen. Neben den tradierten „strengen“ Versmaßen behaupten sich zunehmend freirhythmische Gedichte; die Lautkompositionen des DADA verweisen fast ausschließlich auf die freilich stets mitvorhandene Seite des Musikalischen und vielleicht auch auf Klangmuster vorsprachlicher Kommunikation; die verschiedenen Objekte der visuellen Poesie öffnen sich weit hin zum grafischen Ausdruck der Bildenden Kunst; der Surrealismus betont die Collagentechnik oder die Automatismen des Schreibens (etwa im Sinne des „brainstorming“); während zuletzt Hiphop-Lyrics und Slam Poetry außer einer gar nicht erst verhohlenen Benutzung der auf ein bestimmtes Publikum hinwirkenden Stilmittel neuerer Zweige weltweit verbreiteter „Unterhaltungsmaschinerie“ wieder an eine ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Lyrik anknüpfen, also des Liedhaften.
Allen Anstrengungen, von denen hier nur einige markante herauszuheben waren, gemeinsam ist, daß mit den gelungensten „Gebilden“ ein Gewinn an poetologischen Modellen und vor allem Wahrnehmungsweisen erkennbar wird.
BURCKHARDT, um nochmals zurückzukehren, wäre wohl weder der beargwöhnte „Kulturpessimist“ noch der analytische und für das Heraufkommende so hellsichtige Geist gewesen, hätte er nicht den, wider die höchst angenehm sich darbietende Tatsache der Literatur als Weltliteratur löckenden Stachel gespürt:
Am unglücklichsten befindet sich in dieser Zeit Kunst und Poesie selber, innerlich ohne Stätte in dieser rastlosen Welt, in dieser häßlichen Umgebung… (Hervorh. v. m.).
Doch niemand, selbst keiner aus diesem kleinen Kreis der profunden Ahner, vermochte voraus zu wissen, welches Ausmaß an Schrecklichem die Zukunft tatsächlich bereithielt.
Denn gleichgültig von welcher Warte oder unter welchen Perspektiven wir alle das eben vergangene Jahrhundert zu betrachten und damit zu verstehen suchen, alles scheint angesichts der ungeheuren Last seiner Geschichte hinter dieser zurücktreten zu müssen. In deren Zentrum, zumindest für die abendländische Kultur, steht nicht etwa das Werk eines W.C. WILLIAMS, eines UNGAREITI, einer ACHMATOWA oder eines TRAKL, um stellvertretend für so viele ausgezeichnete Dichter nur einige zu nennen, sondern die, Verstand und Verstehen des einzelnen weit überfordernde Bestialität des industrialisierten Völkermords von Auschwitz. (Und gleichsam als „Klammer“ von Beginn und Ausgang umschließen dieses vielleicht die Schlacht vor Verdun und die grausame Volksvertreibung im Kosovo oder überhaupt als zweites tragisches Symbol, gelegen in einem europäischen Landstrich, der noch bis vor 1914 für eine Musterenklave des friedlichen Miteinander der Kulturen und Religionen gegolten hatte: die Ereignisse im zweiten und im letzten Jahrzehnt innerhalb der Stadt Sarajevo.)
Daß ein bedeutender Philosoph (wenn nicht unter den vorherrschenden Zwängen zur Spezialisierung sogar Universalgelehrter), dessen Hauptwerk eine „Ästhetische Theorie“ hatte werden sollen, die Meinung vertrat, nach Auschwitz sei das Verfassen von Gedichten schlichtweg unmöglich und dies erst nach erbitterter Intervention eines noch jungen Dichters einschränkend aufs Sujet hin korrigierte, bezeugt die unausweichliche Nachhaltigkeit jener abscheulichsten Niederung der menschlichen Historie, welche terminologisch mit einer „häßlichen Umgebung“ selbstredend nicht mehr zu fassen ist. Was wunder, wenn das Entsetzen darüber zeitweise notwendig die großen Leistungen der Menschheit, und nicht zuletzt die der Literatur, überlagerte, ja verdeckte. Vermerkt sei hier nur, daß während der nationalsozialistischen Herrschaft die deutsche Literatur fast ein Jahrzehnt lediglich in der Emigration existierte und in ihrer angestammten Sprachheimat nicht zu wirken vermochte. Nicht zu Vergessen, daß als ein Ergebnis des verheerenden 2. Weltkriegs die Machtsphäre der Sowjetunion über größere Teile des Balkans bis hinein in die Mitte Europas reichte und einher mit der politischen Vereinnahmung von Kunst und Literatur das, allerdings immer wieder unterlaufene und schließlich sich selbst aufhebende Kulturdogma des sogenannten „sozialistischen“ Realismus ging. Ohnehin kaum daran gehalten haben dürften sich die großen Dichter aus dem „Ostblock“ von PASTERNAK über SEIFERT bis zu SZYMBORSKA, wie beispielsweise die Vergabe des Nobelpreises seit der Jahrhundertmitte eindrucksvoll belegen hilft.
Des weiteren werden wir uns heute (eingedenk dessen, daß Nachgeborene stets ein bißchen besser wissen, ohne aber immer die rechten Lehren daraus abzuleiten) eher skeptisch gegenüber Bemerkungen wie solchen, wir seien „im Besitz der Tradition aller Zeiten, Völker und Kulturen…“, (Hervorheb. v. m.), geben, womit selbstverständlich dem rationellen Kern dieser Feststellung BURCKHARDTS nicht widersprochen werden kann. Und wenn wir dazu Welt-literatur einmal als Ist-Zustand vor dem Hintergrund einer Welt-Karte sehr wirklichkeitsgerade anschauen, dann werden wir einerseits rasch unserer „blinden Flecke“ bezüglich bestimmter Literaturen (oft ganzer Kulturen) gewahr und zum anderen unseres Scheiterns allein an Vermittlungsgrenzen in Anbetracht des hohen Analphabetismus.
Gegenwärtig allerdings erhitzen sich die Debatten eher daran, warum so viel Auswanderung in die Gebiete des Sachbuchs geschieht und vor allem inwiefern multimediale Technik womöglich die herkömmliche Verbreitungsart, falls nicht die Dichtung selber, so doch alte Lesegewohnheiten bedrohe, gerade als ob REINES entsagungsvoll-fröhliche Prophezeiung vom Ende der Literatur mit nichts weiter denn Monitoren und Festplatten, Tele-Kommunikation und digitaler Vernetzung bereits ihrer Erfüllung harre.
Zunächst sollte man für die Gewichtung dieses Gegenstandes zumindest kalkulieren: So wenig wie jemand, entgegen mancher Behauptungen des amerikanischen Behaviorismus oder der ins Soziale übertragenen PAWLOWschen Konditionierungen, alle Menschen etwa zu Mathematikern machen oder über ihre täglichen Haushaltsrechnungen hinaus zu einem tieferen mathematischen Interesse verführen kann, so wenig wird man alle mit Dichtung erreichen oder immerhin dafür geneigt stimmen. Daß es durchaus schon ein paar mehr sein dürften, ist ein vollkommen verständlicher, jedoch ohne weitere Vorkehrungen doch irgendwie „frommer Wunsch“ der Urheber von Gedichten und der Vertreter von gewissermaßen sekundär damit befaßten Zünften. Überdies bedeutet das mitnichten, von jeglichen Unternehmungen in dieser Richtung abzustehen (ganz abgesehen davon, daß die in schöner Regelmäßigkeit unterstellten „Massen“fluchten vor der Literatur weder die lyrische Produktivität behindert noch gar zum Erliegen gebracht hätten).
Und somit erscheinen seit HERDERS frühem Ansatz bis heute in kaum voraussagbaren Abständen und trotzdem hartnäckiger Kontinuität solche unabkömmlichen, weil außerordentlichen belletristischen Erkundungen wie diejenige mit dem gleichsam die Absicht der Initiative Poets on the Road kaum besser beschreibenden Titel: Atlas der neuen Poesie.
Martin MOOIJ, Begründer und langjähriger Leiter eines der größten internationalen Lyrikfestivals Poetry International in Rotterdam, und Joachim SARTORIUS, Autor und Generalsekretär des GOETHE-Instituts, haben zusammen die Stiftung Poets of all Nations (PAN) ins Leben gerufen, deren Aufgabe es unter anderem ist, ein Netzwerk europäischer Lyrikfestivals zu schaffen, und d.i. Poets on the Road. Der grundlegende Gedanke, mit dem Festivalcharakter auch Publikum jenseits des kleinen Zirkels von Lyrikenthusiasten anzusprechen und außerdem ein Begegnungsfeld der verschiedenen Literaturen zu etablieren, zeitigt, vom auf der Hand liegenden ökonomischen Vorteil der Kostenminderung für alle Mitveranstalter nicht erst zu reden, gleichsam „nebenher“ noch Wirkungen dergestalt, daß sich die Festivals am jeweiligen Ort auf Dauer als unumgängliches kulturelles Ereignis herausstellen oder etwa auch politisch verfolgten Autoren, insonderheit aus der sogenannten Dritten Welt, ein wenig Unterstützung nicht zu unterschätzender materieller Art und hinsichtlich einer wachsenden, oft sogar für ihr Überleben wichtigen, internationalen Aufmerksamkeit zuteil werden kann.
So denn, laut einem modernen „Sokratiker“ und Bühnenschriftsteller, „Sein… Unterwegssein [heißt]“ und die Poesie unseren Seinszustand seit Jahrtausenden als dessen wesenseigensten Ausdruck begleitet, liegt es nahe, daß die der Dichtkunst von jeher angestammte geistige Beweglichkeit um die KEROUECscher Provenienz bezüglich der Dichter selber zu vermehren.
Literatur (auch oder gerade) als Weltliteratur bedarf aus mehrfachen Rücksichten heute der „Zuwendung“ und der Beachtung, last not least wegen jenes allgegenwärtigen Drucks der Quoten„kultur“, die zuletzt genau das ausspart, was Presse und TV-Journale tagtäglich und oft aus nichts anderem als Quotengründen beschreien: die Vielfalt.
Nicht wenige Schriftsteller verbanden im vorigen Jahrhundert mit dem Terminus der „Amerikanisierung“ eine Besorgnis, nämlich die, buchstäblich alles den Gesetzen des Marktes preiszugeben, und mitnichten eine völlig unberechtigte, da sich nunmehr selbst im so sehr seiner humanistischen Bildung gewissen alten Europa Entwicklungen konstatieren lassen, welche ehedem lediglich für die überseeische „Neue Welt“ Geltung beanspruchten. Um in diesem Zusammenhang letztmalig eine Einschätzung BURCKHARDTS zu zitieren:
Freilich eine große Quote sind die amerikanischen Kulturmenschen, welche auf das Geschichtliche, d.h. auf die geistige Kontinuität großenteils verzichtet haben und Kunst und Poesie nur noch als Formen des Luxus mitgenießen möchten. (Hervorh. v. m.)
Trotzdem oder sogar deshalb haben Unternehmungen wie Poets on the Road die große Chance, dem zu widerstehen, sofern das Unterwegssein der Dichtenden bereit ist, dem der Zuhörer (Leser) durch Entdeckungen der Sprache verborgene Seiten der menschlichen Existenz aufzuzeigen.
Und Dresden möchte auch künftig Station an der europäischen Route der „fahrenden Poeten“ bleiben, zumal das im Kontext mit der Verleihung des Dresdner Lyrikpreises eine außerordentliche Zäsur im Kulturleben dieser Stadt setzt und gleichwohl berufen sein könnte, „Geschichte zu machen“ in einem neuen Jahrhundert unserer Zeitrechnung, welche ja zurückgeht auf die Geburt desjenigen, der laut Überlieferung in die Welt gekommen war, um u.a. das Faustrecht der Altvorderen aufzuheben im friedvollen Miteinander kraft der Gewalt des Wortes. Statt dessen ließ zwei Jahrtausende lang der Mensch stets neuerlich die Waffen „sprechen“, vielfach dazu verführt von den Sätzen der Demagogen aller Couleur, während vielleicht die Dichtkunst jene originäre Unschuld der Verbindung von Wort und Gewalt bis heute gerettet hat und Stimme geblieben ist gegen die Sprachlosigkeit.
Bertram Kronenberger, Vorwort
Dresden könnte neben den immer aufs neue bemühten kulturellen Traditionen als Stadt der Bildenden Kunst, der Musik, des Theaters und der Museen auch auf eine literarische zurückgreifen. Daß dies nicht oder nur selten geschieht, mag unter vielen, allerdings dann sehr im Vagen aufzufindenden Tatsachen an den folgenden liegen: – erstens scheint dieser Ort durchaus der einer Hervorbringung von Talenten zu sein, was sogleich die Einschränkung erfährt, daß solches für die Geburtsstätte, die Kindheit und Jugend oder mit anderen Worten – die frühe Reifezeit zutrifft, nicht jedoch für das, welches gern als Wirkungsstätte oder zumindest als zentraler Punkt einer lebenslangen periodischen Rückkehr bezeichnet wird; – zweitens handelt es sich, was die bekannten „neueren“ Namen (wie etwa BRAUN, MICKEL, TRAGELEHN, KIRSTEN, CZECHOWSKI, DRAWERT, GRÜNBEIN, LEHNERT) angeht, nachgerade fast ausschließlich um Lyriker im „Hauptfach“ und damit um die Literaturspezies, die in der Öffentlichkeit ein bloß noch elend zu nennendes Schattendasein führt. Und obwohl inzwischen zwei davon den renommiertesten deutschen Literaturpreis, nämlich den nach GEORG BÜCHNER benannten, verliehen bekamen, hat das im kulturellen Leben dieser Stadt kaum eine dauerhafte Wirkung hervorgerufen. Warum es im übrigen keinen hier gehalten hat, wird wohl eine unbeantwortete Frage bleiben, zumal das mitunter herbeigezogene Argument der Nähe des Wohnsitzes zu großen Verlagshäusern längst nicht mehr stimmt. Somit spielt Dresden zwar als Ausgang und dann, freilich bei einem mehr – beim anderen weniger, als thematischer Bezug in den Texten eine Rolle, kaum bislang hingegen als ein der Literatur insgesamt förderliches Gemeinwesen.
Allerdings sind in den letzten Jahren Anstrengungen zu vermerken, der Literatur im etablierten Kulturbetrieb (der da und dort mit großem Aufwand weiterhin dem Charme der Unberührbarkeit und Starre eines Mausoleums erliegt, beispielsweise sobald es sich um „bestimmte“ Museumsprojekte oder Operninszenierungen handelt) die notwendige Beachtung zu gewähren. An vorderste Stelle gehört hierbei inzwischen der Dresdner Lyrikpreis, dessen Besonderheit weniger darin liegt, daß dieser für das gesamte deutschsprachige Gebiet Europas und die Tschechische Republik ausgeschrieben ist. Vielmehr von Belang, falls man nicht von Wagemut angesichts dieser Einlassung sprechen möchte, dürfte sein, daß die Verfasser der eingereichten Texte bis zum Lesewettbewerb, in dessen unmittelbarem Anschluß die Hauptjury den Preisträger bestimmt, anonym bleiben. Die tschechischen und deutschen Vorjuroren treffen also eine Vorauswahl von bis zu je fünf Preiskandidaten allein anhand der literarischen Qualität der lediglich mit Kennworten versehenen Gedichte, was eine „risikofreie“ Orientierung an bekannten Namen weitgehend ausschließt und zugleich die Möglichkeit schafft, angelegentlich eine von der Öffentlichkeit noch nicht wahrgenommene Begabung vorzustellen. Daß solches mit geringfügigen Einschränkungen bereits gelungen ist, zeigen die Verleihungen 1996 an den Leipziger Thomas KUNST und 1998 an Petr HRUŠKA aus Ostrava, der den Lyrikpreis gemeinsam mit dem Dresdner Christian LEHNERT zugesprochen bekam.
Damit könnte bereits eine Tradition begründet sein, sofern auch künftighin die politische Willensbildung hinsichtlich der Unterstützung solcher Projekte nicht ausbleibt.
Freilich Vorbehalte und Einwände gegen Literaturpreise, wenn nicht Literaturförderung schlechthin, scheinen – insonderheit während finanzieller Krisen – kaum zu verstummen.
Geschuldet ist das einer höchst bedenklichen Entwicklung, welche noch den cartesianischen Vernunftsbegriff auf den der Zweckrationalität reduzierte, in dessen Gefolge das Maß aller Dinge in ihrer Berechenbarkeit mittels des universellen Äquivalentes oder Tauschwertes, sprich: des Geldes besteht. Dadurch sind auch die Kunst-Produkte zur Warenform verkommen, nicht Qualität allein zählt mehr, sondern, wo es sich um Unikate handelt, ein irrationaler „Marktwert“ oder, wie zunehmend bei Büchern, die Quantität, d.h. der möglichst massenhafte Verkauf. Daß der Geist dennoch seine Ansprüche behaupten konnte, ist einerseits vielleicht dem tiefen abendländischen Credo an denselben zu verdanken und andererseits einer Minderheit von Bedürftigen. Falls man Erhebungen und Umfragen der Meinungsforschung aus dem letzten Jahrzehnt bezüglich deren Repräsentativität trauen darf, erscheint die Beschäftigung und Auseinandersetzung insbesondere mit der Literatur für die sogenannten gesellschaftlichen Eliten entbehrlich. Anführungen wie fortdauernde Spezialisierung, lebenslange Qualifikation und damit eingeschränkte private Verfügbarkeit des Zeitbudgets sind nur äußere Merkmale, Oberfläche, Erscheinung oder – schlichtweg: Ausreden, nicht jedoch das Wesen. Leistungsdruck und Konkurrenz verlangen nach unmittelbaren Erfolgen, direktem Nutzen, Sachverhalten also, die an Literatur weder ersichtlich noch von dieser einlösbar sind. Wenn diese mithin bloß als etwas Unnützes, Überflüssiges, bestenfalls „Unterhaltendes“ wahrgenommen wird, dann zeigt sich das Abtriften des Menschen in „Selbstvergessenheit“ und seine Existenz als Verlorensein an die Dingwelt in Reingestalt. Und vorzugsweise Gedichte, um zum Ausgangspunkt zurückzufinden, werden offensichtlich kaum noch gelesen, sieht man von der „Zwangslektüre“ der Schulstoffe und beruflich damit befaßter Personenkreise einmal ab, um so mehr allerdings werden verfaßt (wofür allein über 800 Bewerbungen zum diesjährigen Dresdner Lyrikpreis beredtes Zeugnis sind), ohne daß in so manchen Fällen über die Willkür der Zeilenbrüche hinaus die „Texturen“ als Gedichte erkennbar wären. Woraus sich schließen läßt, daß dem eine äußerst mangelhafte bis überhaupt keine Beschäftigung mit dem, was Lyrik bedeutet und leisten kann, vorausliegt, gänzlich zu schweigen von wenigstens punktueller Kenntnis des Vermächtnisses der Literarhistorie. Im übrigen deckt das ziemlich schonungslos eine Seite des im Argen liegenden Umgangs mit Sprache innerhalb der Nation auf, welche sich noch heute in dem längst zur Floskel entleerten Wort vom „Volk der Dichter und Denker“ gefällt, nämlich der ihrer Lese-Kultur. Ob die Urenkel GUTENBERGS damit schon konvertiert sind zu GATEs-Jüngern, die sich zudem lediglich mit den „Vorgaben“ der virtuellen Bilderwelten des Cyberspace begnügen und so dem Imaginationsvermögen der „Maschine“ stärker vertrauen als ihrem eigenen, muß noch dahinstehen, wiewohl die Grabredner des Buches nicht nachlassen, das hochintegrative Element der elektronischen Medien zu betonen, wonach auch die herkömmliche Distribution von Literatur verändert werde. Spekulationen, die darauf hinauslaufen, ob demnächst „Gedichtbände“ aus dem Internet bezogen werden oder gar Laien bzw. Dilettanten in den dichterischen Arbeitsprozeß nach Gutdünken eingreifen könnten, sollten die Beteiligten aus mannigfachen Gründen mit Gelassenheit begegnen, vor allem aber weil sowohl der Zugang zu Literatur etwa während restriktiver Epochen eben nicht nur vermittels der Buchform bestand als auch der Tatsache, daß zum „Mitwirken“ des Publikums am Fortgang eines Textes bereits BALZAC aufgerufen hatte. Oder anders ausgedrückt: Vieles was sich auf den ersten Anblick so ungeheuer neu ausnimmt, bringt bei näherer Betrachtung doch eher einen „alten Hut“ zutage, was kein Versehen der von den neuen Medien Verunsicherten ist, statt dessen dem zu großen Teilen geschichtslosen Lebensbild des gegenwärtigen Menschen entspringt.
In diesen, hier nur angerissenen Zusammenhängen wird sich vielleicht in Zukunft neben der zweifellos unabkömmlichen Förderung der Lyrik und selbstverständlich der Lyriker als ein noch größeres Verdienst von Preisveranstaltungen die im öffentlichen Leben wachgehaltene Aufmerksamkeit für diese dort gemeinhin vernachlässigte literarische Gattung erweisen. Dresden jedenfalls hat damit schon 1996 begonnen, und das nicht nur mit „schönen Worten“…
Bertram Kronenberger, Vorwort
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