– Zu Gertrud Kolmars Gedicht „Verwandlungen“ aus Gertrud Kolmar: Gedichte. –
GERTRUD KOLMAR
Verwandlungen
Ich will die Nacht um mich ziehn als ein warmes Tuch
Mit ihrem weißen Stern, mit ihrem grauen Fluch,
Mit ihrem wehenden Zipfel, der die Tagkrähen scheucht,
Mit ihren Nebelfransen, von einsamen Teichen feucht.
Ich hing im Gebälke starr als eine Fledermaus,
Ich lasse mich fallen in Luft und fahre nun aus.
Mann, ich träumte dein Blut, ich beiße dich wund,
Kralle mich in dein Haar und sauge an deinem Mund.
Über den stumpfen Türmen sind Himmelswipfel schwarz.
Aus ihren kahlen Stämmen sickert gläsernes Harz
Zu unsichtbaren Kelchen wie Oportowein,
In meinen braunen Augen bleibt der Widerschein.
Mit meinen goldbraunen Augen will ich fangen gehn,
Fangen den Fisch in Gräben, die zwischen Häusern stehn,
Fangen den Fisch der Meere: und Meer ist ein weiter Platz
Mit zerknickten Masten, versunkenem Silberschatz.
Die schweren Schiffsglocken läuten aus dem Algenwald.
Unter den Schiffsfiguren starrt eine Kindergestalt,
In Händen die Limone und an der Stirn ein Licht.
Zwischen uns fahren die Wasser; ich behalte dich nicht.
Hinter erfrorener Scheibe glühn Lampen bunt und heiß,
Tauchen blanke Löffel in Schalen, buntes Eis;
Ich locke mit roten Früchten, draus meine Lippen gemacht,
Und bin eine kleine Speise in einem Becher von Nacht.
Der Dichter habe die Aufgabe, „Hüter der Verwandlungen“ zu sein, sagte Elias Canetti 1976 in seiner Rede „Der Beruf des Dichters“, und zwar im zweifachen Sinne: einerseits, indem er versuche, seinen Mitmenschen ein so hohes Maß an Empathie entgegenzubringen, daß er imstande sei, „zu jedem zu werden, auch zum Kleinsten, zum Naivsten, zum Ohnmächtigsten“, andererseits, indem er sich das literarische Erbe der Menschheit zu eigen mache – Ovids Metamorphosen etwa.
So betrachtet war Gertrud Kolmar, die im Jahr 1917 mit dem Band Gedichte debütierte und deren letzter Gedichtband Die Frau und die Tiere 1938 von den Nationalsozialisten eingestampft wurde, eine beispielhafte Schriftstellerin. Kaum eine Dichterin verwandelte sich lustvoller, gewagter und gelungener als sie. Für ihr Werk sind Festschreibungen wie „Ich bin der Ostwind“, „Ich bin die Kröte“, „Ich bin der Aal“ grundlegend. Gertrud Kolmars lyrisches „Ich“ verkörpert sich als „Fahrende“, „Jüdin“, „Landstreicherin“, der „Alternde“ oder „Tänzerin“; es fühlt sich in die unterschiedlichsten Rollen, kosmischen Zustände oder Tiere ein, um aus ihnen heraus in prunkvoller, meist gereimter Sprache und in stechend scharfem Ton zu sprechen.
Das Gedicht „Verwandlungen“ findet sich unter den „Weiblichen Bildnissen“, es schildert keine bestimmte Verwandlung, sondern zählt auf, was möglich gemacht wird durch „Verwandlungen“ an sich. Man kann es auch als Schlüsseltext über Kolmars ureigenes poetologisches Verfahren lesen, da es die Metamorphose von Anfang an als bewußt gesteuertes Manöver und als reizvolle Möglichkeit, die Welt zu erleben, beschreibt. „Ich will die Nacht um mich ziehn als ein warmes Tuch“, beginnt das Gedicht, wobei die Nacht nicht als Kuschelteppich wärmt, sondern „mit ihrem weißen Stern, mit ihrem grauen Fluch“ eine geheimnisvolle Mischung aus Hoffnung und Bedrohung darstellt. Das Risiko, das die Verwandlung birgt, wird nicht verschleiert: Diese grundsätzliche Form der Veränderung beinhaltet immer die Möglichkeit des Verlusts, der „graue Fluch“ der Nacht läßt die Geburt von Gespenstergestalten zu.
Gleichzeitig ist die Verwandlung ausschlaggebend für neues Wachstum. Diese Doppelköpfigkeit erscheint in Kolmars Gedicht von der ersten Zeile an durch die gleichmäßig dahinfließenden Paarreime als etwas Naturgegebenes; sie definiert sich als Kreislauf des Lebens und seelische Realität. Bereits in der ersten Zeile der zweiten Strophe zeigt sich das lyrische „Ich“ in neuer Gestalt: jener der Fledermaus – „Ich hing im Gebälke starr als eine Fledermaus, / Ich lasse mich fallen in Luft und fahre nun aus“. Es folgt die für Kolmar typische, aggressive Liebesbewegung: „Mann, ich träumte dein Blut, ich beiße dich wund“, die alles Kreatürliche und Vampiristische, das Liebe auch ausmacht, umfaßt. Auf Bilder der Nacht und der Liebe folgen Bilder, die man der Seedichtung zuordnen kann, ein Kind kommt des weiteren vor; es scheint geradezu, als unternähme Gertrud Kolmar eine tour de force durch die für ihre Lyrik charakteristischen Bildbereiche.
Wie der Raum der Nacht ist auch das Meer unerschöpflich und ein Jagdgrund; es herrschen dort sowohl Gewalt als auch Glück, da sind „zerknickte Masten“ und ein „Silberschatz“. Und es taucht eine „Kindergestalt“ auf, die nicht „behalten“ werden kann. Wenig weiß man über das Leben der 1894 in Berlin als Gertrud Käthe Chodziesner geborenen, 1943 in einem Vernichtungslager ermordeten Gertrud Kolmar; die Tatsache, daß sie ein Kind abtreiben mußte, gehört dazu. Das Kind erscheint häufig in ihren Gedichten, hier sieht man es mit einer „Limone“ in den Händen und einem „Licht“ an der Stirn als einen utopischen Körper in einer magischen Welt.
Nachdem das lyrische „Ich“ als Fledermaus, Liebende, Fischefängerin und Kindsverliererin aufgetreten ist, verkörpert es zuletzt eine Verführerin:
Ich locke mit roten Früchten, draus meine Lippen gemacht,
Und bin eine kleine Speise in einem Becher von Nacht.
Der Kreislauf von Werden und Vergehen ist wieder eingeläutet. Obwohl die Speise möglicherweise bald verschlungen wird, ist dies ein seltsam tröstliches Bild.
Gertrud Kolmar zeigt in diesem Gedicht, genau wie Canetti in seiner Rede Jahrzehnte später, wie durch und durch positiv sie den Begriff der „Verwandlung“ besetzt. Fatal ist es hingegen, wenn die Metamorphose ausbleibt. Als Gegenstück zu „Verwandlungen“ ließe sich beispielsweise das Gedicht „Arachne“ lesen: In diesem Text bleibt, anders als im Arachne-Mythos, wie Ovid ihn erzählt, die Verwandlung aus. Es kommt keine Göttin vor, die die Weberin durch die Verwandlung in ein Tier erlöst; dieses Ende ist ausweglos – keine „kleine Speise in einem Becher von Nacht“.
Silke Scheuermann, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2010
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