– Zu Helga M. Novaks Gedicht „dieser Wald“ aus Helga M. Novak: solange noch Liebesbriefe eintreffen. –
HELGA M. NOVAK
dieser Wald
dieser Wald Traum meiner Kinderjahre unentwegtes Gehen
Erfüllung und Erinnerung Wald so zerschossen und
gerupft dieser Wald und kein anderer meine
wiederkehrende Deckung zärtlicher Schutz erlösendes
Untertauchen laufend einhaltend schlafend und zerstochen
auffahre ich und weiter und rein immer tiefer
dieser Wald so laut und verschwiegen so wärmend
und kühl so belebte Stille ich schnüre und schleiche
und pirsche und trample in jeden ausgeleerten Bau
wie ein Stamm verharre ich in diesem Wald als hätten
viele ihre Enden an mir blank gefegt ziehe ich unverletzt
weiter schlurfe durch bronzenes Laub streife die
rotgoldenen Stämme reiße weiße Rinden ab sie mir
um die Waden zu wickeln wie Birkibeinar dieser Wald
und kein anderer reicht bis nach Sibirien die echte
Ostwesttangente grüne Brücke kahle Brücke weiche
mit Schwingen und Nadeln
mein Obdach und meine Verwilderung
dieser Wald setzt mich in Brand schon knistert
meine Haut ich laufe herum wie das Echo vom Feuerstoß
dieser Wald in dem ich nie alleine bin mit meiner
heilsamen Einsamkeit dieser Wald aus Jagen und Revieren
der sich hinzieht wie alte Liebe und streichelt
die gefurchte Stirn mein Heim und dauerndes Versteck
Vom literarischen Leben hat sich die Dichterin Helga M. Novak schon lange zurückgezogen. Lesungen, Interviews und Preisverleihungen gibt es nicht beziehungsweise finden ohne sie statt. Novak, die im Herbst 2010 75 Jahre alt geworden ist, lebt seit 1987 abgeschieden in Polen. Sie sitzt dort buchstäblich mitten im Wald; sie hat sich selbst ein Haus gebaut, in dem sie schreibt. Mit ihrem zuletzt veröffentlichten Gedichtband Silvatica hat sie diesem radikalen Leben ein Denkmal gesetzt – und sich ihren eigenen Mythos erschrieben, in dem die Natur, die Tiere, Wilderei und die Einsamkeit sowie Erinnerungen eine Rolle spielen. „Artemisleben“ heißt das letzte Kapitel dieses aufregenden Buches. Darin verwandelt sich das lyrische Ich zu Artemis, der Göttin der Jagd, die ihre eigenen Wälder, ihr Revier, durchstreift.
Das hier abgedruckte Gedicht ist ein Hohelied auf den Wald, in dem das lyrische Ich ein Zuhause gefunden hat. „Dieser Wald Traum meiner Kinderjahre“, heißt es da, und obwohl der Wald „zerschossen und / gerupft“ ist, also wie seine Bewohnerin Kriege und Leiden ausgehalten hat, so bietet er doch Deckung und Schutz, er ist Heim und „dauerndes Versteck“. Da diese Umgebung sich ständig verändert, wird der geschilderte Spaziergang zum abwechslungsreichen Spektakel: Man kann durch die Bäume schnüren oder schleichen oder pirschen; man kann verharren. Das ist einerseits Abenteuer und andererseits Notwendigkeit.
Der Wald bietet Schutz, das wird mehrfach gesagt. Dazu gehört auch, dass er Material zur Verfügung stellt:
reiße weiße Rinden ab sie mir
um die Waden zu wickeln wie Birkibeinar
Dies ist Geschichte, eingewandert ins Gedicht: Die „Birkebeiner“ waren norwegische Rebellen, die von ihren politischen Gegnern während des Bürgerkriegs so benannt wurden, da sie nach einer anfänglichen Niederlage in die Wälder flüchten mussten und bei der Kälte ihre Waden mit Birkenrinde umwickelten. In einem anderen Gedicht der Novak aus Silvatica, „gehen wir kirren“, steckt sich das lyrische Wir bei Kälte Dachsfellstücke in die Schuhe. Besucher von Helga M. Novak in Polen berichten, dies sei ein autobiographisches Detail. Erlebtes, Erdachtes und Erlesenes ist in die Gedichte geflossen, und so finden wir Leser uns vor Zuständen wieder, die über jedes Maß des Gewöhnlichen hinausgehen.
„Dieser Wald“ ist, wie so viele Naturgedichte der Novak, ein Liebesgedicht. Zwar kommt die Liebe hier ganz ohne menschliches Gegenüber aus, aber wie bei jeder großen Liebe gibt es auch hier „nur den einen“ – den einen Wald in diesem Fall, „und kein anderer reicht bis nach Sibirien“. Bewunderung, Dankbarkeit und Demut mischen sich in immer neuen Verhältnissen. „Dieser Wald setzt mich in Brand“, heißt es an einer Stelle, dann wieder „streichelt“ der Wald zärtlich „die gefurchte Stirn“. Liebe erscheint als natürliche Verfassung, die Natur als Spiegel, Kulisse, Maßstab. Und wie in jeder Liebesgeschichte gibt es auch hier Höhen und Tiefen: Die „grüne Brücke“ ist zugleich eine „kahle Brücke“, das „Obdach“ bedeutet auch „Verwilderung“, mit allen Gefahren, wie etwa der möglichen Entfremdung von der Menschenwelt. Doch dies erscheint zweitrangig, vor allem wird das Alleinsein genossen. Diese Einsamkeit ist die melancholische Befindlichkeit derjenigen, die viel erlebt haben – sie ist erhaben und stolz. Es ist eine „heilsame Einsamkeit“, und das Sich-Hinziehen des Waldes wird gegen Ende des Gedichts verglichen mit einer „alten Liebe“. Wieder ist dies der Hinweis auf alles, was das lyrische Ich erfahren musste, um zu Artemis werden zu können: Artemis hat menschliche Liebe erlebt, aber dieser Abschnitt ihres Lebens ist vorbei. Nun lebt sie zwar weiterhin in Liebe, doch es ist eben eine ganz andere Ausdrucksform, die das Gefühl sich geschaffen hat. So schön und so stolz und so wenig wehleidig hat kaum eine Verlassene gelebt.
Während die große Liebesdichterin Ingeborg Bachmann ihre Utopien folgerichtig in Scheitern und Nihilismus enden lässt, wenn sie die mythische Rede nutzt, so wird hier eine neue Lebensart beschrieben und gefeiert: Hier ist Mythos nicht der urtümliche „Schrecken an sich“, wie Hans Blumenberg es begrifflich fasste, sondern er stellt das erste Mittel dagegen dar. Handeln, Kämpfen, ja auch Rache stehen Gefühlen von Wut und Ohnmacht gegenüber. Man erinnere sich: Als Artemis’ Lebensgefährtin, die Nymphe Kallisto, von Zeus beschlafen worden war, verwandelte Artemis sie aus Wut in einen Bären. Ingeborg Bachmanns zweiter und bereits letzter Gedichtband hieß Anrufung des großen Bären. Auf der einen Seite des Lyrikolymps steht die Sängerin Bachmann, auf der anderen die Verwandlerin Novak; die Lyrikgötter können sich glücklich schätzen.
Silke Scheuermann, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierunddreißigster Band, Insel Verlag, 2011
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