– Zu Nelly Sachs’ Gedicht „Einer wird den Ball“ aus Nelly Sachs: Gedichte. –
NELLY SACHS
Einer wird den Ball
Einer
wird den Ball
aus der Hand der furchtbar
Spielenden nehmen.
Sterne
haben ihr eigenes Feuergesetz
und ihre Fruchtbarkeit
ist das Licht
und Schnitter und Ernteleute
sind nicht von hier.
Weit draußen
sind ihre Speicher gelagert
auch Stroh
hat einen Augenblick Leuchtkraft
bemalt Einsamkeit.
Einer wird kommen
und ihnen das Grün der Frühlingsknospe
an den Gebetmantel nähen
und als Zeichen gesetzt
an die Stirn des Jahrhunderts
die Seidenlocke des Kindes.
Hier ist
Amen zu sagen
diese Krönung der Worte die
ins Verborgene zieht
und
Frieden
du großes Augenlid
das alle Unruhe verschließt
mit deinem himmlischen Wimpernkranz
Du leiseste aller Geburten.
Von Beginn an klingt das Gedicht wie eine religiöse Verkündung. Einer wird kommen, steht da, ein Messias, ein Retter. Er „wird den Ball / aus der Hand der furchtbar / Spielenden nehmen“. Durch das Adverb „furchtbar“ wird die Verantwortungslosigkeit der Spielenden kritisiert, auf die Gefahr ihres Tuns hingewiesen. Dem „furchtbaren“ Spiel entgegen steht der Begriff der „Fruchtbarkeit“, auf den, in der Assonanz in der vierten Strophe, das Substantiv „Frühlingsknospe“ folgt, bis dann zuletzt das Wort „Frieden“ ausgesprochen werden kann: Beispielhaft – und in einer sehr eigenen, rhythmisch schönen Sprechbewegung – beschreibt das Gedicht eine Bewegung zum Guten hin.
Wie zahlreiche Gedichte der 1891 geborenen Jüdin Nelly Sachs lebt auch das hier vorgestellte von Bildern, die der Gläubigkeit der Verfasserin geschuldet sind. In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als sie im schwedischen Exil lebte und den Tod der Mutter ebenso zu verkraften hatte wie das unbegreifliche Grauen des Völkermords an den europäischen Juden, las sie jüdische Religionsphilosophen, etwa Martin Buber, und verarbeitete die dort gefundenen Wahrheiten schreibend, durch die Umsetzung in Lyrik.
Dieses Gedicht ist inspiriert von einem Leitgedanken der jüdischen Mystik, nach dem das Aussprechen eines Wortes gleichzusetzen sei mit dem Entwurf einer Wirklichkeit. Der gelebte Alltag stellt für die Menschen – genau wie die ihnen anvertraute Natur – ein dauerndes Risiko dar; unser Spiel ist nicht schön, es ist „furchtbar“. Dagegen gilt es den Zustand des „Friedens“ als utopische Möglichkeit zu erreichen. Aus diesem Grund appelliert die rätselhafte Seher-Stimme des Gedichts – nachdem sie an das „Feuergesetz“ der Sterne „weit draußen“ erinnert – an die Menschen:
Hier ist
Amen zu sagen.
Nur dann, wenn Versöhnung und Einverständnis als sprachschöpferischer Akt gewährleistet sind, kann sich das „Augenlid“ verschließen, die „Unruhe“ aufhören – eine paradiesische, geradezu jenseitige Vorstellung. Eine „Neugeburt“. Dass es kein lyrisches „Ich“ gibt in diesem Text und dass „Einer“ von einer Seher-Stimme angerufen und angekündigt wird, ist unabdingbar. Das Gedicht als solches schafft so den Raum für die Begegnung mit dem abwesenden Gott. In Nelly Sachs’ Strophen voller großer Worte und Setzungen entsteht ein emotionaler Kosmos, auf den man sich lesend einlassen muss. Die Sprache ist maßlos, weil das Leiden maßlos ist: Aus diesem Verständnis heraus lebte Sachs seit den vierziger Jahren zurückgezogen, um in innerer wie äußerer Emigration ihre Verse zu schreiben, in denen Begriffe wie Erde, Sterne, Staub immer wieder vorkommen und ihren ganz eigenen symbolischen Wert haben. Sie stehen als Ganzes für das Ganze und setzen somit die üblichen Regelwerke metaphorischer lyrischer Rede außer Kraft.
Das birgt seine eigene Problematik. Hans Magnus Enzensberger – der früh und entschieden für das Werk der von ihm bewunderten Kollegin eintrat – schrieb bereits vor einem halben Jahrhundert, den Sachs-Texten würden seines Erachtens „altertümliche“ Attribute anhaften. Und auch wenn er diese positiv als „Größe“ und „Geheimnis“ bezeichnete, so benannte Enzensberger damit doch auch eine gewisse Scheu, die sich beim Leser der Gedichte von Nelly Sachs leicht einstellt. Wenn man sich also fragt, ob Sachs-Gedichte denn heute noch „zeitgemäß“ sind, wird man rasch mit der Tatsache konfrontiert, dass sie eigentlich niemals so empfunden wurden. Sie waren immer ein wenig fremd, ein wenig groß. Wie könnte die Begegnung mit Gott auch anders sein?
Zum „Unzeitgemäßen“ gehört paradoxerweise auch, dass es ebenso Themen behandelt, von denen Nelly Sachs, die spätere Nobelpreisträgerin, nichts geahnt haben kann, als sie den Zyklus „Flucht und Verwandlung“, zu dem „Einer wird den Ball…“ gehört, Mitte der fünfziger Jahre in ihrem schwedischen Exil schrieb. Heute wird, wer den Text liest, wohl nicht umhinkommen, darin auch ein Warngedicht zu sehen: In einer Zeit, in der die Spiele mit dem „Ball“, mit dem blauen Planeten, immer undurchsichtiger, raffinierter und riskanter werden, in einer Zeit nach Tschernobyl und Fukushima, hat die Setzung des ersten Bildes eine ungeheuere Brisanz.
Es ist verstörend und passt ein wenig auch in den Kosmos der Nelly Sachs, dass sie nun, in diesem Fall, ganz und gar zeitgemäß erscheint mit ihrer Dichtung. Weil sie ein Universum herbeiruft, das trotz allen Schreckens immer bereit zu sein scheint, sich doch für Frieden zu entscheiden, die „leiseste aller Geburten“.
Silke Scheuermann, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsunddreißigster Band, Insel Verlag, 2013
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