– Zu Silke Scheuermanns Gedicht „Alices Verzückung“ aus Silke Scheuermann: Der zärtlichste Punkt im All. –
SILKE SCHEUERMANN
Alices Verzückung
Es ist nur leichter Irrsinn
wie wenn das Weiße in der Pupille
über Schnee verreist
während der Körper
aufsteigt immer weiter eine
formlose Masse Helium
in einem Eimer blauer Luft
Zwei Züge nur und –
Als bliebe ihr nichts anderes übrig
muß sie fliegen alle Reaktionen
sind reine Reflexe folgen
einer Achse nach oben Jedem Glauben
fehlt plötzlich die Kuppel
ihr wird ein höheres
ein unschlagbares Angebot gemacht
Sie greift einer Seherin gleich
in die Dunkelheit Rosengekreisch,
die Differenz zwischen ihr
und Natur beträgt Null
mehr als je erwartet darf sie heute
aus diesem Abend tragen darf
ihren gesamten eigenen
Atem besitzen
Er reicht auch noch für
diese Ausrede die
ihr später ein Mitschüler gibt
Er habe sich kiffend
auf seiner ersten Party
ebenfalls außergewöhnlich eins
mit der Erde gefühlt
ein einziges Mal
durch einen von Engeln geschossenen
Pfeil sei ihm die Seele an
Samt unsichtbar festgezurrt worden
„Die Verzückung der heiligen Theresa“ in der römischen Kirche „Santa Maria della Vittoria“ zeigt zwei Figuren, Theresa und einen Engel, wobei letzterer gerade im Begriff ist, Theresa mit einem goldenen Pfeil auf das Herz zu zielen. Theresa erwartet das Eindringen der Waffe hingebungsvoll, ihre Hände baumeln entspannt an ihrem Körper herab, sie hat den Kopf nach hinten gekippt und zeigt ein glattes, wie zum Kuß dargebotenes Gesicht mit verdrehten Augen. Ein Bündel goldfarbener Strahlen von oben erweckt dabei den Eindruck, das Geschehen stehe in direkter Verbindung mit dem Himmel, werde von ihm gelenkt.
Die Szene bezieht sich auf eine Tagebuchstelle: Die Ordensfrau Theresa berichtet im 29. Kapitel ihres „Libro de sua vida“, ihrer Lebensbeschreibung, sie habe deutlich Gott gesehen, wie er Pfeile abschoß und sie damit verwundete. Sie notiert, daß ihr im Schlaf in einer Vision ein sehr schöner Engel mit leuchtendem Antlitz erschienen sei und ihr einen glühenden Pfeil mit goldener Spitze ins Herz gebohrt habe, so daß sie vor Schmerz stöhnte, doch zugleich in aller Seligkeit das Ähnlichwerden mit dem Leiden ihres Erlösers, ihres Seelenbräutigams Jesus Christus empfinden durfte. In ihrem entbehrungsreichen Leben stellte dieses Erlebnis die Möglichkeit einer substanziell gar nicht existierenden Vervollkommnung dar.
Das Körperliche – die beiden Menschenkörper und der Pfeil – gibt die Handhabe ab, mit der man das Geistige fassen kann.
Im Fall erotisch-religiöser Kunstwerke beeilen sich die Kommentatoren, zu warnen, man müsse die extremen und expliziten erotischen Motive allegorisch beziehungsweise als Metapher lesen: Eigentlich stelle, was wie die Beschreibung einer rein menschlichen sexuellen Begegnung aussehe, die symbolische Kommunikation Gottes mit den Gläubigen dar. Hier macht Bernini die Grenzen der katholischen metaphorischen Lesart deutlich, indem er es bevorzugt, die inhärente spirituelle Dimension des sexuellen Aktes zu zeigen: Theresa ist in obszöner Ausgeliefertheit an die Ekstase dargestellt. Laster und Tugend sind dem Künstler Kunstmaterial, hat Oscar Wilde einmal geschrieben, auch schon die Zeitgenossen Berninis haben sich über die unruhige Verschmelzung der beiden Kategorien empört.
Beim Betrachten einer Postkarte, im Handgepäck aus Rom nach Frankfurt transportiert, begann die Verwandlung des Materials in ein Bildgedicht. Unterschwellig wirkt eine Struktur des Glaubens auch noch in unserer Kultur heute, die wir eine säkulare nennen. Wir glauben heimlich und geben es ungern zu. Aber woran glauben wir? Vorsichtshalber wechseln wir ab. An den Psychotherapeuten, den Dalai Lama, die Familie, an die partnerschaftliche Liebe, die Liebe zu Kindern, die Liebe zu Blumen, ja, an die Liebe überhaupt.
Man kann sich Theresas Verzückung auch als die Initiation in einen Zustand des Mangels vorstellen, in dem sie nach der Vision zurückgelassen wird, ratlos und verloren, wieder im amorphen Zustand des Lebens, das jetzt zusätzlich das Stigma des außerordentlichen Erlebnisses trägt.
Die Re-Inszenierung der Verzückung einer jungen Frau heute könnte so aussehen: Auf einer Party raucht Alice zum ersten Mal Haschisch, woraufhin ihr ein Mitschüler unglaublich anziehend erscheint und sie sich küssen. Am nächsten Morgen vertraut sie ihrem Tagebuch an: Sie sei sich sicher, sich verliebt zu haben, und empfinde eine große Seelenähnlichkeit.
Es ist eine Geschichte, die in ihrer Normalität moderne Paradiesbilder integriert, weil Alice nun über einen abgegrenzten, eingezäunten Garten in ihrem Kopf verfügt, durch den sie, wann immer sie will, spazierengehen kann. Weil sie über ein Geheimnis verfügt.
Wie Theresa könnte Alice nach diesem religiös verklärten Liebeserlebnis jetzt einen Mangel empfinden. Sie wird sich nun wieder in das Ganze, das Unklare und Ungestalte ihres Alltagslebens werfen, um etwas zu finden, das diesem Bewußtseinszustand gleichkommt, diesem Erlebnis, im Amorphen aufzugehen, obwohl es nicht wirklich der Fall ist, diesem Gefühl, ein unsterblicher Teil davon zu sein. Sie hofft und wartet auf Liebe. Ein großer Teil der Menscheit hat sich dieser Suche nach Ekstase verschrieben.
Alice’ Name weist auf die Tradition hin, in der sie steht. Eine Tradition von Figuren, die perfekte, spirituelle Reisende abgeben, weil sie unschuldig sind und die Fähigkeit zu staunen ihr hervorstechendster Charakterzug ist. Schließlich ist Alice vor Jahrhunderten aus dem Wunderland zurückgekommen und immer noch gesund wie ein Ochse.
Aus Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen, DuMont, 2005
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