Silke Scheuermann: Zu Thomas Braschs Gedicht „WER DURCH MEIN LEBEN WILL, MUSS DURCH MEIN ZIMMER“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Thomas Braschs Gedicht „WER DURCH MEIN LEBEN WILL, MUSS DURCH MEIN ZIMMER“ aus Thomas Brasch: Wer durch mein Leben will, muss durch mein Zimmer. 

 

 

 

 

THOMAS BRASCH

WER DURCH MEIN LEBEN WILL, MUSS DURCH MEIN ZIMMER

WER DURCH MEIN LEBEN WILL,
aaaMUSS DURCH MEIN ZIMMER
willst du verhaftet sein: jetzt oder immer

Wer in mein Leben will, geht in mein Zimmer
wer mit mir leben will
muß in mein Zimmer
könnt ich woanders hin
leben für immer,

würde ich nie wo anders sein,
lebt ich in jeder Kammer.

 

Sich eine dünne Haut zulegen

Was formuliert dieser Satz „Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer“ – eine Drohung, eine Feststellung, ein Versprechen? Die Anweisung „Geh in dein Zimmer“ erhält der ungehorsame Nachwuchs, wenn er die vermeintlich wichtigen Gespräche der Erwachsenen stört. „Ich bleibe in meinem Zimmer“, sagen Kinder gerne, wenn sie schmollen und die Eltern mit ihrer Abwesenheit bestrafen möchten. Dass ein Zimmer unordentlich sei und aufgeräumt werden müsse, dies ist noch so eine gerne verwendete Redewendung. Zimmer – ist das also ein trauriges, kleines Wort, verbunden mit der Kindheit und ihren Reglementierungen?
Nicht nur, denn das Zimmer ist auch Refugium. Es verspricht Privatsphäre und Entspannung; Künstler finden dort im besten Fall zu sich, zu ihrer Kreativität: Für sie ist das Zimmer auch die Werkstatt der Ideen. Virginia Woolf forderte bereits 1929 in ihrem gleichnamigen Essay „Ein Zimmer für sich allein“, welches der schreibenden Frau zugestanden werden müsse. Wer, wie Thomas Brasch, in der DDR aufgewachsen ist, für den hatte auch noch über ein halbes Jahrhundert später die Forderung nach Privatheit politische Brisanz. Das Wort „verhaftet“ gleich in der zweiten Zeile des Gedichtes erinnert daran: „willst du verhaftet sein: jetzt oder immer“. Gleichzeitig wird hier die „Verhaftung“ zu einem privaten, einem Liebesakt gemacht.
Es ist ein Kennzeichen von Braschs Liebeslyrik, dass sie nicht in Metaphern schwelgt – die Bilder sind funktional, eher Bauhaus als Barock –, dass sie sachlich ist und mit einfachem Vokabular auskommt. Sie zielt auf Grundsätzliches; oft sind es Alltagsszenen, Momentaufnahmen, Selbstvergewisserungen, -anklagen oder -gespräche. Gemeinsam ist ihnen, dass es um Menschen im Gespräch mit sich oder miteinander geht, das lyrische „Ich“ verhandelt mit einem „Du“; niemals werden unbelebte Landschaften, Stillleben, Stimmungen für sich genommen Thema eines Gedichts. Hier ist Brasch, der 1945 in England als Sohn jüdischer Emigranten geboren wurde und zusammen mit seiner Familie bereits ein Jahr später in die sowjetische Besatzungszone übersiedelte, seiner Herkunft verpflichtet. In der DDR vom Journalistik-Studium exmatrikuliert, als Autor verboten und zeitweise verhaftet, floh Brasch 1976 mit seiner Lebensgefährtin, der Schauspielerin Katharina Thalbach, in den Westen und gelangte dort rasch zu großer Bekanntheit. Zu Recht wehrte er sich gegen die Rolle des ewigen Dissidenten oder DDR-Autors, in die seine aktuellen Texte und Stücke ihn unterdessen trotz allen Protestes immer wieder brachten.
Dass der streitbare Dramatiker, Prosaist und Filmemacher heute neu bewertet und als Lyriker von Rang entdeckt werden muss, zeigen Texte wie dieser. Lediglich neun Zeilen ist „Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer“ lang, gegliedert in drei Strophen; und doch begegnen dem Leser Verse von großer Nachdrücklichkeit. Es werden Nuancen des An-sich-Heranlassens beschrieben: „Wer in mein Leben will, geht in mein Zimmer“ – das ist das eine. Wer aber „mit mir leben will“, und hier wird die Forderung offensichtlich, der „muß“ ins Zimmer, muss sämtliche Ansammlungen, Ablagerungen des Menschlichen, die so ein Zimmer schlimmstenfalls bergen kann, in Kauf nehmen. Er muss die Schattenseiten, die Geheimnisse respektieren und mit ihnen auskommen lernen. Ob sich die Person nun als zwanghaft chaotisch, als Sammlertyp oder als pedantischer Ordnungsfanatiker erweist: Wer ins Zimmer eingedrungen ist, dem wird Weggesperrtes, Intimes sichtbar. Eine angemessene Reaktion wäre wünschenswert, könnte man vermuten. Schon, weil die Tatsache des Zimmers nicht verhandelbar ist; die Alternative wird ausgeschlossen: Das „Ich“, könnte es woanders hin, möchte da nicht sein, es möchte vielmehr sich selbst „in jede Kammer“ bringen, so dass, wenn das „Du“ dort Zugang haben will, das gleiche Spiel von vorne beginnt. Er verspüre den Wunsch, die eigene Haut so dünn werden zu lassen, dass er die gesellschaftlichen Luft- und Erdbewegungen noch deutlicher wahrnehme, um sie auszudrücken, vielleicht sogar voraussagen zu können, sagte Thomas Brasch 1993 in einem Interview. Klar, dass, wer so verletzlich ist, die verstärkenden Wände des eigenen Zimmers braucht und es Hereinkommenden auch nicht zu leicht machen will. Nach 1990 und der deutschen Wiedervereinigung war es stiller geworden um Thomas Brasch, sein Lebensthema der Reibung von Politik, Gesellschaft und Individuum schien erschöpft – dass sich nach Braschs Tod 2001 Hunderte von unveröffentlichten Gedichten und Gedichtfragmenten im Nachlass fanden, ist das Glück der Leser.

Silke Scheuermannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsunddreißigster Band, Insel Verlag, 2013

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